Zeitschrift

tec21 2006|37
Nomadische Architektur
tec21 2006|37
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Obdachlosen-Vehikel

Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko entwickelt seit den späten 1980er-Jahren Kommunikationshilfen für Obdachlose und Immigranten. Dabei bewegt er sich als Stimme derjenigen, die ausserhalb der Gesellschaft stehen, zwischen Designer und Sozialtherapeut.

11. September 2006 - Lilian Pfaff
Die Obdachlosen-Vehikel des Künstlers sind nicht einfach Kunstwerke, die sich zwischen «public art», Architektur und temporären Strukturen verorten lassen. Sie sind tatsächlich auch benutzbar und als solches geplant und gedacht. In den 1960er-Jahren hatte die mobile Behausung ausgehend von den Möglichkeiten, die die Raumfahrt suggerierte, Hochkonjunktur. Auch heute noch üben die Modelleinheiten zum Leben auf reduziertem Raum als utopische Zelle innerhalb der Gesellschaft oder als «all in one» (alle Funktionen in einem Raum) auf viele Künstler und Architekten eine gewisse Faszination aus. Mobile Behausungen haben sich seit dem Wohnmobil über die Plug-in-Strukturen bis hin zu prothesenhaften Geräten wie dem «Crushicle», 1966 von Archigram, mit dem sich das eigene Haus jederzeit überall mit herumtragen lässt, ins Fiktive gesteigert. Die einfache Aufgabe aber, wie Obdachlose, Flüchtlinge oder Immigranten zu einem minimalen Zuhause kommen, scheint noch immer nicht gelöst zu sein. Meist sind es grosse Schlafsäle, die notdürftig einzelne Kompartimente voneinander abtrennen und für deren Typus das Hotel oder das Kloster Pate stehen. Ein eigenes Heim zu konzipieren, ohne dauerhaft sesshaft werden zu müssen, hat sich Krzysztof Wodiczko (geb. 1943 in Warschau) zur Aufgabe gemacht. Der Künstler, MIT-Professor für Design, schlägt eine Kombination von Mobilität und Ort besetzen vor. Während das «First Vehicle Reserved for The Artist» in den frühen 1970er-Jahren noch durch die Gehbewegung des Künstlers betrieben wurde und eine Anspielung auf das funktionsbasierte Design und den Fortschrittsglauben implizierte, erweitert er dieses Gerät mit einer sozialen Komponente. Das «Homeless Vehicle», 1988, ist ein vergrösserter Einkaufswagen, der zum einen zum Sammeln von Flaschen, zum anderen als Schlafstelle (mit Waschbecken) dient. Die Grundbedürfnisse des Menschen werden mit dem Arbeitswerkzeug vereint. Denn seit 1983, als der Künstler nach New York kam, hat sich die Situation der Obdachlosen um den Battery-Park immer mehr verschlechtert, bis schliesslich Kunst im öffentlichen Raum in den 1990er-Jahren zur Gentrifizierung des Quartiers und zur Vertreibung der temporären Bewohner eingesetzt wurde. Damit die Obdachlosen einer legalen Arbeit, dem Flaschensammeln, nachgehen können, entwarf er ein «Designobjekt», dessen seltsame Form zur Kommunikation anregen und gleichzeitig die Präsenz der Obdachlosen und ihrer Lebensbedingungen im Stadtraum verstärken sollte. Dass die mobilen Gefährte an konstruktivistisches Design der 1920er-Jahre und deren Utopien einer klassenlosen Gesellschaft erinnern, entbehrt nicht der Ironie. Das Problem der Obdachlosen, die sich in Hauseingängen oder Parks einnisten, sei, wie Wodiczko erläutert, dass sie sich zurückziehen möchten, aber gerade dieses Verhalten sie grösseren Gefahren aussetze und sie dementsprechend unsichtbar in der Gesellschaft werden lässt. Mit der mobilen Architektur dagegen sind sie legale Einwohner. Getestet und im Umlauf war der Prototyp des Homeless Vehicle insgesamt drei Monate. Da jedes Gefährt jedoch individuell mit dem Obdachlosen entwickelt und entworfen wird, ist der Prozess der Realisierung ein unendlich langer und weiter.

