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tec21 2006|31-32
Auf knappem Grund
tec21 2006|31-32
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Die Unschuld des Einfamilienhauses

Das wohl erfolgreichste städtebauliche Modell des zwanzigsten Jahrhunderts – die suburbane Einfamilienhaussiedlung – ist zugleich jenes Modell, das Fachkreise am meisten ablehnen.
Mit blosser Polemik lässt sich aber kaum etwas verändern. Sieben Thesen für eine andere Betrachtung des Phänomens Einfamilienhaus.

7. August 2006 - Stefan Kurath
These 1: Die Einfamilienhaussiedlung birgt aufgrund der geringen Dichte Potenzial punkto nachhaltiger Siedlungs- und Landschaftsentwicklung
These 2: Die Einfamilienhaussiedlung ist Ausdruck von Urbanität
These 3: Bestehende Rahmenbedingungen zwingen das Einfamilienhaus an Randlagen
These 4: Infrastrukturkosten sind hausgemacht
These 5: Der zu grosse Flächenverbrauch ist hausgemacht
These 6: Die Einfamilienhaussiedlung hat nachhaltige Aspekte.
These 7: Die Nachfrage nach Einfamilienhäusern muss akzeptiert
werden. Erst dann können sie endlich weiterentwickelt werden

Das Einfamilienhaus gilt als Hauptverursacher flächenverbrauchender Zersiedlung und infrastruktureller Ineffizienz. Als Gegenbeispiel wird häufig das Ideal der kompakten europäischen Stadt herangezogen. Damit wird man dem Phänomen Einfamilienhaus nicht gerecht. Die Ausgangslage ist grundverschieden. Versteht man das Siedlungsgefüge als gesellschaftlich konstitutioniert, so ist das Einfamilienhaus Ausdruck der Gesellschaft von heute. Macht man das Einfamilienhaus zum Sündenbock für die auftretenden Probleme, kritisiert man die heutige Gesellschaft mit ihren Bedürfnissen. Da die Gesellschaft und damit der Einzelne kaum bereit ist, auf ihre Errungenschaften zu verzichten, wird sich durch die blosse Polemik kaum etwas verändern. Erfolgversprechendere Wege, welche die Grundsätze der Nachhaltigkeit mit einbeziehen, müssen verfolgt werden. Das Zentrum Urban Landscape der Zürcher Hochschule Winterthur geht dabei das Phänomen Einfamilienhaus unvoreingenommen an, untersucht soziotechnische Zusammenhänge und konstitutionierende Rahmenbedingungen. Vor diesem Hintergrund sollen Strategien für zukünftige nachhaltige Einfamilienhaussiedlungen entwickelt werden.

Das Einfamilienhaus als urbane Lebensform

Die Einfamilienhaussiedlung hat nicht das Dorf zum Vorbild. Sie ist Ausdruck eines durch Mobilität und Wohlstand befreiten urbanen Lebensstils. Gemäss Umfragen spielen nachbarschaftliche Verhältnisse eine geringe Rolle. Im Vordergrund stehen pragmatische Überlegungen und Forderungen nach mehr Raum, Garten, Entfaltungsmöglichkeiten in einer spezifischen Lebenssituation, Gebrauchs- und Rückzugsorientierung. Die Ausrichtung des Bewohners ist polyzentrisch. Mobilität und Wohlstand ermöglichen es ihm, in A zu arbeiten, in B Sport zu treiben, in C zu wohnen, in D Urlaub zu machen. Das eigene Umfeld wird aufgrund von Interessenzentralitäten unabhängig von den Distanzen zusammengestellt. Dies widerspiegelt eine urbane Lebensform, die wenig mit dem Leben in einer lokal ausgerichteten Dorfgemeinschaft oder mit dem Leben auf dem Lande zu tun hat.

Einfamilienhäuser an Randlagen

Durch den Föderalismus und das Selbstbestimmungsrecht konkurrenzieren sich Gemeinden unabhängig von ihrer Erschliessungslage. Nach Steuerzahlern suchend, verbleibt für Randgemeinden einzig der mobilste Interessent, der Einfamilienhaus-Interessent. Die Gemeinden werben ihn direkt an, indem sie die entsprechenden Bauzonen schaffen und die Infrastrukturen bereitstellen. Mit gleichzeitig kleinstem Budget findet der Angeworbene in Randgebieten aufgrund günstiger Bodenpreise das gewünschte Grundstück. Dabei nimmt er grössere Distanzen in Kauf. Die Nähe zu naturnahen Erholungslandschaften ist ein willkommener Nebeneffekt. Ähnliches ist an Rändern grösserer Siedlungen erkennbar. Durch die Raumplanung vorgezeichnet, manifestiert sich der Wunsch nach dem Einfamilienhaus an verkehrstechnisch ungünstigen Lagen am Siedlungsrand. Auch hier profitiert der Interessent von günstigeren Bodenpreisen und bereitgestellten Infrastrukturen.

