Zeitschrift

tec21 2006|35
transformiert
tec21 2006|35
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Innige Umarmung

Der Umbau eines leer stehenden Schulhauses im Londoner Stadtteil Elephant&Castle zum Hauptquartier der zeitgenössischen Tanzkompanie «Siobhan Davies Dance Studios» zeigt, wie gerade mit Respektlosigkeit der Substanz des Altbaus Respekt erwiesen wird.

8. September 2006 - Maren Harnack
Die Siobhan Davies Dance Company ist eine der bekanntesten und erfolgreichsten zeitgenössischen Tanzgruppen in England. Sie kann ihren Mitgliedern komfortable Bedingungen bieten: ein festes Einkommen einerseits, andererseits verfügt sie – seit neuestem – auch über ein festes Domizil, das die Architektin Sarah Wigglesworth der Truppe auf den Leib geschneidert hat.
Die Tänzer mussten allerdings lange darauf warten. Das erste Projekt wurde 1996 begonnen, schon damals mit Sarah Wigglesworth. Doch die Räume, die Siobhan Davies erwerben wollte, erwiesen sich als zu gross. Der zweite Versuch wurde gemeinsam mit anderen Künstlern gestartet, Räume standen in Aussicht, Sarah Wigglesworth plante. Aber die Zusammenarbeit mit den Partnern erwies sich als schwierig, das Risiko, zu viele Kompromisse eingehen zu müssen, als zu hoch.
Das Gebäude, das Sarah Wigglesworth schliesslich für die Siobhan Davies Dance Company umgebaut hat, ist ein altes Schulhaus im Stadtteil Elephant&Castle. Es hat eine bewegte Geschichte: In das Haus wurde eingebrochen, es wurde besetzt, überstand Brandstiftung und Wasserschäden. Elephant&Castle, südlich der Themse und jenseits des glamourösen London der Touristen gelegen, gehörte lange zu den Gegenden, die man als Fremder lieber mied, aber in den letzten Jahren hat auch hier die Stadterneuerung eingesetzt. Das Projekt der Siobhan Davies Dance Company kann man zweifellos als Teil dieses Aufwertungsprozesses sehen. Die Baukosten von rund 2.5 Millionen Pfund wurden sogar zu zehn Prozent aus Revitalisierungsmitteln finanziert.

Struktur bewahrt, aber neu interpretiert

Die Grundfläche des viktorianischen Schulhauses von 1893 entsprach der Grösse der Bühnen, auf denen die Siobhan Davies Dance Company normalerweise auftritt und die sie sich daher auch für ihren Probensaal wünschte. Das machte das Gebäude für die Tänzer auf Anhieb interessant. Aber es wurde auch schnell klar, dass das Haus als Teil eines grösseren, unter Denkmalschutz stehenden Schulensembles würde erhalten werden müssen und dass es folglich nicht ganz einfach werden würde, den Probensaal unterzubringen.
Das bestehende Schulhaus war klar gegliedert: rechts und links je ein Kubus mit Klassenzimmern, dazwischen die Erschliessung. Die Architektin entschied sich dafür, diese Struktur beizubehalten, sie gleichwohl neu zu interpretieren. Die beiden Kuben, in denen früher die Klassenräume untergebracht waren, wurden erhalten, die Erschliessungszone wurde allerdings komplett entkernt, sodass in der Mitte des Gebäudes ein zweigeschossiges Foyer entstehen konnte. Dieses verbindet alle Nutzungsbereiche des Hauses: im Erdgeschoss Büros und Aufenthaltsräume, im 1.Obergeschoss Umkleideräume und einen kleinen Probenraum. Über dem bestehenden Mauerwerksbau wurde ein neuer, grosser Saal errichtet, der die gesamte Grundfläche des Altbaus einnimmt und das Foyer überspannt. Alle Erschliessungsflächen stehen direkt mit dem Foyer in Verbindung und können von den Tänzern genutzt
werden, aber auch von den Besuchern, wenn im Hause Aufführungen stattfinden. Nur die Eingangszone des grossen Saals ist vom Foyer getrennt.

Wie ein Laib Brot

Der grosse Saal selbst ist der spektakulärste Innenraum dieses Gebäudes. Wie ein Laib Brot, der aus einer Backform quillt, hebt sich das Dach aus der Umhüllung des alten Gebäudes. Die Dachhaut hebt und senkt sich in Streifen, dazwischen entsteht Raum für Oberlichter, durch die gefiltertes Tageslicht in den Saal fällt. Sarah Wigglesworth hat es damit geschafft, Bezüge nach draussen herzustellen, Wetter und Jahreszeiten erlebbar zu machen und dem Raum gleichzeitig die Ruhe und Abgeschlossenheit zu geben, die ein Tanzstudio braucht.