Kommunikationsmittel

Weiterentwickelt wurde das Vehicle zu «Poliscar», 1991, das schon mit seinem Namen die selbstbewusstere Intention veranschaulicht. Hier geht es zwar auch darum, im Inneren des Gefährts einen Schlafplatz, der mit einem anderen zusammengeschlossen werden kann, zu konzipieren. Vielmehr aber ist die Kommunikation nach aussen, die Verbreitung von Meinungen und die Vermittlung von Informationen Teil des Vehicle. So soll der Name bewusst Gedanken an Polizei oder auch Polis, die Gemeinschaft, evozieren. Die ambivalente Haltung zeigt sich im Kopf des Gebildes, das in vier verschiedenen Stellungen (zum Gehen, Fahren, Stehen und Schlafen) zum Einsatz kommt. Hier können sowohl der öffentliche Raum überwacht als auch über einen eingebauten Fernseher und einen Radiosender eigene Nachrichten kreiert werden. Der Obdachlose wird damit nicht mehr nur am Rande der Gesellschaft geduldet, sondern verschafft sich durch die provokative Form und Kommunikationshilfe Gehör. In anderen Arbeiten werden dazu Videobildschirme als Augenersatz auf den Rücken von japanischen Jugendlichen geschnallt, die so mit ihrer Umgebung kommunizieren können, ohne dem Gegenüber direkt in die Augen schauen zu müssen. Diese Prothesen, Erweiterungen oder auch Ersatzteile des Körpers übertragen die Stimmen der Randgruppen in riesige Dimensionen wie beim Projekt «The Tijuana Projection» 2001, Mexiko, wo die Bevölkerung ihr Gesicht über eine Kamera an die Fassade des Museums projizieren und ihre Wünsche und auch Probleme über grosse Lautsprecher äussern konnte. Wodiczko hat mittlerweile über 70 Projektionen an Denkmälern oder Monumenten realisiert. Anfang Januar liess er an der Fassade des Kunstmuseums Basel vier «Sans Papier»-Personen über die Problematik ihres Status sprechen. Zu sehen waren im Film, der über zwei Projektoren an die Fassade projiziert wurde, nur ihre Beine, die über die Dachkante des Museums herunterbaumelten – hören konnte man die Leute über riesige Lautsprecher im öffentlichen Strassenraum. Damit erhält auch das Monument eine aktive Rolle, es wird zum Zeugen des gesellschaftlichen Zustandes.

Gehör verschaffen

Ausgehend von einem Nicht-Ort (Non-Place) in der Stadt ist es für den Künstler ein No Place, für die Obdachlosen ein Ort und ein Zustand, die von der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. In bestehenden Machtstrukturen sollen sie ihre eigene Sphäre einrichten. Dieses Interesse ist vor dem eigenen Hintergrund Wodiczkos als Immigrant in Kanada und mittlerweile auch den USA entstanden. Das Anliegen ist in allen drei Werkkategorien, den Vehicles, den prothesenartigen Geräten und den Projektionen, den Ausländern, Obdachlosen und Vertriebenen Raum zu geben und ihnen Gehör zu verschaffen, indem der Künstler ihnen seine Stimme leiht. Wichtig ist dabei, dass sich die Obdachlosen mit ins Konzept einschreiben und nicht einfach nur ein Verständnis für ihre Situation vorhanden ist, so Wodiczko. Die Obdachlosen seien eigentlich die Künstler, er führe nur Regie. Deswegen versteht er sich nicht als Sozialarbeiter oder Therapeut, sondern bietet sich den Leuten wiederum selbst als Vehikel an, damit sie lernen, sich selbst zu helfen. Seine Position als Künstler setzt er insofern ein, als er als internationaler Künstler mehr Aufmerksamkeit erhält als Randgruppen. Er ist deren Sprachrohr, mit dessen Hilfe sich finanzielle Unterstützung finden lässt.
Literatur
Krzysztof Wodiczko: Critical Vehicles. Writings, Projects, Interviews, MIT Boston 1999.
Sam Davis: Designing for the Homeless. Architecture that Works. The University of California Press, Berkeley, Los Angeles 2004.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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