Bauwerk

Kindertagesheim
Johann Georg Gsteu - Wien (A) - 1995
Kindertagesheim, Foto: Monika Nikolic
Kindertagesheim, Foto: Monika Nikolic

Kinderwelt mit Blechvorhang

Kein „Architekturfetisch“ sollte er werden, aber auch kein verkitschtes Zwergerlidyll: Johann Georg Gsteus Kindergarten im Zentrum des Wiener Neubaugebiets „Brünner Straße West“ - ein Haus als Weg und Platz.

2. Dezember 1995 - Liesbeth Waechter-Böhm
Das große Neubaugebiet an der Wiener Brünner Straße, unmittelbar vor Stammersdorf gelegen, also dicht an der Stadtgrenze, geht in rasantem Tempo seiner Fertigstellung entgegen. Aber vor allem wenn man den Blick auf jenen Bauteil lenkt, der sich „Brünner Straße West“ nennt, wird man darüber nicht froh. Denn im Vorüberfahren und aus der Ferne gewinnt man den deprimierenden Eindruck, daß hier Häuser, hauptsächlich Wohnhäuser, einfach abgestellt worden sind. Man könnte es auch die „Abwesenheit“ von Städtebau nennen.

Man muß schon sehr viel näher treten und in der Anlage herumflanieren, um dahinterzukommen, daß es zumindest einen Ort gibt, der als Zentrum, als städtebauliche Mitte, definiert ist. An diesem Platz kreuzen sich zwei Fußwege, die das Areal erschließen – einer davon wird über einen Steg, der hier gebaut werden soll, die beiden durch die unverbaute „grüne“ Mitte des Marchfeldkanals getrennten Bauteile miteinander verbinden. Um diesen Platz sind aber auch jene Bauten organisiert, die gewisse öffentliche Funktionen erfüllen: Otto Häuselmayers Kirche, eine große Schule der Architekten Hübner und Leibetseder – und jetzt auch ein Kindergarten von Johann Georg Gsteu.

Der Kindergarten befindet sich unmittelbar neben der Kirche und gegenüber der Schule, wobei Gsteu auf die städtebaulichen Vorgaben der konkreten Situation mit einer leichten Schrägstellung jenes Baukörpers, der die Verwaltungsräume enthält, reagierte.

Dadurch gelingt es ihm, den urbanen, gepflasterten Platz visuell in seinen Kindergarten hereinzuholen, was der Situation insgesamt guttut. Denn im Unterschied zu den beliebigen, irgendwie kleinlichen Abstandsflächen zwischen der Wohnbebauung im Hintergrund ist die Platzsituation davor nicht nur sehr klar definiert, sondern auch großzügig.

Der Kindergarten ist ein weißer Mauerwerksbau, der dem Platz eine sehr ruhige, sachliche Fassade zukehrt. Hier liegt der niedrigere, leicht schräg gestellte Verwaltungstrakt, hier ist der Eingang, und von hier sieht man auch schon die lange, geschwungene Rampe, die aus dem Obergeschoß einen direkten Austritt in den Garten ermöglicht.

Schließlich – und das ist wichtig: Der Kindergarten ist von einer großen, gegliederten, in der Hauptsache nach Süden zum Marchfeldkanal orientierten Grünfläche umgeben. Nach Süden schaut daher auch die – wenn man so will: spektakuläre – Hauptfassade des Bauwerks. An ihr fällt sofort die ungewöhnliche Lösung mit zwei semitransparenten „Blechvorhängen“ auf, die sich vom Dachbereich bis zum Boden herunterziehen, jeweils abgestützt durch einen blau gestrichenen Träger und mit einer Art „Fensteröffnung“ in der Mitte. Und es fallen drei unterschiedliche Fenstergrößen an dieser Fassade auf, die sich in schöner Regelmäßigkeit wiederholen. Was es damit auf sich hat, ist schnell beschrieben: Hinter dem Blechvorhang – es handelt sich um Aluminiumlochblech – liegt im Obergeschoß jeweils eine große, gedeckte Terrasse, also ein zusätzliches Freiraumangebot. Und hinter den scheinbar willkürlich verwendeten unterschiedlich großen Fenster liegen die Gruppenräume, in denen Gsteu durch Abtrennung verschiedener Nebenräume (etwa Abstellflächen) keine durchgehend gleiche Raumtiefe erzielt.

Das drückt sich auch nach außen sichtbar aus: Wo die Gruppenräume die geringste Raumtiefe haben, ist das kleinste Fenster. Man betritt das Haus an der Nordseite, vom Vorplatz her. Durch die Schrägstellung des Verwaltungstraktes ergeben sich Richtung Westen zwischen Verwaltung und eigentlichem Kindergartentrakt ein kleiner offener Hof und im Osten eine einladende Eingangshalle.

In der Eingangshalle ist man auch zum ersten Mal mit einer Besonderheit des Hauses konfrontiert, die sich ebenfalls aus der Schrägstellung des einen Baukörpers erklärt. Man schaut geradewegs in einen Gang hinein, der konisch schmäler wird. Durch diese Verengung erreicht Gsteu eine spannende perspektivische Tiefenwirkung, die durch ein besonders formuliertes Fenster auch jeweils einen adäquaten Abschluß erhält: Denn der Gang ist zwar zu Ende, aber der Blick kann noch sehr viel weiter schweifen. Noch eine zweite Besonderheit, die Gsteu im ganzen Haus konsequent durchgezogen hat, wird gleich beim Betreten sichtbar: die abgehängten Decken, die überall aus Aluminiumtrapezlochblech bestehen.

