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Liang Sicheng – Tor zur Moderne geöffnet

Nach der Absetzung des letzen Kaisers und der Schliessung des kaiserlichen Bauamtes im Jahre 1911 stürzte die Architektur Chinas in Orientierungslosigkeit – ähnlich wie nach der Öffnung des Landes 1979. Wurde das Vakuum im Gefolge der Reformen Deng Xiaopings durch den Import westlicher Vorbilder gefüllt, so brach in den Jahrzehnten von Republik und Volksrepublik ein blinder Nachahmungswahn hastig erkorener Vorbilder aus. Der Architekt Liang Sicheng kritisierte dieses Phänomen des «entseelten Kopierens » scharf, forderte stattdessen eine chinesische Nationalarchitektur und ersann Bauten, welche die traditionelle mit der modernen Architektur beispielhaft versöhnten.

20. November 2006 - Christian Kammann
Als Sohn des berühmten Reformers Liang Qichao wurde Liang Sicheng 1901 im japanischen Exil geboren. Er genoss eine moderne, weltoffene Erziehung, die ab 1912 in China fortgesetzt wurde und mit einem abschliessenden Studium bei Paul Philippe Cret von 1924 –1927 in Philadelphia auf eine Architektenlaufbahn abzielte. Nachdem bereits 1911 die letzte chinesische Dynastie und mit ihr die unter dem kaiserlichen Bauministerium agierenden Handwerksgilden zu Fall gekommen waren, verschwand gleichzeitig auch der traditionelle Holzständerbau aus dem chinesischen Baugewerbe. Architekturbüros der damaligen Kolonialmächte schlossen diese Lücke mit historisierenden Entwürfen (Bild 2), die zum epochalen Zeugnis westlicher Unkenntnis über traditionelle chinesische Architektur wurden. Dieses augenscheinliche, unerbauliche Defizit kritisierte Liang Sicheng vehement und wollte es mit seinen Entwürfen und publizierten Forschungsergebnissen zu traditioneller chinesischer Architektur aufarbeiten.1 «Um 1920 herum gab es ein paar europäische und amerikanische Architekten, die in eklektischem Stil arbeiteten und plötzlich bemerkten, dass die chinesische Architektur durchaus ihre Reize hat. Sie begannen alle möglichen Formen der chinesischen Architektur zu verwenden, um ihren eigenen «chinesischen Stil» zu kreieren. Alles, was sie hierbei für sich entdeckten, waren die glasierten Ziegeldächer der chinesischen Architektur mit ihrem goldfarbenem und jadegrünem Farbspiel und die unendlichen Variationen an Schnitzwerk in den Fensterrahmen. Das von ihnen so geschaffene, schlechte architektonische Beispiel waren westliche Gebäudetypen, auf die sie ein Hütchen aus glasierten Dachziegeln setzten. Unter einem solchen Dach gab es ein paar bunt gemalte Bildchen und ein paar Schnitzereien vom Wassernussmotiv an den Fenstern. Eventuell wurde dann noch ein Pedestal buddhistischen Stils unter das Gebäude gesetzt. So etwas ist weder Fisch noch Fleisch! Es sieht vielmehr so aus, als tröge ein Westler in einem Anzug einen Mandarinhut mit roten Troddeln; als hätte man ihm ein rotes Stück Seide im Stil eines pensionierten Beamten vor die Brust geheftet und liesse ihn darüberhinaus noch beamtenadequate Palaststiefel tragen!»[2]

Suchte man ein passendes Bild für Liang Sichengs Unterfangen in chinesisch-prosaischer Manier, so böte sich ein Boot an, das während der Sommerferien aus Rohmaterialien entsteht, aber wegen schlechten Wetters nie zu Wasser gelassen, sondern erst einmal im Sand vergraben wird. Mit anderen Worten: Die kommunistisch geprägten 50er Jahre in China und die anschliessende Kulturrevolution (1966 –1976) verhinderten eine nachhaltige Umsetzung von Liangs Entwürfen und Ideen der ausgehenden 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre.

Werfen wir einen Blick auf seine Entwürfe und setzen sie in den Kontext von Liangs Epoche, so überzeugen sie als lang ersehntes, anschauliches Verbindungsstück zwischen traditioneller und moderner chinesischer Architektur. Drei kleine, um 1930 realisierte Bauaufgaben, die trotz ihrer disparaten Erscheinungsbilder eine innere Logik verbindet, geben konkreten Einblick in die damalige Zeit: Die 1930 entstandene Gebäudegruppe der Jilin-Universität in Nordostchina, die Geschäftsfassade der chinesischen Teppichfirma Renli in Beijing (1932) und das Geologiegebäude (1934) auf dem alten Campus der Peking-Universität nahe der Verbotenen Stadt.

