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TEC21 2007|05
Sicher Bauen
TEC21 2007|05
TEC21 2007|05
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Sorgfalt in jedem Fall»

Bilder eingestürzter Brücken oder Gebäude werfen Fragen nach den Gründen, der Verantwortung und den Konsequenzen auf. Drei Fachleute diskutierten über die Abgrenzung der Verantwortung und die Gratwanderung der am Bau Beteilig-ten. Besteht ein Zusammenhang zwischen Schadenfällen und tiefen Honoraren? Welche Rolle spielen Fachkompetenz und Vertrauen? Inwiefern sind Technische Normen verbindliche Berechnungsgrundlage.

TEC21: Die Baubranche steht heute unter enormem Kosten- und Termindruck. Ist es unter solchen Bedingungen möglich, spontane Entscheidungen zu treffen, die den juristischen Gegebenheiten standhalten?
Erich Ramer: Grundsätzlich kann man solche Entscheidungen auf der Baustelle schon fällen. Aber gerade bei Grabenbauten sieht man regelmässig heikle Situationen. So kam mir auch schon ein Graben zu Gesicht, der unmittelbar neben den Gleisen senkrecht in den Baugrund «abgetieft» war. Er stand, aber es hätte auch genau anders sein können!

Wie kommt es zu diesen heiklen Situationen im Bauprozess?
Walter Ramseier: Wenn zum Beispiel die Planung in Frage oder auf den Kopf gestellt wird. Man plant etwas korrekt, und es ist sowohl ingenieurmässig als auch vom Bauablauf her abgesichert. Der Gesamtprojektleiter kennt zu diesem Zeitpunkt den Ablauf. Wird die Ausführung kurzfristig umgestellt, können die Unfälle passieren. In den meisten Fällen sind solche kurzfristigen Anpassungen Optimierungsangelegenheiten. Man will Kosten und Zeit einsparen. Das ist das tägliche Brot in einem Bauablauf: Wie können wir schneller und billiger bauen. Dieser Mechanismus von Änderungen technischer Abläufe findet auf der Baustelle oft statt. Die Schwierigkeit liegt darin, die richtige Einschätzung vorzunehmen. Es gehört zu den Aufgaben des Gesamtprojektleiters, hier den Finger aufzuheben und auf die Risiken aufmerksam zu machen.
Jürg Gasche: Auch aus meiner Sicht passiert immer dann etwas, wenn Abläufe geändert werden. Baustellen sind dynamisch. Dass die Beteiligten in einem solchen dynamischen Prozess Änderungen vornehmen können, ist natürlich zwingend. Für die Fachleute ist es darum eine Herausforderung, Änderungen in den dynamischen Abläufen so zu steuern, dass nichts passiert.

Trotzdem müssen die Regeln der Baukunde eingehalten werden. Kann diese Forderung in der Praxis umgesetzt werden?
Jürg Gasche: Wie man das macht, ohne dass Menschenleben gefährdet werden, müssen die Fachleute diskutieren. Auf jeden Fall müssen im Moment des Bauens die dann gültigen Regeln der Technik erfüllt sein. Dass sich diese immer weiter entwickeln, ist klar. Trotzdem kann man nicht alle Häuser im gleichen 10-Jahres-Takt, in dem technische Normen überarbeitet werden, nachrüsten. Wenn jedoch beispielsweise ein grosser Umbau vorgenommen wird, dann müssen sich die Planer damit auseinandersetzen, was der aktuelle Stand der Regeln der Technik ist. Es muss zwingend geklärt werden, was aus Sicherheitsgründen baulich angepasst werden muss.
Erich Ramer: Bei Umbau und/oder Nutzungsänderungen sind die neuen Normen einzuhalten. Wird aber weder an der Nutzung noch am Bauwerk etwas geändert, soll (ausser bei offensichtlichen Fehlern) das Bauwerk belassen werden, wie es seinerzeit dimensioniert wurde. Ein aktuelles Beispiel ist die Erdbebensicherheit. Nur wegen der Normen können wir nicht sämtliche Gebäude in der Schweiz erdbebentechnisch nachrüsten.
Jürg Gasche: In einem Fall beauftragte der Bauherr einen zweiten Ingenieur, weil der Erstbeauftragte gestorben war. Er überprüfte die Dimensionierung seines verstorbenen Kollegen und stellte fest, dass dieser mit den alten SIA-Normen gerechnet hatte. Die statische Berechnung der Tiefgarage entsprach somit nicht den gültigen Normen. Das Bauwerk war aber schon in der Ausführung. Die Haftpflichtversicherung des Verstorbenen übernahm die Mehrkosten der Anpassungen an die aktuelle Norm.
Erich Ramer: Das ist ja das Beste, was einem passieren kann. Aber wenn dieser nun nicht gestorben wäre?
Jürg Gasche: Dann hätte der Bauherr ein Bauwerk erhalten, das nicht den neuen Normen entsprechend dimensioniert gewesen wäre. Wahrscheinlich hätte auch das gehalten. Es ist eben beim Bauen so, solange etwas hält, auch wenn es gegen die Regeln der Technik verstösst, wird niemanden belastet: «Wo kein Kläger, da kein Richter». Zur Sorgfaltsspflicht des Fachmanns gehört aber, dass er seine Bauherrschaft darauf hinweist, wenn er eine Verletzung der Regeln der Technik bemerkt.

