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db deutsche bauzeitung 07|2012
Auf Reisen
db deutsche bauzeitung 07|2012

Haus der Geschichten

Die »Casa do Conto« in Porto (P)

2. Juli 2012 - Roland Pawlitschko
Zunächst einmal ist da nur die elegante, aber eher unscheinbare Straßenfassade eines für Porto typischen bürgerlichen Wohnhauses des 19. Jahrhunderts. Wie bei vielen seiner schmalen Nachbargebäude zwischen der wunderbaren Casa da Música von OMA und der quirligen Altstadt prägen auch hier drei Fensterachsen und blau-weiße Fliesen das Bild. Erst bei genauerem Hinsehen fallen hinter einer Balustrade im 2. OG ungewöhnlich große Glasschiebefenster sowie ein rechteckiger Dachaufbau mit Wellenstruktur auf. Dass es sich hierbei um Sichtbetonwellen handelt und nicht – wie bei solchen Aufbauten meist üblich – um angestrichenes Wellblech, ist bestenfalls mit dem Fernglas zu erkennen. Weder an der Eingangstür noch irgendwo sonst an der Fassade gibt es Hinweise darauf, dass es sich hier um ein kleines Hotel mit sechs Zimmern handelt. Dieses Gebäude produziert sich nicht, es will, wenn überhaupt, in Ruhe erlebt werden.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Schon beim ersten Blick in die erleuchteten Räume mit ihren reliefartig in die Sichtbetondecken eingelassenen Text-, Buchstaben- und Zeichenformationen wird klar, dass hier vieles anders ist als es scheint. So handelt es sich bei der Casa do Conto mitnichten um ein historisches Gebäude, sondern ganz offensichtlich um einen Neubau hinter alten Mauern. Mit dieser Irritation im Hinterkopf öffnen Hotelgäste eine schwere Holztür, lassen das Durcheinander der Rua Boavista hinter sich, steigen im Innern einige Stufen ins Hochparterre empor und erreichen einen offenen Empfangsbereich, der sich als Mischung aus Lounge und Büro darstellt. Ein erster Rundumblick offenbart einen ebenso harmonischen wie anregenden, bis ins kleinste Detail stimmigen Mikrokosmos, einen eigentümlichen Dialog aus eleganten alten und neuen Möbeln, opulenten Spiegeln, großflächig weißen Wänden und kühlem Sichtbeton.

Nicht selten trifft man gleich hier auf Alexandra Grande, die junge Eigentümerin, Managerin und Planerin des im Juni 2011 eröffneten Hotels. Von der Geschichte des Gebäudes, die zugleich ihre ganz persönliche ist, erzählt sie mit großer Leidenschaft. Und das, obwohl sie sich spätestens seit der letzten November-Ausgabe des Designmagazins Wallpaper immer öfter mit den Fragen von Gästen und Architekturtouristen konfrontiert sieht – im Rahmen des Titelthemas »Top 20 Reasons to be in Portugal« hatte das Hotel dort den bemerkenswerten fünften Platz erreicht.

Phönix aus der Asche

Eigentlich sollte alles ganz anders kommen. Ein privater Bauherr hatte Grande und ihr Architekturbüro Pedra Líquida – wörtlich: flüssiger Stein – 2008 beauftragt, das historische Wohnhaus für sich und seine Familie zu adaptieren. Noch während der Planungsphase gab er das Projekt allerdings auf, woraufhin sich für Grande die Gelegenheit ergab, das Gebäude zu kaufen, um es mit bescheidenem Budget in eine kleine aber feine Herberge zu verwandeln – nicht zuletzt für Gäste, die eine ästhetische, authentische und eher familiäre Atmosphäre den immergleichen Hotels globaler Ketten vorziehen. Zugleich sollte das Haus aber auch einen neuen Treffpunkt in der Kulturszene Portos etablieren. Eine sogenannte Pecha Kucha-Nacht und viele andere Events hatten auf der Baustelle und im rückwärtigen Garten bereits stattgefunden, als im März 2009, wenige Tage vor der feierlichen Eröffnung, ein verheerendes Feuer zwar das liebevoll modernisierte Gebäude, nicht aber die positive Grundeinstellung Alexandra Grandes zerstörte. Noch bei der ersten Besichtigung des aus ungeklärter Ursache bis auf die Garten- und Straßenfassade komplett niedergebrannten Gebäudes entschloss sie sich, das Projekt mit einem bankfinanzierten Budget von rund 320 000 Euro zu vollenden.

Gemeinschaft auf Zeit

Während die zwischen die Nachbargebäude eingeklemmten Außenfassaden allein aus Denkmalschutzgründen sehr sorgfältig wiederhergestellt wurden (ohne dabei die feuerbedingten Abplatzungen der Natursteinlaibungen zu kaschieren), entsprechen Grundrissaufteilung und Geschosshöhen des neuen, inneren und mit den Außenfassaden verzahnten Betonkörpers nur noch prinzipiell dem Vorgängerbau. Die zu jeder Gebäudeseite in den drei OGs situierten Zimmer begrenzen zwar nach wie vor einen zentralen Treppenraum mit Oberlicht. Um zwei turmartige Sichtbetonkörper mit Nebenräumen bzw. einem Aufzug erweitert, nimmt dieser jedoch nun deutlich mehr Platz in Anspruch als zuvor. Besonders ins Auge fallen die diagonale Schalungsstruktur der beiden »Türme«, eine Reminiszenz an die einst ebenso verschalten Holzwände des Altbaus, und die großen Glasfelder in den Zimmerwänden. Einerseits leiten diese mit Drehtüren schließbaren Öffnungen zusätzliches Tageslicht in die Zimmer, andererseits ermöglichen sie die Kommunikation zwischen den privaten Zimmern und dem quasi öffentlichen Treppenraum. Sind andere Gäste schon oder noch wach? Wie sehen deren Zimmer aus? Welche Reliefs befinden sich dort an der Decke? Fragen wie diese kommen auf, wenn man die Treppe bis hinunter zum Frühstücksraum läuft. Und tatsächlich: Spätestens nach dem ersten Frühstück kennt man alle anderen Gäste und fühlt sich unversehens als Teil einer Gemeinschaft auf Zeit. ›