Erschaffung einer «nationalen Maske» Revolutionär für das post-imperiale China ist an diesem Entwurf erst einmal die Tatsache, dass ein chinesischer Architekt den traditionellen Bautypus xuetang, der eine schulisch genutzte Form des vierseitigen Wohnhofes siheyuan (Bild 3) darstellt, durch multifunktionale, kompakte Baukörper ersetzt. Die xuetang bestand meist aus zwei aufeinander folgenden, eingeschossig umbauten Höfen, von denen der Vordere die Klassenzimmer beherbergte und der Hintere Platz für Lehrerwohnung(en) und Verwaltung bot. Die Anlage war nach aussen hin hermetisch abgeschlossen und nur durch einen seitlich der Mittelachse gelegenen Eingang zugänglich. Liangs Jilin-Entwurf hingegen zeigt im Grundriss einen offenen, dreiseitigen Hof (sanheyuan) mit Fassaden3 und einer Sichtachse auf das Hauptgebäude (Bild 9). Dieser öffentliche Charakter findet seine logische Fortsetzung in der Disposition der Raumfunktionen. Das Hauptgebäude nimmt das Direktorenzimmer und andere Verwaltungsräume auf, die in den Seitenflügeln über den Lesesälen untergebracht sind.

Im Mittelrisalit hingegen führt eine grosse Freitreppe über ein Zwischengeschoss in die Aula, unter der das Magazin der Universitätsbibliothek lagert. So konzipiert, steht ein halböffentlicher Versammlungsraum im Zentrum der Anlage anstatt, wie in traditioneller Manier, ein Unterrichtsraum. Für Liang Sicheng findet Bildung also sinnbildlich nicht mehr nur hinter verschlossenen Türen für eine Elite statt, sondern wird in der Republik China mehr zu einem öffentlichen Gut. Sicherlich gilt diese Aussage auch für andere Universitätsgebäude der chinesischen Republikzeit (1912 –1949), allen voran für die des Amerikaners Henry Killiam Murphy (1887– 1954).4 Doch es bestehen entscheidende Unterschiede, die besonders am Umgang mit der Fassade sichtbar werden: Liang Sicheng reagiert stilistisch unmittelbar auf die Japanische Invasion im Nordosten des Landes,5 indem er nach einer modernen chinesischen Formensprache sucht, die sich deutlich von japanischen Bauprojekten im Land abhebt und stattdessen nationale Unabhängigkeitsbestrebungen zum Ausdruck bringt. Elemente traditioneller chinesischer Architektur wie die Schmucksäulen (huabiao) vor den Eingängen der Unterrichtsgebäude, eine bekrönende Frieszone aus archaischen Konsolgebälkformen6 und Drachenfische (chiwen) als Dachreiter kommen in Art Déco Manier punktuell zum Einsatz (Bilder 4, 5, 6). Die funktionale Öffnung der Wand mit für diese Zeit in China ungewöhnlich grossen Fensterflächen, die für grösstmögliche natürliche Belichtung sorgen, steht in einem eher ungelenkem Gegensatz zur massig wirkenden Aussenhaut der Bauten (Bilder 7, 8). Doch Wehrhaftigkeit entspricht dem Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit. Murphys Gebäude hingegen sind nicht derart politisch aufgeladen. Sie dienen einer amerikanischen Auftraggeberschaft, nicht einem regional bedeutendem chinesischen Machthaber (Zhang Zuoxiang) und vollziehen einen Historismus, bei dem westliche Fassaden mit groben, unausgereiften Formimitaten traditioneller chinesischer Dächer versehen werden. So «bedacht» sind diese Gebäude wirklich «weder Fisch noch Fleisch». Liang Sichengs Universitätsgebäude hingegen, ursprünglich für ca. 300 Studenten konzipiert, dienen noch heute als intensiv genutzter, zentraler Unterrichts- und Verwaltungskomplex dem Northeast China Institute of Electric Power Engineering mit seinen knapp 10 000 Studenten.