Wird man so nicht bei jedem Projekt «frecher» in der Dimensionierung? Sind Schäden eine Frage der Zeit, und häufen sich die Schadensfälle?
Erich Ramer: Frecher zu werden darf man sich als Ingenieur nicht leisten. Baustellen, auf denen nichts passiert, gelten nicht als Referenz. Man muss sich auf Erfahrungen stützen, die mit Berechnungen oder vielleicht sogar mit Kontrollmessungen gemacht wurden. Einstürze von fertigen Bauwerken sind übrigens eher die Ausnahme. Eine ungenügende Bemessung führt in der Regel nicht gleich zum Einsturz. Häufiger sind Einschränkungen der Gebrauchs­tauglichkeit. Ausserdem laufen Bauzustände eher Gefahr, bei der Bemessung vergessen zu werden. Aus diesem Grund ist es wichtig, die einzelnen Bauzustände systematisch anzugehen und alle Gefährdungsbilder zu erfassen. Dies ist wiederum eine Termin- und Honorarfrage. Mehr Geld heisst mehr Zeit. Wenn ich die Zeit habe, sorgfältiger nachzudenken, dann komme ich auch auf die relevanten Gefährdungsbilder. Wenn ich aber alles in Rekordzeit durchpauken muss, dann ist das Risiko grösser, dass ich das eine oder andere Gefährdungsbild übersehe.
Jürg Gasche: Zu beachten ist, dass rein juristisch gesehen sogar der Fachmann, der gratis arbeitet, trotzdem verpflichtet ist, sorgfältig zu arbeiten. Die Relation zwischen Honorar und Denkkapazität gibt es aus rechtlicher Sicht nicht. Wenn etwas passiert und die Untersuchung beginnt, werden die Juristen nicht zuerst sagen: «Aha, er hat nur 50 % vom üblichen Honorar erhalten. In diesem Falle müssen wir das Auge um zwei Viertel zudrücken.» Im Gegenteil, die Gesellschaft erwartet volle Sorgfalt in jedem Fall. Aber um der Sorgfaltspflicht nachzukommen, muss das Honorar stimmen. Man kann auch nicht einen Esel dazu bringen, eine Karre zu ziehen, ohne ihm jemals zu saufen zu geben!

