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Bauwelt 47.06
Wiederaufbau
Bauwelt 47.06
zur Zeitschrift: Bauwelt

Vom bewohnten Ausstellungsstück zum Weißenhofmuseum. Das Haus Le Corbusier

7. Dezember 2006 - Christian Schönwetter
Seit dem 25. Oktober ist das Doppelhaus, das Le Corbusier am Rande der Stuttgarter Weißenhofsiedlung errichtet hat, als Museum öffentlich zugänglich. Die eine Haushälfte fungiert dabei als begehbares Exponat und führt den Zustand des Hauses von 1927 vor, der bei der Sanierung und Teilrekonstruktion des Gebäudes unter Leitung des Büros Architektur 109, Stuttgart, gewissenhaft wiederhergestellt wurde (Heft 4). Die andere Hälfte, in der auch bauliche Änderungen erhalten blieben, die die Bewohner im Laufe der letzten 80 Jahre an dem Haus vorgenommen hatten, beherbergt jetzt eine Ausstellung über die Geschichte der Weißenhofsiedlung von 1907 bis 2007. Auf die Schwierigkeit, die Fülle an Informationen auf wenig Fläche unterzubringen, reagierte das mit der Gestaltung der Schau betraute Stuttgarter Büro space 4 mit einer gläsernen Ausstellungsarchitektur. Sie ist den Volumina der nicht mehr vorhandenen Originaleinbauten nachempfunden und verhindert dank ihrer Transparenz klaustrophobische Gefühle in den zum Teil sehr engen Räumen.

Erstmals ist nun also eines der Weißenhofhäuser auch von innen komplett zu besichtigen, erstmals lassen sich die damaligen Vorschläge für ein neuartiges Wohnen im Maßstab 1:1 erfahren – und der Besucher beginnt zu ahnen, weshalb die Gebäude zu ihrer Entstehungszeit auf wenig Verständnis stießen: Zumindest das Corbusier-Haus ist ein Beton gewordener Widerspruch in sich. Wirkt es von außen sehr großzügig, so bietet es im Inneren erstaunlich we¬nig Platz. Le Corbusier dreht die Prinzipien wirtschaftlichen Bauens um: In einem maximalen Volumen bringt er eine minimale Wohnfläche unter. Einerseits bietet er der gebildeten Mittelschicht, für die er das Haus entwarf, eine luxuriöse Terrasse auf dem Dach und ein Dienstmädchenzimmer im Erdgeschoss; andererseits mutet er ihr im mittleren Stockwerk Minimalgrundrisse zu, die noch hinter den Standard des sozialen Wohnungsbaus zurückweichen. Wo sonst misst die Breite eines Flurs weniger als 60 Zentimeter, wo sonst werden Wohn- und Schlafzimmer in einem einzigen Raum zusammengelegt? Le Corbusier entwickelt dafür ein Einbaumöbel, in dem die Betten tagsüber verschwinden sollen. Der Sinn dieses Details will sich vor Ort jedoch nicht recht erschießen. Denn der überwiegende Teil des Raums lässt sich bei Tag nur als Bewegungsfläche nutzen und gar nicht möblieren – da abends die Betten wieder aufgestellt werden müssen.

Um den nach Osten orientierten Raum großzügiger wirken zu lassen, gibt der Architekt dem angrenzenden Flur eine niedrigere Höhe und lässt den Wohn-Schlafraum mittels einer Nische oberhalb des Korridors bis an die Westfassade des Hauses reichen. Doch warum verschenkt er dann die Chance, dort Fenster anzuordnen, den Wohnraum damit von zwei Seiten zu belichten und vor allem die Abendsonne in den Hauptaufenthaltsbereich des Gebäudes scheinen zu lassen? Fiel ein solcher Ansatz vielleicht einer Sparmaßnahme zum Opfer? Auch der Umgang mit dem Bandfenster an der Ostseite wirft Fragen auf. Betritt man das Wohngeschoss, bietet das Glasband einen einmaligen Panoramablick weit über Stuttgart und das Neckartal. Doch setzt man sich an den Esstisch, ist es mit der Aussicht schnell vorbei – die Brüstung ist zu hoch. Bedenkt man, dass die Menschen 1927 durchschnittlich einige Zentimeter kleiner waren als heute, so konnten sie wahrscheinlich nur in den Himmel schauen; erst recht, wenn sie statt auf einem Esstischstuhl gar auf einem Sessel oder Sofa Platz nahmen. Hatte Le Corbusier, als er das Fenster plante, möglicherweise weniger das Wohnen im Hinterkopf als die Ausstellung über das Wohnen? Denn die halbe Million Besucher, die sich von Juli bis Ok-tober 1927 durch die Häuser der Weißenhofausstellung schoben, erlebten das Bauwerk natürlich in erster Linie im Gehen und Stehen – und nicht im Sitzen.
Die Nutzungsgeschichte des Bauwerks, das in nur acht Monaten entworfen, geplant und errichtet wurde, zeigt, dass es für eine mehrköpfige Familie letztlich unbrauchbar war, da es wegen des offenen Grundrisses keinerlei Rückzugsmöglichkeiten bot. Das Haus wurde – wie die gesamte Siedlung – gebaut, um neue Ideen vorzuführen: ein Wohnexperiment. Und Experimente dürfen scheitern.

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Für den Beitrag verantwortlich: Bauwelt

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