Von der Maske zum Gesicht

Nur zwei Jahre später, 1932, baut Liang Sicheng das Hauptgeschäftshaus der chinesischen Teppichfirma Renli um, das an der Haupteinkaufsstrasse Pekings, Wangfujing liegt (Bilder 13-15). Dieses Projekt ist insofern besonders und erntet schon damals in Architekturkreisen Lob,7 weil es den ersten nachweisbaren Versuch darstellt, Konstruktionselemente des chinesischen Holzständerbaus mit modernen westlichen Bautechniken zu verbinden. Dabei entsteht zwar kein unabhängig tragfähiges Stahlskelett, aber die Träger der Stahlbetondecke des Erdgeschosses ruhen auf Piniensäulen und die Renzi-Konsolen aus Holz sind nicht nur Dekor wie bei den Jilin-Gebäuden: Sie liegen in der Fassadenflucht des Geschäftshauses, tragen die darüber liegende Wandmasse und zeichnen sich somit als echte, sogenannte Schattenkonsolen (yinggong) aus, die an vergleichbarer Stelle im Wandaufbau des traditionellen Holzständerbaus die Dachkonstruktion tragen. Noch deutlicher als die Jilin-Universitätsgebäude soll dieses Projekt, ganz im Sinne der chinesischen Guomindang-Regierung,[8] nationale Unabhängigkeit und wachsende Wirtschaftkraft demonstrieren. Zu einer Zeit, in der japanische Truppen kurz vor den Toren Pekings stehen, sind nationale Symbolik und symbolträchtiges Handeln äusserst gefragt. Die Produkte der Firma Renli werden so z.B. exklusiv in China mit chinesischen Produktionsmitteln erzeugt, und die Geschäftsführung besteht auf eine Verwendung ausschliesslich chinesischer Baumaterialien. Liang Sichengs ernsthaft angestrebte, architektonische Syntheseleistung muss unter diesen Umständen als eines der wenigen Beispiele chinesisch geprägter moderner Architektur verstanden werden.

Was den Bautypus betrifft, so bricht Liang traditionelle Konventionen und geht geschickt mit der Art der Warenpräsentation um. Die Abgeschlossenheit traditioneller Geschäftsräume zur Strasse hin, die sich hinter schlicht (Bild 12) bis elaborat dekorierten Wänden verbergen, öffnet er mit dem im Westen üblichem Schaufenster. Durch die Ren-Konsolen, die à l'Art Déco auf einer sonst weitgehend undekorierten Fassade platziert sind, wird das Schaufenster ganz im Sinne der Bauaufgabe zum Blickfang. Nachts macht zudem das konsolförmig ausfallende Licht dem Namen der Schattenkonsolen alle Ehre und erzielt auf künstlerisch erhöhte Weise den erwünschten Effekt (Bild 13).

Die Maske fällt

1934 hat sich die politische Lage in China im Vergleich zu 1932 verschärft. Die wachsende Kontrolle über das ehemalige Reich der Mitte durch die Japaner löst Widerwillen in der Bevölkerung aus und schlägt sich u.a. im darauf folgenden Jahr in Studentenprosteten in Peking nieder. Umso überraschender ist nun der sprunghafte ästhetische Wandel, den Liang Sicheng vermeintlich konträr zum tagespolitischen Geschehen in seiner Entwurfsarbeit vollzieht. Das Geologiegebäude (Bild 16) für die Pekinguniversität an der Shatanbeijie 35 weist, abgesehen vom respektvollen Umgang mit einer bereits auf dem Gründstück seit 1749 vorhandenen Gedächtnisstele für Prinz Fu Heng, keinerlei Bezüge zu traditioneller chinesischer Architektur auf. Eine dreifache Abtreppung der Hauptfassade des grauen Ziegelbaus kennzeichnet vier unterschiedlich genutzte Binnenraumgruppen, die zusätzlich durch differierende Fensterformate markiert sind. Auch das ausbalancierte Wechselspiel von Läufern und Bindern im Mauerwerk, durch das funktionale Unterschiede in der Binnenraumnutzung markiert werden, verweist auf europäische Schulen der Moderne.

Warum vollzog sich ein solch drastischer Wandel bei einer ähnlichen Bauaufgabe innerhalb von nur 4 Jahren? Zur Klärung lassen sich drei Planskizzen eines weiteren Projektes belangen. Für die Neustrukturierung des Stadtraums von Tianjin hatte Liang Sicheng 1930 zusammen mit Zhang Rui u.a. eine Bibliothek (Bild 17), ein Museum (Bild 18) und ein Rathaus (Bild 19) entworfen. Die Ähnlichkeit der Bibliothek und des Museums mit den Jilin-Universitätsgebäuden ist frappierend, wohingegen sich das Rathaus durch traditionelle chinesische Walmdächer von den anderen Entwürfen abhebt.

