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db deutsche bauzeitung 2022|04
Recycelt
db deutsche bauzeitung 2022|04

Radikal unbefangen

Kulturgebäude »Buitenplaats Brienenoord« in Rotterdam (NL)

Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut.

26. April 2022 - Olaf Winkler
Der neue Kulturbau auf einer Flussinsel in Rotterdam wirkt, als habe er immer dort gestanden: Zwei Drittel der Bauteile stammen vom Vorgängerbau, das meiste ‧Übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial. Unter Leitung von Superuse Studios entstand ein unkonventionelles Gemeinschaftsprojekt, von Freiwilligen erbaut. Zwei Drittel der Bauteile des neuen Kulturbaus in Rotterdam stammen vom Vorgängergebäude, das meiste übrige ist ebenfalls Recyclingmaterial.

Superuse Studios

Manche Bauten lassen sich über die Form beschreiben, andere nur über den Prozess. Für das neue Kulturhaus auf der vergessen wirkenden Van-Brienenoord-Insel in der Nieuwe Maas in Rotterdam gilt Letzteres, im mehrfachen Sinne. Die Gestalt des Gebäudes ist Resultat seiner Entstehung, historisch, planerisch – wenn dieser Begriff es ausreichend fasst –, und der konkreten Errichtung. All dies verbindet sich zu einem Recyclingprojekt ersten Ranges. Gleichzeitig ist Buitenplaats Brienenoord mehr als alles andere ein sozialer Ort und als solcher in die Welt getreten.

Die Insel rundum, im 19. Jahrhunderts durch Versandung gebildet, wurde im Krieg von den deutschen Besatzern gerodet, nach 1945 für Ölbohrungen ‧genutzt. Volksgärten entstanden, später diente die Insel zum Bau von Tunnelelementen für die Metro. V. a. aber war bereits 1931 ein Jugend-Clubhaus errichtet worden, das zuvor schon Jahrzehnte im Hafen als Militärbaracke gedient ‧hatte. Von 60 Jugendlichen ab- und hier wiederaufgebaut, erhielt der einfache Stahlbau damals ein zweites Leben. An diesen frühen Recycling-‧Vorläufer knüpfte das jüngste Projekt an. Nachdem ein Künstlerkollektiv 2014 den Bau eine Woche lang für Kulturveranstaltungen rund um urbane Zukunftsideen genutzt hatte, bot die Stadt den zugehörigen Grund mittig auf der Insel zur Pacht an. Verbunden damit waren eine Abrissgenehmigung und das Recht zum Neubau. Ein Kontakt zu Superuse Studios, Experten für zirkuläres Bauen, erweiterte indes das Nachdenken: Abgerückt wurde nicht vom Abriss der baufälligen Architektur, wohl aber von der Betrachtung ihrer Bestandteile als wertlos. Ausschlaggebend waren, so die Beteiligten, »verschiedene Aspekte – Nachhaltigkeit, Budget, Nostalgie und Logistik«, etwa weil die Brücke zur Insel nur 15 t trägt und Anlieferungen einschränkt.

Gemeinsame Bauabende

Die weiteren Schritte folgten in radikaler Unbefangenheit: Nach einer Inventarisierung erstellte Superuse einen maßstäblichen Baukasten aller Teile des Bestands, das Bauherrenteam – heute als Stiftung formiert – lud Mitglieder kultureller Gruppen ein, die künftig als Nutzer beteiligt sein könnten; in gemeinsamen Bauabenden wurden Modelle gebastelt, Ideen ausgetauscht. Wichtige Wünsche traten hervor: die Teilung des neuen Gebäudes in einen (ungeheizten) Ateliertrakt und den öffentlicheren Hauptflügel, getrennt durch einen Richtung Ufer verlaufenden Pfad; eine enge Verbindung zwischen innen und außen; ein vielfach nutzbarer Hauptraum, der heute mit einer kleinen mobilen Tribüne ebenso für Veranstaltungen dient wie als Café. Ein innerer Balkon über einem Büroraum erlaubt weitere Sitzplätze. Und schon auf damaligen Fotos sind ungewöhnliche Geometrien zu erkennen, die an die spätere Realisierung erinnern.

Dennoch darf man sich das Haus nicht als 1:1-Ergebnis dieser Abende vorstellen, wie Floris Schiferli, Partner bei Superuse, erläutert. Es war an ihm und seinem Team, die freien Erkundungen in Architektur zu überführen. Und dem Gegebenen weiter anzupassen: Der unregelmäßige Grundriss entspricht nun einem an den Enden abgefeilten Rechteck, das großteils den bewahrten Streifenfundamenten folgt. Zeltartig steigt darüber das Gebäude bis zur Höhe von knapp 8 m auf. Bei kleinerer Grundfläche gleicht das Volumen in etwa dem des Altbaus, gewinnt aber eine Luftigkeit, die dem einst länglich-modularen Vorgänger fehlte. Gelungen ist dies durch die ungewöhnliche Verwendung – gedreht, aufsteigend, aufgedoppelt – der alten Stahlfachwerkträger. Einzelne Träger wurden miteinander verbunden, mit Stahl oder Holz verstärkt. »Auch wenn klar war, dass die Konstruktion ausreichend tragfähig ist, ließ sich die Statik auf klassische Weise kaum berechnen«, erzählt Schiferli. »Für die Baugenehmigung war mindestens so ausschlaggebend, dass mit IMd ein bekanntes und vertrauenswürdiges Rotterdamer Ingenieurbüro an Bord war.«