Infrastruktur in der Landwirtschaftszone

Die Form kompakter mittelalterlicher Städte entstand aus ökonomischen, kulturellen oder verteidigungsstrategischen Gründen. Selbst bei Dörfern waren kompakte Siedlungsformen erkennbar. Sie widerspiegeln zeitspezifische, gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Der tägliche Bewegungskreis beschränkte sich mehrheitlich auf Hof und Feld. Verkehrsinfrastrukturen ausserhalb der Siedlungen waren auf ein Minimum beschränkt und verbanden für Reisende und Handelnde Siedlungen auf dem kürzesten Weg. Betrachtet man Siedlungsentwicklungen um die Jahrhundertwende im Zürcher Oberland, sind mit zunehmender Mobilität lineare Ausdehnungen entlang von Verkehrsinfrastrukturen erkennbar. Entgegen dieser Entwicklung förderte das in den 1970er-Jahren entwickelte Raumplanungskonzept einer dezentralen Konzentration, gemäss dem Vorbild kompakter Städte, eine überlagerte, kompakte Siedlungsfigur. Dies obwohl sich die Gesellschaft durch zunehmende Mobilität in eine gegensätzliche Richtung entwickelt hat, die sich linear, netzwerkartig manifestiert. Die Folge ist, dass ein Grossteil von zivilisatorischen Einrichtungen wie Verkehrs-, Strom-, Wasser- oder Abwasserinfrastrukturen in Land- und Forstwirtschafszonen liegen. Durch die Zonengesetzgebung können diese bestehenden, aber ausgegrenzten Infrastrukturen nicht effizient genutzt werden. Potenzial liegt brach. Gleichzeitig werden Einfamilienhaussiedlungen durch die Zonenplanung zur flächigen Ausdehnung gezwungen, obwohl sie, vom Individualverkehr geprägt, durch Aneinanderreihung entlang eines Strassenzuges lineare Strukturen aufweisen (Bild 2). Dies hat zur Folge, dass zusätzliche Erschliessungsinfrastrukturen erstellt werden müssen, die beträchtliche Kosten verursachen, während weite Strecken in Land- und Forstwirtschaftszonen ungenutzt sind. Die Überlagerung gesellschaftlich konstituierter Strukturen mit einem tradierten Modell führt zur Ineffizienz.

Baugesetze als zu enges Korsett

Heutige Baugesetzgebungen und gesellschaftlich ge-prägte Konventionen drängen den Wunsch nach einem Einfamilienhaus in die bekannte Form mit zwei Stockwerken und Giebeldach. Vorgeschriebene Grenzabstände verhindern eine effiziente Ausnutzung der Parzelle. Trotz einer langen Geschichte besteht das Umfeld des Einfamilienhauses seit je aus Zufahrt, Parzelle, Grenzabstand, Vorplatz, Haus mit zwei Stockwerken und Giebel, Sitzplatz, Niederstammapfelbaum, Garten und Hecke. Typologischen Entwicklungen oder alternativen Siedlungsformen wird kaum Raum gelassen. Warum nicht den Fussabdruck auf 40 m² pro Einfamilienhaus beschränken und dafür fünfgeschossig bauen?

Nachhaltigkeit ist eine Frage der Sichtweise

Nachhaltigkeit ist in erster Linie eine Frage der Interpretation. Solange die Natur als gottgegeben und die monozentrische und kompakte Stadtform als kleinstes Übel in der Belastung der Natur angesehen wird, werden Entwicklungen in der urbanen Landschaft nie nachhaltig sein. Diese Natur existiert nicht mehr. Sie hat sich zu einer künstlichen Natur oder natürlichen Künstlichkeit entwickelt. Entwickelt man die anfangs erwähnte tradierte, anthropozentrische Sichtweise in Richtung einer gesamtheitlichen, biozentrischen Sichtweise und bezieht man qualitative Wertigkeiten wie Partizipationsmöglichkeiten, individuelle Gestaltung, Sicherheitsempfinden, Wohlgefühl oder Biodiversität mit ein, wird erkennbar, dass nach monozentrischem Standpunkt nachhaltige Strukturen situativ nicht immer nachhaltig sind. Umgekehrt wird offensichtlich, dass scheinbar nicht nachhaltige Strukturen bei einer biozentrischen und gesamtheitlichen Betrachtungsweise durchaus gewichtige nachhaltige Momente haben. Als Beispiel: Arealflächenstatistiken machen keine Aussage darüber, dass ein Grossteil der Parzelle bei Einfamilienhaussiedlungen unbebaut bleibt. Diese Freiräume bieten Raum auch für Pflanzen und Tiere, sie könnten ausgebaut werden. Gegenüber innerstädtischen Blockrändern ein offensichtlicher Mehrwert. Punkto Nachhaltigkeit hat die Einfamilienhaussiedlung Nach-, aber auch Vorteile. Die Vorteile sind weiterzuentwickeln, die Nachteile zu reduzieren.

