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TEC21 2007|08
Protesen
TEC21 2007|08
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Künstliche Glieder

Künstliche Glieder hat sich der Mensch immer schon geschaffen – zur Kompensation seiner anatomischen Primitivität. Doch was als Befreiung vom morphologischen Korsett ins Werk gesetzt wurde, erweist sich als Regression.

19. Februar 2007
Prothesen ersetzen Körperteile oder dehnen deren natürliche Funktionen aus: ob eine antike Zehprothese als Ersatz für den Verlust und zum Bewahren der Fähigkeit zur Fortbewegung (Bild 1) oder geschliffene Berylle zur Schärfung der Sehkraft im Mittelalter. Wo ihre Handfertigkeit nicht mehr ausreichte, haben sich die Menschen Mischgestalten aus Mensch und Tier ersonnen:
«vogelköpfige Menschen, Menschen mit Flügelpaaren, Vogel- und Fischmenschen (...), stirnäugige Riesen» [1].Hugo Härings Aufzählung wären Kentaur, Minotaurus, Sphinx hinzuzufügen (Bild 2).
Mit der Technisierung werden diese Mischwesen obsolet: «Der Sinn aller Technik ist das Werkzeug, die Prothese (...). Die Prothese (...), das ist das ablegbare Gliedorgan, das dem Menschen in der Entwicklung seiner anatomischen Gestalt die endgültige Befreiung brachte von der Notwendigkeit der Ausbildung körpereigener Organe zur Steigerung seiner Kampfkraft und seiner Leistungen im Laufen, Schwimmen, Fliegen, im Sehen und Hören. Die Prothese gestattete dem Menschen in anatomischer Primitivität zu verharren (oder zu anatomischer Primitivität sich zurückzubilden?), sich der Spezialisierung zu entziehen (...). Der Mensch (...) erreicht durch Prothesen Mannigfaltigkeit und Vielfalt der Leistungen und ein Ausmass derselben, das er bei der Ausbildung körpereigener Organe nie hätte erreichen können.»[2]

Dass sich der Mensch Prothesen anschnallt, ist ein Thema des 20. Jahrhunderts – Le Corbusier ist ihr bekanntester Verfechter: «Wir brauchen alle Mittel, um unsere natürlichen Fähigkeiten zu ergänzen (...); wir sind nackt geboren mit ungenügenden Waffen. (...) Das Fass des Diogenes, bereits eine Verbesserung unserer natürlichen schützenden Organe (Haut und Haar), gab uns die ursprüngliche Zelle des Hauses. (...) Unser Interesse gilt den mechanischen Systemen, die uns umgeben, die nichts anderes sind als eine Erweiterung unserer Gliedmassen, ihre Elemente, künstliche Glieder.»[3]

Architektur – ausgedrückt in «Haut-und-Knochen-Struktur» – wird zum Ersatz-Körper. Eine illustrative Beschreibung dieser Körperhaftigkeit liest sich bei Wolfgang Meisenheimer: «In einer Fassade wird die Bekrönung, das Dach als Kopf ‹gelesen›, der Sockel als Fuss. Gesimse sind wichtige ‹Körper-Horizonte› und markieren die Gliederhaftigkeit im Oben- und Unten-Verhältnis, das das Stehen auf der Erde ordnet.» Auch in den Details ortet Meisenheimer Körpermerkmale: Eingang und Ausgang, innerer Kern und äussere Haut, Schwellen, Filter und Schleusen, tragendes Gerüst und eingebettete Weichteile. Und er plädiert für eine Architektur, die bestimmte Bauteile wie Organe und Oberflächen wie Haut ausbildet, die altert: «Architektur zum Sehen, Hören, Tasten, Riechen.»[4]

Aber die Entwicklung geht weit darüber hinaus. Die Technik ahmt die Natur nicht mehr nur nach, wie es die organische Architektur anstrebte. Sie versucht mit ihr zu verschmelzen, die Grenzen zwischen natürlich und künstlich aufzuheben. Jacques Herzog und Pierre de Meuron wollen Architektur lebendig machen: «Wir glauben, dass Architektur mit dem Leben verschmelzen sollte, das Künstliche mit dem Natürlichen, das Mechanische mit dem Biologischen.»[5]
Die Gebäudehülle wird zum Organ, das nicht nur Kühlung, Atmung, Wasserabstossung (Lotuseffekt) gewährleistet, sondern von Nervensträngen und Blutbahnen durchzogen ist, wie in Werner Sobeks und Markus Holzbauers Projekt aus textilen Membranen «Paul» [6].

Der Traum aber ist, auch geistige Funktionen des Körpers in Architektur überzuführen, das Gebäude als kommunizierendes Wesen zu etablieren, als interaktives Beziehungsobjekt des Menschen.

Einer, der diese Dimension à fonds auslotet, ist Lars Spuybroek (NOX). Er entwirft Bauten, deren Geometrie sich in Abhängigkeit «äusserer» Einflüsse generiert, wie etwa der Wasserpavillon H2Oexpo in Neeltje Jans (NL, 1993–1997). Er installiert, wie im Projekt «The Future» für die Expo 02, Licht-, Temperatur-, Drucksensoren, die auf die Menschen, die sie bevölkern, reagieren, die registrieren, wo sie sich befinden, wohin ihre Blicke schweifen. Sie steuern den Zugriff auf eine Datenbank mit Bildern, die sie auf die Brillen (erneut Prothesen) projizieren, mit denen die Besucher ausgestattet sind (Bild 4). Die Prothese steuert die Prothese. Sie ist nicht künstliches Glied, die eine Schwäche der Sehkraft korrigiert oder ihren Verlust ersetzt, sondern sie manipuliert die Wahrnehmung selbst. Die Prothese, die der Mensch dank seiner Hirnleistung ersann, substituiert nun auch diese.

Und: Die Technik hat die Mischwesen (Bild 5) mitnichten in den archäologischen Reliquienschrein verbannt – im Gegenteil: Sie erfahren ein Revival als Cyborgs.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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