Wie beurteilen Sie die derzeitige Honorarsituation in Bezug auf die Denkkapazität?
Walter Ramseier: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man mit den Honoraransätzen nach SIA 102 und den seit 2005 geltenden z-Werten klar kommt. Mit dem für mein Büro ermittelten Stundenansatz können wir die erwartete Leistung erbringen. Bei Ansätzen, die mehr als 10 % darunter liegen, gibt es ein Problem.
Erich Ramer: Im Tiefbau liegen die Honorare manchmal um 50 % oder mehr unter jenen, die man nach Honorarordnung ermitteln würde. Es gibt zwei Möglichkeiten, das zu erreichen. Ich kann einerseits weniger Leistung anstreben. Andererseits kann ich die Löhne der Mitarbeiter drücken und von ihnen verlangen, dass sie Gratisstunden leisten. Dann komme ich mit weniger bezahlten Stunden durch. Wenn Bezahlungen von nur 20 bis 50 % der empfohlenen SIA-Honorare angeboten werden, kann der Aufwand nicht einfach mit Rationalisieren und Erfahrung reduziert werden. Das birgt Risiken. Das sind zusätzliche Kostenrisiken neben den bereits angesprochenen Fehlerrisiken. Oft wird versucht, Zeit und somit Geld zu sparen, indem einfach weniger optimiert und sicherer bemessen wird. Der Bauherr hat dann zwar die teuren Bauten, hat aber ein paar Franken Honorar gespart.
Jürg Gasche: Das ist ein ganz wichtiger Ansatz, den Sie ansprechen! Man tut ein wenig mehr Eisen rein und dann hält’s. Das ist eine wichtige Relation: Was ist die Ersparnis am Ingenieur-Honorar in Franken und was die Bauverteuerung, die damit ausgelöst wird. Wenn klar dargelegt werden könnte, dass hier quasi eine Hebelwirkung besteht: Ein Franken gespartes Honorar bedeutet beispielsweise drei Franken teureres Bauen, dann müsste der Bauherr ganz klar sagen: «Dann legen wir lieber einen Franken drauf. Wir investieren zwar mehr in die Planung, das Bauen hingegen kostet uns weniger. Am Schluss haben wir insgesamt weniger ausgegeben!»
Walter Ramseier: Da staune ich jedes Mal wieder. Warum reiten die Bauherren auf den Honoraren rum? Es ist der kleinste Teil, gemessen an der Bausumme. Wenn sie eine gute Planerleistung haben, können sie wirklich Geld sparen.

Sind für Schadensfälle die Honorare der Grund allen Übels?
Walter Ramseier: Die niedrigen Honorare und Werklöhne sind bestimmt mit eine Ursache für das hohe Tempo, das auf den Baustellen vorgelegt wird. Das lässt das Risiko steigen. Meines Erachtens hat aber auch der Unternehmer grossen Einfluss darauf, einen Schaden zu verhüten oder zu verursachen. Dort sehe ich ein viel grösseres Gefahrenpotenzial als bei den Planern. Es sind die komplexen Zusammenhänge, aber auch die Schnittstellen in den Bauabläufen, die Fehler, Bauschäden und Unfälle forcieren. Zudem ist jeder Bau ein Prototyp. Das macht die Sache auch nicht einfacher.
Jürg Gasche: Wie konfrontieren denn Architekten den Bauherrn mit einem innovativen Projekt, das Prototyp-Charakter hat? Sagen sie dem Bauherrn: «Wenn Sie diese Lösung wollen, dann haben Sie etwas Spezielles, tragen jedoch mehr eigene Verantwortung»? Angenommen die Verantwortung wird nicht übernommen, zieht der Architekt dann eine konventionelle Lösung vor?
Walter Ramseier: Das machen Architekten nie, denn Architekten sind so ehrgeizig, dass sie das Risiko eingehen. Sie versuchen, sich in einem solchen Fall vielmehr abzusichern.

Innovation ist ein Risikofaktor. Stellen die Normen und Regelwerke heute eine Innova-tionsbremse dar?
Walter Ramseier: Als Innovationsbremse würde ich die SIA-Normen nicht bezeichnen. Es ist vielleicht so, dass sie das Bauen manchmal verkomplizieren. Der Aufwand, ständig auf dem neusten Wissenstand zu sein, ist verhältnismässig gross und sollte nicht unterschätzt werden.
Erich Ramer: Man kann sich nach gewissen Regeln auch ausserhalb der Norm bewegen, durch Versuche und Berechnungen nachweisen, dass der Sicherheit trotzdem Genüge getan ist. Normen sind darum eindeutig keine Innovationsbremse.
Jürg Gasche: Zur juristischen Absicherung müssen die Vereinbarungen ein Kapitel zu «Abweichungen von den Normen» enhalten. Ich empfehle bei Innovationen den Abweichungsvorgang, den darüber geführten Dialog zwischen Planer und Bauherr sowie die vom Bauherrn gefällten Entscheidungen akribisch zu dokumentieren.