Dynamische Prozesse

Die Haltung der Architekten prägt zudem, dass sie mit einem »dynamisch-definitiven Entwurf« hantierten. Fehlende Materialien wurden möglichst umsichtig ergänzt, was wiederum zu Änderungen in der Planung führen kann. Bereits ab 2004 entwickelte das Büro (damals noch unter dem Namen 2012 Architecten) schrittweise die Online-Plattform Oogstkaart für Urban Mining; auch nach deren Verkauf vor zwei Jahren wurden Kenntnisse und Netzwerke weiter ausgebaut. Auf Brienenoord stammen rund 65 % der Materialien – neben Trägern und Fundamenten auch Backsteine, Fensterrahmen, Balken, Bretter, Türen – vom Vorgänger; lediglich 5 % sind Neumaterial. Das verbleibende Drittel kommt von anderen Abriss- oder Umbauprojekten, z. T. im Stadtgebiet. Dass das Augenmerk auf kurze Wege gelegt wurde, trug zur Kreativität in der Anwendung bei. So ergab sich via Oogstkaart der Kontakt zu einer 3 km entfernten Klinik, aus der Radiatoren, Schränke und ein WC übernommen werden konnten sowie Steinwolle-Deckenplatten, nun in fünf Lagen als Bodendämmung verwendet. Transparente Polycarbonat-Stegplatten aus Gewächshäusern bei Delft halfen bei Teilen der Fassade, als sich Glas als zu schwer und ‧teuer erwies. Den Rest der Hülle bilden 10 und 14 cm dicke PIR-Sandwichplatten, teils recycelt, teils aus Produktionsüberschüssen. Als sich über einen befreundeten Bauunternehmer das Schaufenster einer nahen Snackbar organisieren ließ, wurde der Nordgiebel kurzerhand umgeplant. Die Rahmen im ‧Süden hingegen gehörten zum »Startkapital« aus dem Altbau, erhielten aber eine neue Doppelverglasung. Die ornamentierten Brüstungen schließlich entpuppen sich als ausgestanzte Stahlplatten, Abfallmaterial aus dem Maschinenbau.

Kollektives Bauen

Für Superuse bedeutet recyclingorientiertes Bauen, auch unübliche Verwendungen zuzulassen und »minderwertige« Stoffe zu integrieren. Buitenplaats Brienenoord ist zudem von einer deutlichen Do-it-yourself-Ästhetik geprägt. Sie schließt ein, dass das Gebäude etwa hinsichtlich der Klimatechnik gerade nicht besonders anspruchsvoll ist. Radiatoren und Fußbodenheizung werden zumindest vorerst über Gastanks des Altbaus betrieben. Ungeheizte Nebenräume funktionieren als Klimapuffer. Darüber hinaus setzt das Haus auf die Toleranz der Nutzer, wenn die Temperatur im Sommer doch deutlich ansteigt. Eine Begrünung des Daches ist vorbereitet, aber noch nicht umgesetzt.
All das hat mit dem Budget zu tun, v. a. aber mit einem weiteren Charakterzug: Tatsächlich wurde das Haus zu großen Teilen von Freiwilligen errichtet. Experten kamen punktuell hinzu; so wurden beispielsweise der Altbau zusammen mit einer Abrissfirma demontiert, die Träger mit entsprechendem Gerät positioniert. Das eigentliche Bauteam vereinte u. a. Flüchtlinge, Menschen mit Burn-out und Langzeitarbeitslose. Nach absolviertem Sicherheitstraining lernten sie auch voneinander, einschließlich unkonventioneller Lösungen, die, wie Schiferli lächelnd erzählt, nicht immer den Detailzeichnungen entsprachen. Manches wirkt mehr als rau; wichtiger aber: Ein paar der Freiwilligen sind bis heute im Team, andere fanden im Anschluss andernorts Arbeit.

Auch deshalb stutzt Schiferli, wenn man ihn als Architekten bezeichnet. »Von der Ausbildung her – ja. Aber unsere Tätigkeiten reichen längst weit über das Berufsfeld hinaus.« So ging es auf Brienenoord viel weniger um Autorenschaft als um die Begleitung sozialer Prozesse. Das Gebäude selbst hat zunächst temporären Status, weil damit Anforderungen etwa an die Bodensanierung entfielen; Genehmigung und Pacht müssen nach zehn Jahren verlängert werden. Der Insel jedenfalls steht das Projekt gut, zumal sie sich selbst im Wandel befindet. Derzeit werden die Ufer renaturiert und ein Gezeitenpark angelegt. Das kleine, umsichtige Bauwerk fügt sich in diese Haltung ein.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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