Diese Dachform wurde 1930 (und darüber hinaus) noch eindeutig als architektonisch höchste Würdeform in China verstanden – und deshalb kommunizierte Liang Sicheng sie bei Regierungsgebäuden auch so an die Öffentlichkeit. Andere öffentliche Gebäude wurden auf einer hierarchisch niedrigeren Stufe angesiedelt, für die Liang einen eigenen Formenkanon ersann: Ein traditionelles Walmdach auf einem Universitätsgebäude war für Liang Sicheng nicht denkbar. Da er das Universitätswesen jedoch als echten think tank verstand, er gemäss eigener Aussage leider keine Bauhausausbildung erhalten hatte und 1934 erstmals auf einen ihm vertrauten Auftraggeber aus dem Universitätsmilieu traf (Jiang Menglin), war dies wohl für den Jungarchitekten Liang die Chance, Neuland zu betreten und zu versuchen, losgelöst von nationaler Symbolik, intellektuelle Impulse für ein modernes Zeitalter zu setzen.

Liang Sichengs noch massgeblich von traditionell chinesischem Hierarchiedenken geprägtes Konzept für die Neugestaltung des öffentlichen Raumes in China konnte bis zu seinem Tod 1972 nie vollständig verwirklicht werden. In den 1950er-Jahren beugte er sich nach anfänglicher Kritik an der Parteiführung dem allgemeinen Historisierungstrend der Kommunisten, um das historische Stadtbild Pekings möglichst intakt zu halten (Bild 20). Seine denkmalpflegerischen Vorschläge (Bild 1) waren umso innovativer – wie die Skizze für die Umgestaltung der Pekinger Stadtmauer zum Park von 1951 zeigt (Bild Inhaltsverzeichnis) –, konnten aber eine Vielzahl von Abrissen nicht verhindern.

Daher ist es wohl auch eine Ironie des Schicksals, dass 1986 das ehemalige Geschäftshaus der Firma Renli abgerissen wurde: Hierdurch verschwand eine frühe, kulturelle Syntheseleistung Liang Sichengs und mit ihr ein wichtiges Bindeglied der dünnen Kette zwischen traditioneller und moderner Architektur in China. «Ich hoffe, dass unsere neuen Architekten die Tradition im Herzen bewahren und gleichzeitig up-to-date sind. (...) Ihr kreatives Potential sollte geweckt und vergrössert werden, sodass sie ein neues Zeitalter in der Geschichte
Anmerkungen:
[1] Das Gesamtwerk Liang Sichengs (umfassend bisher nur auf Chinesisch publiziert) unter: Wu Liangyong (ed.): Complete OEuvre of Liang Sicheng (9 Bde.), China Architecture & Building Press: Beijing 2001
[2] Die National-Ethnische Form der Architektur, Rede vom 22. Januar 1950, in: Wu Liangyong, Bd.5, S.57f.
[3] Die traditionelle chinesische Architektur kennt die «Schau»-Fassade nicht.
[4v Cody, Jeffrey W.: Henry K. Murphy’s «Adaptive Architecture », 1914-1935, Chinese University Press: Hong Kong 2001
[5] Am 18. September 1931 überfällt Japan die Mandschurei und erobert bis zum Ende des zweiten Weltkrieges nahezu ganz China. 1931 beginnt für Liang Sicheng eine Flüchtlingsodyssee, die erst 1946 mit seiner Rückkehr nach Peking endet. Kuhn, Dieter: Die Republik China von 1912 bis 1937 – Entwurf für eine politische Ereignisgeschichte, 2 Bände [= Würzburger Sinologische Schriften], edition forum: Heidelberg 2004
[6] Die «Renzi»-Form (nach dem Schriftzeichen für Mensch, «ren») ist die früheste, lebensgrosse, noch auf chinesischem Boden erhaltene Konsolgebälkform. Lin Zhu: Pictorial atlas of historic Chinese architecture (4 Bde.), Beijingchubanshe: Beijing 1999, S.718f.
[7] Shanghaier Architekturzeitschrift: Chinese Architecture, Bd. II, Nr. 1 (Januar 1934), S.39
[8] Die Devise Sun Yat-sens, Begründer der chinesischen Republik und erster Präsident, nationale Werte wiederzuentdecken und sie mit westlichen Tugenden zu vereinen, in: Selected writings of Sun Yat-sen (2 Bände), Zhonghuashuju: Hong Kong 1966, Bd. 2, S.657
[9] Vorwort zur Publikation Yingzaosuanli von 1932, in: Collected Works of Liang Sicheng, 2001, Bd. 6, S. 124

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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