Einfamilienhaus-Verbot als Lösung?

Die einfache Lösung gibt es nicht. Die Formel «EFH-Verbot = Gewinn für Stadt und Land» ist haltlos, da sie zu einfach, wenn nicht gar einfältig ist. Die urbane Landschaft ist ein soziokulturelles Phänomen, so wie es die mittelalterliche Stadt auch ist. Nur eine gesamtheitliche Betrachtung der Probleme, das Anerkennen gegenseitiger Bedürfnisse, das Verständnis für zeitlich determinierte, gesellschaftliche Einflüsse und das daraus entstehende Nebeneinander verschiedener Naturen, Urbanisierungsgrade und Siedlungstypologien wird eine weitere Diskussion befruchten.
Es wird Zeit, die bestehende Nachfrage nach Einfamilienhäusern zu akzeptieren und dafür die Rahmenbedingungen und dadurch Typologien und Siedlungsformen zu optimieren. Erst wenn diese veränderten Rahmenbedingungen geschaffen werden, wird sich die heutige Situation im Bezug aufs Einfamilienhaus verbessern. Dass es das Einfamilienhaus als Wohnform weiterhin geben wird, davon kann man mittel- bis langfristig ausgehen. Wie es sich zukünftig manifestieren wird, liegt in der Hand von Politikern, Planern sowie verantwortungsvollen Einfamilienhausbesitzern und -interessenten.


Zusatz:

Forschungsprojekt
Das Forschungsprojekt «Komplexe Einheit – Das Einfamilienhaus im periurbanen Umfeld» wurde 2004 durch das Zentrum Urban Landscape des Studienganges Architektur an der Zürcher Hochschule Winterthur (ZHW) initiiert. Das Zentrum Urban Landscape bildet neben dem zweiten Kompetenzzentrum, Konstruktives Entwerfen, einen Schwerpunkt in der inhaltlichen Ausrichtung des Studienganges Architektur an der ZHW. Ein Team aus Architekten, Planern und Landschaftsarchitekten beschäftigt sich in diesem Rahmen seit mehreren Jahren mit städtebaulichen und architektonischen Themen rund um das tief greifend veränderte Siedlungsgefüge im Umfeld traditioneller Städte und Dörfer. Das Zentrum befasst sich dabei mit einem Vorgang, der tiefe Spuren in der Landschaft hinterlässt und gemeinhin mit «Zersiedelung» und «Chaos» definiert wird. Innerhalb des Zentrums gilt die These, dass diese lediglich negativen Beurteilungen den effektiven Sachverhalten und Prozessen, welche das Gesicht der «durchsiedelten Landschaft» prägen, nicht gerecht werden und insbesondere keine problemadäquaten Ansätze für den architektonischen und den stadträumlichen Entwurf abgeben. Eine wesentliche Folgerung ist, dass das bisherige Instrumentarium der Analyse und Interpretation räumlicher Phänomene hier nicht mehr genügt. Nebst der Auseinandersetzung mit dem Einfamilienhaus befasst sich das Zentrum mit städtebaulichen Machbarkeitsstudien und Szenarien. So wurden im letzten Jahr unter anderem Studien zum Areal Bahnhof Töss in Winterthur, Siedlungsentwicklungen an den Ufern des Bodensees, des Walensees und der Küste vor Valencia in Spanien sowie Szenarien für Mutten, eine Walsersiedlung in Graubünden, entwickelt. Am Forschungsprojekt Beteiligte: Max Bosshard (Zentrumsleiter), Stefan Kurath und Tom Weiss (Projektleitung und Bearbeitung), Christoph Luchsinger, Urs Primas und Ursina Fausch (Reflexionsgruppe).

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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