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Wohnungsbau mit Mehrwert

Wohnungsbauensemble in Wolfsburg-Detmerode

Leihautos, Cluster-Wohnungen, soziale Angebote, Nachbarschaftshilfe, Gemeinschaftsbereiche und ein Gästeapartment: In Wolfsburg zeigen BAYER & STROBEL ARCHITEKTEN beispielhaft, wie modernes, städtisches Wohnen in Großform funktionieren kann.

22. März 2023 - Hartmut Möller
Wolfsburgs südwestlich gelegener Stadtteil Detmerode entstand in den frühen 60er Jahren am Reißbrett. Das rasante wirtschaftliche Wachstum des nahe gelegenen Volkswagenwerks verlangte, der sich daraus ergebenden sprunghaften Bevölkerungszunahme gerecht zu werden. Gut 15 000 Menschen lebten hier zu Hochzeiten v. a. in Hochhaussiedlungen, aber auch in Zeilenbauten, Reihenhäusern und Bungalows. Architektonische Highlights sind Alvar Aaltos Stephanuskirche sowie Hans Scharouns Kindergarten Stephanus I. Obendrein bietet der Ort dank angrenzender großer Waldgebiete, Trimm-dich-Pfaden und Teich die perfekte Naherholung.

Noch bis vor Kurzem fiel der Blick von der Autobahn kommend hinter einer Kleeblattkreuzung unweigerlich auf Paul Baumgartens kolossales Stufenhochhaus (1965-67). Ausgeführt in Thermocrete-Beton (unbewehrter Leichtbeton), musste das ikonische Bauwerk jedoch wegen nicht behebbarer Baumängel 2018 abgerissen werden.

Für die Eigentümerin, die NEULAND Wohnungsgesellschaft mbH, bedeutete dies eine enorme Herausforderung, da das beliebte Wohngebäude mit 172 Wohneinheiten voll vermietet war. Mit rund 12 000 Mietwohnungen hält das städtische Unternehmen für sogenannte Umsetzer praktischerweise jedoch stets einen strategischen Leerstand bereit. Ein eigens vor Ort eingerichtetes Büro bot den Mietern einen Rundumservice, sodass sie in einem über zwei Jahre währenden Prozess im Bestand des Unternehmens untergebracht werden konnten. Den zweistufigen Wettbewerb für die Neubebauung entschieden BAYER & STROBEL ARCHITEKTEN aus Kaiserslautern nach einer Überarbeitungsphase für sich.

Prägnante Fernwirkung

Die für Detmerode typischen Zeilenbauten bilden die Grundlage der neuen Struktur aus drei winkelförmigen Baukörpern, deren Außenecken von Hochpunkten betont werden. Durch deren Anordnung ergeben sich drei Wohnhöfe, ausgestattet mit abwechslungsreichen Spielplätzen, die von überall gut einsehbar sind und soziale Kontrolle ermöglichen. Durch großzügige, zwei Etagen hohe Hausdurchgänge hindurch, jeweils im Winkel zwischen viergeschossigem Riegel und Hochpunkt gelegen, schlängelt sich ein als »Loop« bezeichneter Fußweg und dient dem Wohnbauensemble als Klammer.

Das Wohnangebot von Ein- bis Fünfzimmerwohnungen, passt wunderbar zur heterogenen Umgebung. Es reicht vom »Durchwohnen« in den Kopfbauten über nach Süden orientierte Wohnungen in den Riegeln – deren kleinere Wohneinheiten bzw. Maisonetten mit Garten im EG werden über zu den Wohnhöfen hin orientierten Laubengänge erschlossen – bis hin zu übereckbelichteten Wohnungen in den Hochhäusern.

Die drei Punkthochhäuser mit 14, 11 und 7 Geschossen liegen in der Flucht des ehemaligen Stufenhochhauses und zeichnen durch die abnehmende Gebäudehöhe ihrer Kubatur dessen Silhouette nach. Wobei genau genommen das kleinste von ihnen kein Hochhaus ist – es kann von außen angeleitert werden und hat einen vorgesetzten Fluchtweg. Ein achtes Geschoss hätte zwar der akkuraten Nachzeichnung der vormaligen Profillinie Rechnung getragen, wurde jedoch aus wirtschaftlichen Gründen nicht realisiert. Zufahrten an den jeweiligen nördlichen Kopfseiten der Häuser führen über eine flachstufige Treppe nebst Schieberampe in den Fahrradkeller. Die Gestaltung der über zwei Stockwerke reichenden Entrees jeweils vis-à-vis des Riegeldurchbruchs fällt schon von Weitem ins Auge und lässt sich getrost als nobel bezeichnen. Eltern mit Nachwuchs wissen zudem sicher den Abstellraum für Kinderwagen im opulenten Eingangsbereich zu schätzen.