Das Potenzial einer Notlösung

Die Dachkonstruktion besteht aus glasfaserverstärktem Kunststoff. Sie hat ihren Ursprung allerdings nicht im technischen Anspruch der Gebäudehülle oder in Anforderungen an das Tragwerk, sondern ist eine Notlösung. Ursprünglich sollte das Dach in Holz konstruiert werden, und zwar von Gordon Cowley, der auch für Alsop & Störmer das Dach der Peckham Library gebaut hat. Das erwies sich aber als zu teuer, und so wich man auf glasfaserverstärkten Kunststoff aus, aus dem beispielsweise auch Wohnwagen hergestellt werden. Das Material ist leicht und kann ohne den Einsatz von Spezialmaschinen bearbeitet und repariert werden. Risse oder Löcher werden einfach ausgeschnitten und mit neuem Material geschlossen. Ähnlich wie der Backstein des Altbaus, in den man ohne grossen technischen Aufwand und nach Bedarf Löcher schneiden kann, ist auch dieser Kunststoff ein sehr nachsichtiges Material.

In Schwingung versetzt

Die vertikale Erschliessung befindet sich nach dem Umbau in einem leichten Anbau auf der Rückseite des Hauses. Die Treppe ist an Flachstählen von der Decke abgehängt und schwingt mit den Schritten des Benutzers, wie überhaupt alle Böden als Schwingböden ausgeführt sind und den Besucher ständig spüren lassen, dass er sich in einem Haus befindet, das für Tänzer gebaut wurde. Um den Grundstücksstreifen für das Treppenhaus zu erwerben, waren noch einmal harte Verhandlungen nötig, da das Bestandsgebäude direkt an den Schulhof einer Grundschule stösst. Doch auch dies ist gelungen: Die Fläche des Schulhofs wurde um wenige Quadratmeter reduziert, und die transparente Fassade des neuen Treppenhauses ermöglicht einen viel intensiveren Austausch der beiden Welten, als es die bestehende Backsteinhaut jemals hätte tun können.

Alt und Neu verwoben, aber Brüche nicht geglättet

Bemerkenswert an dem Gebäude ist die Art und Weise, wie Sarah Wigglesworth mit dem Bestand umgegangen ist. Das neu geschaffene Foyer hat sie mit einer Fülle von Elementen ausgestattet. Gleich am Eingang wird man von einer leuchtend gelben, schräg gestellten Säule empfangen, der Blick fällt auf das angebaute Treppenhaus, die Brüstung im ersten Obergeschoss besteht zum Teil aus Drahtgeflecht, zum Teil ist sie wie ein Sofa mit weinrotem Kunstleder gepolstert. Die Eingangsfassade ist verglast und in einer einfachen Pfosten-Riegel-Kons-
truktion konstruiert. Ein grosses, mit Drahtgewebe bespanntes Schiebepaneel davor bietet bei Bedarf Sicht- und Blendschutz.
Das erscheint zunächst als sehr viel, unterstützt aber die Haltung, mit der die Architektin das Gebäude angefasst und gewissermassen umarmt hat. Entgegen der bekannten Strategie, Alt und Neu sorgfältig auseinanderzuhalten und sich gegenseitig ausstellen zu lassen, verwebt sie beides so miteinander, dass es zwar in seiner Eigenart erkennbar bleibt, aber nicht mehr voneinander zu trennen ist. Die Brüche, Benutzungsspuren und Wunden, die der Bestand mitgebracht hat, bleiben ebenso bestehen wie die Verletzungen, die er während des Umbaus hinnehmen musste. Abgebrochene Ecken, abgeplatzte Oberflächen, Farbreste, Maueransätze und abgebrochene Treppenstufen zeugen von der Unbekümmertheit und Ruppigkeit, mit der die vorherigen Nutzer, aber auch die Architektin dem alten Schulhaus begegnete.
Im Gegenzug wird es gleichsam neu eingekleidet, und zwar in einer Art, die fast schon liebevoll ist. Streifen von Putz, der nach einer traditionellen Rezeptur angefertigt und mit Ziegenhaaren versetzt ist, ziehen sich über den Altbau mit seinen Anbauten und verbinden beides miteinander. Dabei verdecken sie Stellen, an denen Abbruchkanten zu rau oder sogar gefährlich waren, und betonen sie dadurch gleichzeitig. Das Ziegenhaar wirkt dabei als Armierung, gibt den verputzten Oberflächen aber auch eine unerwartete haptische Qualität.

Respektvoll in der Respektlosigkeit

Auch das rückwärtig angebaute Treppenhaus ist in diesem Sinne zweideutig: Es läuft der alten Struktur zuwider, macht sie aber dadurch, dass man den Altbau bei jedem Geschosswechsel verlässt und wieder betritt, überhaupt erst nachvollziehbar. Dasselbe gilt für die vielen Elemente, die im Foyer aufeinandertreffen: Mit ihrer Respektlosigkeit vor dem Bestand ermutigen sie die heutigen Nutzer ebenfalls zu Respektlosigkeit, und so nutzen die Tänzer jede verfügbare Brüstung, um sich daran aufzuwärmen, jeden verfügbaren Absatz, um darauf zu sitzen, und jedes Stück Boden, um darauf in irgendeiner Form zu tanzen. Dieses Haus ist das Gegenteil von steril. Es ist auf eine sehr zupackende Art respektvoll.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: