Zeitschrift

Hochparterre 08|2006
Zeitschrift für Architektur und Design
Hochparterre 08|2006, Foto: Robert Rosenberg
zur Zeitschrift: hochparterre

Athene in Einsiedeln

Im Juni wurde die Bibliothek der Stiftung Werner Oechslin in Einsiedeln eingeweiht. In diesem profanen Sakralraum greifen Architektur, Bücher und Programm ineinander und bilden ein Kunstwerk. In den Tempel der Obsessionen des Werner Oechslin tritt man mit frommem Schauder ein.

7. August 2006 - Benedikt Loderer
Die Schale zuerst. Mario Botta hat eine Auster gebaut. Sie steht auf dem Jakobsweg. Der Baugedanke ist darum der Weg durch das Grundstück und das Gebäude, von einer Mauer unterstrichen, die sich im Garten fortsetzt. Doch Mario Botta möge mir verzeihen, dass sein Beitrag zur Bibliothek Werner Oechslins hier nicht gebührend gewürdigt wird. Wer wird schon eine Auster nach ihrer Schale beurteilen? Botta nimmt klug das Gelände auf, dramatisiert die Aussicht, weiss eine intelligente Antwort auf den schmalen Streifen Bauland, beeindruckt mit Archaik, empfängt die Besucher mit einer monumentalen Geste, kurz, ein Botta. Im Innern der Pilgermuschel erst zeigt sich ihr wahres Wesen: der profane Sakralraum. Er ist aus drei ineinander verwobenen Leitmaterialien gebaut: aus Holz, aus Papier und aus Phosphor. Prosaischer ausgedrückt: aus Gestellen, Büchern und Hirnschmalz konstruierte sich Oechslin sein Geistesgebäude.

Die Gestelle und die Bücher

Das Vorbild ist die barocke Klosterbibliothek, der Stiftsschüler hat sie schon als Bub in sich aufgesogen. Er hat diesen Bautyp über Jahre in sich getragen und hat in immer anderen Bibliotheken die Sehnsucht danach genährt. Die geistige Schwangerschaft dauerte mehr als ein halbes Jahrhundert. Dann ist aus Oechslins Kopf die Athene von Einsiedeln entsprungen. Darum ist der grosse Bücherfestsaal eine Barockkapelle ohne Altar. Wer darüber den Kopf schüttelt oder mit den Schultern zuckt, dem fehlt das Wurzelgefühl. Wer so tief in der humanistischen Erde steckt, der wird von ihr geformt. Werner Oechslin ist barock aufgewachsen, ist durch seine Auseinandersetzung mit dem Barock noch barocker geworden, sein Ebenbild, die Bibliothek, kann daher nur barocke Formen haben.

Die Bücher sind in ihrer aufgereihten Kostbarkeit die Wonne des Optohaptikers, des Bibliophilen, der das Buch als Objekt der Begierde betrachten, berühren, beriechen und besitzen muss. Er liest nicht nur, ihm gehts um sinnlichen Genuss. Die Bibliothek ist sein Lustgarten und sein Fechtboden. Hier trainiert er Kopf, Herz und Bauch. Nachdem er sich vom Staunen erholt hat, fragt sich der Besucher: Wie sind die Bücher aufgestellt? Nach ihrer geistigen Verwandtschaft. Um den Kern der Architekturtheorie legen sich die Astronomie, Mathematik, Theologie, Philosophie. Man nimmt das erste Buch und findet in seinem Nachbarn eine Ergänzung, eine Vertiefung als Gegenüber, eine Weiterführung im Geschoss darüber. Die Aufstellung lädt zu Entdeckungsfahrten ein, man geht von Buch zu Buch und bleibt im Irrgarten des Wissens gefangen, bis man sich wieder auf den geraden Suchweg zurückbefiehlt. Die Aufstellung der Bücher ist die Abbildung der oechslinschen Weltordnung, seines persönlichen Universums.

Der Hirnschmalz

„Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingedrungen zu sein“, sagt General Stumm von Bordwehr über seinen Besuch in der Hofbibliothek (Robert Musil: Mann ohne Eigenschaften). So gings auch mir. Oechslin baute seine Erinnerung nach, doch sein Leben ist nur eines im Strom der Geisteswissenschaften. Er spürt, dass er auf den Schultern der Propheten steht. Bildung ist lebendige Erinnerung und die Bibliothek ist ihr Gefäss. Er fragt: Welches Wissen wird wieder in den Kreislauf der Bildung zurückgespiesen? Nur dieses ist lebendige Information. Die Wurzeln reichen tief. Das zeigt sich im ikonografischen Programm.

Der Professor lehrt an den Wänden und unterrichtet an der Decke. Die lateinischen und griechischen Inschriften, die Bilder und Statuen, sie alle verkünden eine verschlüsselte Mitteilung. Wer sie entziffert, nimmt zwei Botschaften mit. Erstens, Bildung ist nötig und zweitens braucht es dazu die urteilende Auswahl. Nicht die Wissensspeicher des Computers, sondern die Ablagerungen der durchgelesenen Nächte, der Reisen, der Museen, der Bilder, des Stadtwanderns: Die Beschäftigung mit dem Original macht die Bildung aus. Dazu braucht es das Urteil, die Auswahl und das jahrelange Wachsen der Übersicht. Nicht alles ist gleichwertig, die Waschpfanne der Wirkungsgeschichte misst das geistige Gewicht. Werner Oechslin tauchte sie in den Bücherfluss, das Gold der Geisteshefe blieb zurück, denn das Wirkliche ist das Wirkende.

Ich stand mit Ehrfurcht und Andacht in der Bibliothek. Mit einem Stockzahnlächeln auch. Ich war eingeschüchtert im Tempel der Obsessionen des Werner Oechslin. Beeindruckt von der Hartnäckigkeit, dem zähen, wilden Sammlerfleiss, der leidenschaftlichen Bücherliebe, dem Aufschichten des Bildungsgebirges und dem weltläufigen Auslegen von Bedeutung, kurz, dem überwältigenden dreifachen Ineinander von Raum, Buch und Programm. Da verbeugte ich mich vor der Passion des Werner Oechslin, seiner Leidensgeschichte und seiner Leidenschaft. ‹Il faut le faire.› Doch tauchte ich wieder ins kritische Bewusstsein auf und musste schmunzeln über das Kauzige und Bauernschlaue, das ebenso in Oechslin steckt. Die augenzwinkernde Mischung von Kirchenernst und Theatergeist, die in seiner Inszenierung steckt. Der Kunstgeschichtsprofessor ist auch ein philosophischer Bauer. Er hat noch etwas vom Klosterbuben bewahrt, der in der Stiftsbibliothek Bücher schleppte. Er spielt immer noch gerne.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

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