Ist ein Schaden eingetreten, wird der Schuldige gesucht. Wer übernimmt die Verantwortung?
Walter Ramseier: Klare Richtlinien regeln die Verantwortung. Fehlen solche Richtlinien, kann in einem Schadenfall jeder am Bau Beteiligte in die Pflicht genommen werden. Als verantwortlicher Gesamtprojektleiter kann ich mich nur schützen, indem ich mich bei Spezialisten absichere.
Jürg Gasche: Der Gesamtprojektleiter hat eine Führungs- und Managementfunktion. Er ist verpflichtet kritische Fragen zu stellen und sich seriöse Entscheidungsgrundlagen zu verschaffen. Er darf sich nicht ohne weiteres auf das Urteil eines Spezialisten verlassen, wenn er keine Schuldzuweisung riskieren will.
Erich Ramer: Ich bin oft als Gesamtprojektleiter tätig und habe mit Spezialisten aus Fachgebieten zu tun, von denen ich selbst wenig oder nichts verstehe. Es würde mich stören, wenn der Richter mir ein Fachurteil zumessen würde, auf einem Gebiet für dessen Fragen ich einen Spezialisten zugezogen habe.
Wenn ich mich in die Rolle des Spezialisten versetze, masse ich mir an, für mich zu entscheiden, ob ich aus Erfahrung oder aus dem Bauch die Sachlage beurteilen kann oder, ob ich eine Berechnung brauche, um den Sachverhalt nachzuweisen. Wenn ich am Tisch sage: «Das ist für mich sonnenklar, das muss ich nicht noch einmal rechnen!», dann erwarte ich, dass mir der Gesamtprojektleiter das auch abnimmt. Umgekehrt muss sich der Gesamtprojektleiter auch darauf verlassen können, wenn sein zugezogener Spezialist behauptet: «Jawohl, ich habe mir das jetzt gerade überlegt, es ist für mich klar.»
Sie haben schon recht, ich bin auch der Meinung, der Gesamtprojektleiter muss nachfragen. Wenn dieser dafür aber immer eine Berechnung auf Papier verlangen müsste, würde mir dies zu weit gehen.
Jürg Gasche: Würde es Ihnen als Spezialist zu weit gehen oder würden Sie als Gesamtprojektleiter nicht so weit gehen wollen?
Erich Ramer: In beiden Rollen. Ich bin der Meinung, der Spezialist muss in der Lage sein, zu entscheiden, ob er eine Berechnung braucht, um etwas zu beurteilen oder ob er es ohne Berechnung nachweisen kann.

Die fehlende Fachkenntnis ist die eine Seite. Wer übernimmt die Verantwortung, wenn Aufgaben aus Kapazitätsgründen abgegeben werden?
Jürg Gasche: Man kann ja niemals alles selber machen. Wenn man aber aus Kapazitätsgründen eine Aufgabe delegiert, so trägt man die volle Verantwortung. Immer.
Erich Ramer: Es kommt ausserdem darauf an, wie man das Arbeitsverhältnis mit dem Auftraggeber vertraglich geregelt hat. Werden separate Verträge abgeschlossen, ist in jedem Vertrag auch eine gewisse Verantwortung zugewiesen. Hoffentlich eindeutig und ohne Lücken und Überschneidungen. Im Auftragsrecht hafte ich hingegen nur für die sorgfältige Auswahl des erlaubterweise zugezogenen Subplaners.

Wie sehen Massnahmen gegen die vorhandenen Fehlerrisiken aus? Sind Prüfingenieure eine Lösung?
Erich Ramer: Das kann für den projektierenden Ingenieur sehr bequem sein, denn dann übernimmt der Prüfingenieur einen Teil der Verantwortung.
Jürg Gasche: Wollen Sie das wirklich?
Erich Ramer: Eigentlich nicht. Das hat natürlich zur Folge, dass man in einem Fall, in dem ein Prüfingenieur mitwirkt, seine Statik in einer ganz bestimmten Form aufbereiten und abgeben muss. Andererseits aber hat der Prüfingenieur ein Auge darauf, ob alle massgebenden Fälle berücksichtigt sind. Jeder Prüfingenieur hat seine primäre Aufgabe in der Plausibilitätskontrolle, die er auf verschiedene Arten durchführt. So gesehen gibt es eine gewisse grössere Sicherheit gegen Schadenfälle. Allerdings kostet ein Prüfingenieur wiederum Geld und ich persönlich ziehe es vor, als Projektverfasser die finanziellen Mittel für eine sorgfältige Planung zur Verfügung zu haben.
Neben den Prüfingenieuren sehe ich als Massnahme auch das Beseitigen der Hauptfehlerquellen. Vor allem den oft politisch bedingten Termindruck und die harte Selektion auf Grund des tiefsten Preises.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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