Um jeweils einen Erschließungskern gruppieren sich die Wohnungen. Neben Treppe und Fahrstuhl befindet sich auch das in F90 ausgeführte Nottreppenhaus im Erschließungskern. Dessen Entrauchung erfolgt über einen auf jeder Etage eingerückten Balkon. Nach Ausschalung der Decken und Treppen zeigte sich eine hohe Qualität im Sichtbeton, sodass man sich in den öffentlichen Bereichen dafür entschied, diese Flächen unverspachtelt und offen sichtbar zu belassen. Die Architekten schwärmen in diesem Zusammenhang vollkommen zu Recht von einem »veredelten Rohbau«.

Zeitgemäße Wohnformen

Alle 218 Einheiten sind in ihrer Ausstattung gleich beschaffen. So ließen sich die 66 öffentlich geförderten Wohnungen frei auf das Objekt verteilen. In den Wohnungen sorgt eine Fußbodenheizung unter einem Vinylbelag für ein angenehmes Raumklima, Lüftungsöffnungen in Fensterrahmen und Laibungen garantieren einen kontinuierlichen Luftaustausch. Die luxuriös anmutenden En-Suite-Bäder in den größeren Wohnungen sind äußerst beliebt.

Als größte Wohnungsanbieterin Wolfsburgs nimmt die NEULAND Wohnungsgesellschaft auch eine gewisse gesellschaftliche Verantwortung wahr, sodass sie das Thema »Wohnformen« fortwährend auszuloten und zu optimieren versucht: Beim Projekt in Detmerode z. B. waren Wunschwohnungen mittels interaktiver 3D-Modelle vorab virtuell begehbar, Filter zur Größe oder Zimmeranzahl halfen bei der Auswahl, Mustermöblierungen erleichterten die Vorstellungskraft von Raumwirkung und die Kontaktaufnahme zur persönlichen Besichtigung oder Bewerbung konnte online erfolgen.

Die voll möblierte Dreizimmer-Gästewohnung in der Anlage bietet bis zu vier Personen Platz, z. B. um Besuch unterzubringen, und ist auch von externen Gästen reservierbar. Zudem lässt sich ein Multifunktionsraum samt Küche, WC und Seminarequipment für Feiern, Meetings oder sonstige Veranstaltungen buchen. Die ansässige Beratungsstelle des WIN e. V. fördert das nachbarschaftliche Miteinander durch Vermittlung von Haushaltshilfen, Terminbegleitung, Transporten zu umliegenden Nachbarschaftstreffs und leistet dadurch Unterstützung für ein im Alter selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden. Eine weitere Besonderheit sind die beiden Clusterwohnungen, die für moderne WGs über zwei Etagen einen großzügigen, möblierten Gemeinschaftsbereich mit voll ausgestatteter Einbauküche und Gäste-WC aufweisen. Für die Privatsphäre dienen je Wohngruppe fünf autarke Apartments mit Pantry-Küche und eigenem Bad.

In Sachen Mobilität und Energie stehen ebenfalls neue Konzepte zur Probe. Passend zur VW-Stadt haben die Anlieger Zugriff auf drei anmietbare Elektroautos und vier E-Lastenfahrräder. Zur Ausweisung von Stellplätzen (bei einem Schlüssel von 1,0) entschied man sich bewusst gegen eine Tiefgarage. Stattdessen wurde östlich der Bebauung eine zweistöckige Parkpalette (auf Wunsch inklusive Wallbox als privater Lademöglichkeit) errichtet, die sich in Zukunft einfach zurückbauen und als Grünfläche umgestalten ließe. Auf der Dachfläche des Parkdecks erzeugt eine Solaranlage eines externen Anbieters Ökostrom, der den Mietern vertraglich geregelt als umweltfreundlich und obendrein günstig angeboten wird.

Würdiger Nachfolger

Um Streit während der Bauzeit vorzubeugen, schwört die Bauherrschaft übrigens auf das Bauteamverfahren, bei dem der Generalunternehmer als Ausführender bereits während der Planungsphase involviert ist. Mit dem Arbeiten in Partnerschaft wurden bislang durchgängig gute Erfahrungen gemacht, die sich oft durch eine preisgünstige Entwicklung qualitätserhöhend auf das Ergebnis auswirkten. Lediglich zwei Jahre Bauzeit sprechen auch bei diesem Projekt für sich.

Zur Nachhaltigkeit und Integration in den »weißen Stadtteil« Detmerode setzt der Entwurf auf eine Konstruktion aus Stahlbeton mit hellem, vorgemauertem Vollklinker. Leicht zurückversetzte, kontrastierende Grauflächen erinnern an die Brüstungsbänder des Vorgängerbaus. Die Loggien fügen sich dabei zurückhaltend in die Fassade ein. Zudem lassen sich in diesen Feldern dank der eingesetzten dunklen Fensterrahmen die unterschiedlichen Öffnungsformate optimal kaschieren. An manchen Fassadenflächen setzt ein verputztes, weiß gestrichenes WDVS Akzente. Insgesamt erzielen die Bauten den KfW-Standard 55.

Bei Investitionskosten von über 50 Mio. Euro für knapp 15 000 m² Wohnfläche erweist sich der in Anlehnung an seinen Standort am Kurt-Schumacher-Ring betitelte Komplex »Kurt 2.0« als würdiger Nachfolger, der sich souverän ins Nachbarschaftsgefüge eingliedert.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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