Genau wie bei den Stationsgebäuden der U 6 hat der Architekt sich auch hier wieder für das sogenannte Einziehverfahren entschieden, mit dem man die Blechbahnen beliebig, aber sehr exakt biegen kann. Das führt zum Beispiel in den konischen Gängen zu interessanten Detaillösungen, fast zu einer Art Ornamentik, die aber nicht bloßer Dekor, sondern durch die Verarbeitungstechnologie begründet ist.

Überhaupt war die markante Lösung dieser abgehängten Decken kein bloßer Willkürakt: Abgehängte Decken sollten es allein schon deshalb sein, um einen Zugang zu den dahinter geführten Leitungen zu erhalten. Zusätzlich ist die Wahl dieses Materials aber auch als Akustikmaßnahme begründet. Denn das Lochblech, hinter dem sich obendrein noch eine Akustikmatte verbirgt, hat durch seine Oberflächenstruktur ganz ähnliche Eigenschaften wie die herkömmlichen Lochpaneele, die normalerweise in einem solchen Fall verwendet werden. Gsteu sagt ja von seinem Haus, daß es „kein Architekturfetisch“ werden sollte, andererseits aber auch keine verkitschte Zwergerlwelt. Mit dem Hinweis auf den Architekturfetisch meint er wohl, daß es ihm nicht darum ging, ein Architekturstatement in nur eine Richtung abzugeben. Das heißt: Nach einer spektakulären Glasfassade wird man hier genauso vergeblich suchen wie nach irgendeinem demonstrativen konstruktiven Detail – oder was immer es an selbstzweckhaften

Möglichkeiten in der Architektur heute sonst noch gibt. Gsteu hat also absichtsvoll alles vermieden, was sein Bauwerk über die zeitgemäße Lösung hinaus in den Verdacht des Modischen bringen könnte.

Sein Hauptaugenmerk galt wohl eher der sinnvollen, brauchbaren, dabei aber abwechslungsreichen, spannenden räumlichen Organisation. Allein schon die Erschließung durch ein Treppenhaus, in dem Podeste auch zum Aufenthalt auffordern, in dem sich eine Vielzahl von Durch- und Ausblicksmöglichkeiten ergibt, ist angewandter Josef Frank: das Haus als Weg und Platz. In den Gruppenräumen kommt es durch die räumlichen Abtrennungen zu Nischenbildungen, Ecken und Winkeln, ohne daß die großzügigen Räume dadurch beengt oder gar kleinlich würden.

Das wiederum hat damit zu tun, daß die abgetrennten Raumteile oben verglast sind, sodaß immer auch die ganze räumliche Figur spürbar, ablesbar bleibt. In einer Raumecke dieser Gruppenbereiche hat sich Gsteu übrigens an der Decke ein einziges Mal wirklich ein „Ornament“ erlaubt, indem er die Verlegerichtung des Trapezlochblechs wechselt und so mit einer Eigenschaft dieses Materials – es suggeriert eine Richtung und damit auch Tempo, Geschwindigkeit – fast ein wenig spielt.

Zwergerlwelt gaukelt uns dieser Kindergarten jedenfalls keine vor. Und auch keine Bunte-Bildchen-Seligkeit: Das Haus selbst ist weiß; abgesehen von der Aluminiumfarbe des Trapezlochblechs gibt es im Inneren nur die Farbe Blau – etwa bei manchen Lampen oder beim Stiegengeländer –, außen kommen noch grüne Farbtupfer dazu. Gsteu hat die Aufgabe, für Kinder zu bauen, nicht einseitig behandelt, sondern auf angenehme Weise ernst genommen. Daher ist das Resultat auch nicht niedlich oder bieder ausgefallen, sondern vernünftig, funktionell und vor allem intelligent.

Das Angebot, das Betreuern und Kindern mit diesem Haus unterbreitet wird, ist unerhört vielfältig. Und dann kommen zu den Gruppenräumen und den zusätzlichen räumlichen Aufforderungen zum Aufenthalt ja noch die großzügigen, gedeckten Freiflächen im Obergeschoß und natürlich der Garten. Dadurch, daß dieser zum Grünbereich des Marchfeldkanals orientiert und nur durch einen Gitterzaun begrenzt wurde, wirkt er noch größer, als er in Wahrheit ist. Unter der geschwungenen Rampe, die zwar zum Teil geböscht, zum Teil aber auch aufgeständert ist, ergeben sich Schlupfwinkel für die Kinder.

Es gibt ein – allerdings eher unwesentliches – Detail an diesem Haus, über dessen formale Ausbildung man streiten kann: Gsteu hat außen über den Fenstern Jalousiekästen angebracht, an denen das Motiv des gebogenen Trapezblechs wiederholt wird.

Und das heißt: Die Biegung hat nur einen ziemlich kleinen Radius und – bedingt durch die Biegetechnik – entsprechend dichte Druckstellen, die diesen ohnehin schmalen Blechstreifen sehr kleinteilig ornamentieren. Von der Anwendung her ist diese Lösung zweifellos konsequent, formal überzeugen kann sie wohl nicht: Sowohl Material als auch Verarbeitungstechnologie sind für „größere“ Flächen besser geeignet, bei den Jalousiekästen wirken sie ein wenig verspielt. Da hätte es eine simple, eher strenge Vorrichtung auch getan.

Trotzdem: Für die städtische Mitte der gewaltigen Wohnbebauung an der Brünner Straße West hat Gsteu nach Häuselmayer, Hübner und Leibetseder mit seinem Kindergarten einen wichtigen Beitrag geleistet. Denn er hat gezeigt, daß sich Signifikanz in der Architektur nicht nur durch die gewollte formale Lösung, sondern auch durch ein komplexes räumliches Konzept realisieren läßt.

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