Schwebende Buchstabenkunst

Bis auf eine Ausnahme mit einer kleinen Küchenzeile ausgestattet, sind sich die einzelnen, zurückhaltend eleganten Zimmer grundsätzlich sehr ähnlich: weiße Wände, grauer, geschliffener Estrich, jeweils ein großer weicher Berberteppich, teils alte, teils von Grande selbst entworfene Möbel, ein jeweils am Rand als eigenständiger Sichtbetonkörper platziertes Bad. Am charakteristischsten sind freilich die Decken, die sich in ihrer Ornamenthaftigkeit als zeitgenössische Interpretation der mit feinen Stuckornamenten verzierten Altbaudecken verstehen. Die Buchstabenreliefs basieren auf eigens geschaffenen Texten befreundeter Künstler, Designer und Architekten, die mit dem ursprünglichen Projekt auf unterschiedliche Weise vertraut waren und nach deren Initialen schließlich auch die Zimmer benannt wurden. Für die in jedem Raum eigenständige grafisch-künstlerische Umsetzung sorgte das Design Studio R2, sodass sich die Gäste heute vor dem Einschlafen mit ästhetisierten Wortspielen rund um Le Corbusiers Satz »la maison est une machine à habiter«, wild verstreuten Zeichen und Buchstaben oder längeren Fließtexten auseinandersetzen können. Worum es dabei im Einzelnen geht, ist leider nur schwer nachzuvollziehen, weil es bislang keine Übersetzungen gibt.

Mit Poesie und Gelassenheit

Dass manche Geschichten zwar wahrgenommen, aber nicht gelesen werden können, schadet der sinnlichen Atmosphäre ebenso wenig wie die Tatsache, dass der gesamte Entwurf auf sehr subjektiven und damit immer auch angreifbaren Kriterien basiert. Diese positive Aura entsteht dadurch, dass es im ganzen Gebäude grundsätzlich nichts gibt, was sich den Gästen in irgendeiner Form aufdrängen würde. Stattdessen präsentieren sich Alt und Neu in diesem Hotel wie aus einem Guss und mit großer Gelassenheit. Das zeigt sich in Grandes Überzeugung, dass »alles seine Bedeutung hat« – der verheerende Brand also einfach nur Teil eines irgendwie sinnhaften Gesamtprozesses ist. Es zeigt sich aber auch bei den Buchstabenkunstwerken: Als es etwa einige der als Formgeber auf die Schalung geklebten Styrodur-Zeichen beim Einfüllen des besonders flüssigen Betons wegriss, kam es weder zum Baustopp noch zu gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Bauunternehmer. In manchen Fällen wurden fehlende Buchstaben kurzerhand in erhabener Form ergänzt, während sie anderswo einfach fehlen und bis heute irgendwo im Innern des erstarrten Betons schwimmen – gleichsam als eine der vielen unentdeckt gebliebenen Geschichten.

Gesellschaft statt Kommerz

Die bemerkenswerte Auslastung dieses Hotels von derzeit stattlichen 80 bis 90 % beruht ganz wesentlich auf dem Selbstverständnis Grandes, nicht einfach nur ein architekturgewordenes Statement zu schaffen, sondern – im Gegensatz zu seelenlosen Design-Hotels – ein lebendiges Gesamtkunstwerk. Und dazu gehören die gelegentlichen Lesungen, Konzerte und Events auf der kleinen Bühne im Garten oder im »Wohnzimmer« auf der Gartenseite des Hochparterres ebenso wie die temporär im Haus verteilten Kunstinstallationen und Bilder. Zusätzlich soll ab dem Sommer alljährlich ein Künstler die gesamte freie Wandfläche im Treppenraum gestalten dürfen, während jeden November ein Kreativer bei freier Kost und Logis eingeladen wird, hier zu arbeiten.

Angesichts der durchwegs positiven Resonanz von Gästen aus der ganzen Welt, die hier einschließlich eines fantastischen Frühstücks zwischen 98 und 138 ausgesprochen verträgliche Euro pro Zimmer und Nacht (egal ob als Einzel- oder Doppelbelegung) bezahlen, ist es nicht verwunderlich, dass Alexandra Grande bereits unzählige Anfragen zur Realisierung vergleichbarer Hotels erhielt. Diese hat sie allerdings ausnahmslos abgelehnt, schlicht, weil dieses Konzept tatsächlich nur mit dieser Vorgeschichte und nur an diesem Ort realisierbar ist. Möglicherweise wird es aber eines Tages eine Erweiterung der Casa do Conto ins Nachbarhaus geben – in ein vom Feuer verschontes, weitgehend im Originalzustand erhaltenes Zwillingsgebäude.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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