Zeitschrift

db 11|2013
Schwarz
db 11|2013

Schwarzer Diamant

Festspielhaus in Erl (A)

Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht so aussieht – der dunkle, kantige Neubau der »Tiroler Festspiele Erl« ist keineswegs eine autistische Bauskulptur, sondern das feinsinnig in die Berglandschaft eingebettete Pendant zum weißen Passionsspielhaus der 50er Jahre. Ebenso wie dieses ist auch das neue Festspielhaus ein Ort des reinen und auf das Wesentliche konzentrierten Musikgenusses.

11. November 2013 - Roland Pawlitschko
Erl wäre ein Dorf wie jedes andere, wenn die Dorfbewohner nicht seit dem 17. Jahrhundert jeden sechsten Sommer ihre Passionsspiele veranstalten würden. Den festlichen Rahmen hierfür bildet der weithin sichtbare, von Robert Schuller 1957-59 ganz in Weiß geplante Rundbau, dessen schneckenförmig verdrehter Bühnenturm auf elegante Weise die Baumasse eines 1500 Personen fassenden Zuschauerraums kaschiert.

Dass 2007 ein internationaler Architektenwettbewerb für einen weiteren Konzertsaal ausgelobt wurde, obwohl der zwischen Kufstein und Rosenheim am Inn gelegene Ort bereits mehr Theaterplätze als Einwohner zählte, hat mit der ganz persönlichen Passion von Gustav Kuhn zu tun. Fasziniert von der nachkriegsmodernen Authentizität und der großartigen Akustik des bis dahin nur alle sechs Jahre genutzten Passionsspielhauses, gründete der weltweit tätige Dirigent, Komponist und Regisseur 1997 die »Tiroler Festspiele Erl«. Wesentliches Merkmal und Erfolgsfaktor seiner Aufführungen sind sowohl die requisitenarmen und puristisch-handwerklichen Inszenierungen, die – anders als im Regietheater – ganz ohne Knalleffekte auskommen, als auch die volle Konzentration auf das Wesentliche: die Musik. Wegen des wachsenden Publikumsandrangs, u. a. bei den Opern Richard Wagners, sowie angesichts des nicht beheizbaren Altbaus mit unzureichenden Nebenräumen, entwickelte er schon bald die Idee, den Festspielbetrieb mithilfe eines neuen »Winterfestspielhauses« auszudehnen und zu professionalisieren. Überhaupt denkbar wurde dieser Wunsch freilich erst, als sich 2004 mit Hans Peter Haselsteiner, dem kunstsinnigen Chef eines österreichischen Bauunternehmens, ein Mäzen fand, der letztlich 20 der 36 Mio. Euro Baukosten plus Betriebskosten stiftete und dennoch keinerlei Ambitionen hatte, sich in die Arbeit Kuhns oder der Architekten einzumischen.

Ungleiche Zwillinge

Der von der Tagespresse für den anthrazitfarbenen Neubau gern ins Spiel gebrachte Spitzname »Tarnkappenbomber« weckt Assoziationen an ein in der dörflichen Idylle gestrandetes Ufo. In Wirklichkeit bilden Passions- und Festspielhaus vor der durchgängigen Bergwaldkulisse ein wunderbar harmonierendes Ensemble der Gegensätze und Gemeinsamkeiten. In respektvollem Abstand zueinander begegnen sich Alt- und Neubau auf Augenhöhe und erscheinen jeweils einzigartig: einer geschwungen, der andere kantig, einer eher hoch, der andere flach, einer weiß, der andere fast schwarz. Nach Vorstellung der Architekten Delugan Meissl tritt das Festspielhaus zur Sommerspielzeit eher in den Hintergrund, während das alte, weiße Gebäude vor dem dunklen Wald geradezu leuchtet. Im Winter hingegen kehrt sich die Situation um: dann steht das Winterfestspielhaus vor weißer Schneelandschaft im Rampenlicht. Dass dieses Konzept nicht ganz aufgeht, liegt zum einen daran, dass der Konzertsaal auch im Sommer bespielt wird, zum anderen spiegelt sich insbesondere bei Nässe der helle Himmel in den Dachflächen, die im Winter überdies so tief verschneit sind, dass auch das Festspielhaus größtenteils weiß erscheint.

Diese Unschärfe wiegt jedoch keineswegs so schwer, dass sie der Idee der ungleichen Zwillinge schaden könnte. Stattdessen werden auf diese Weise die Gemeinsamkeiten der beiden hervorgehoben: Beide liegen – leicht erhöht – am Fuß eines sanft ansteigenden Berghangs. Beide verfügen über weitgehend geschlossene Fassaden mit geringem Fensteranteil. Und beide erscheinen umso differenzierter, je mehr man sich ihnen annähert. So wird beim Festspielhaus schnell deutlich, dass die klare Großform nicht aus einem Guss ist, sondern sich aus Faserzementplatten zusammensetzt, die sich mit offenen Fugen und verdeckter Entwässerung gleichmäßig über alle Dachflächen verteilen. Die dunkelgrauen Platten mit hellen Sprenkeln sollten ein monolithisches, an ein Felsmassiv erinnerndes Erscheinungsbild, zugleich aber auch eine insgesamt relativ kostengünstige Lösung mit Standardmontagedetails ermöglichen. Grundlage für die Gliederung der Flächen bildete das Prinzip der Penrose-Teilung – eine Art der Kassettierung, die auf der aperiodischen Wiederholung von nur zwei Plattenformaten basiert. Gerade weil dieses Prinzip große Freiheiten bei der Entwicklung unregelmäßiger Muster erlaubt, gelang den Architekten nicht nur die Realisierung homogener Dachflächen mit ungerichtetem Fugenbild, sondern auch eine im Hinblick auf den unvermeidlichen Plattenverschnitt optimierte Lösung.

Dynamik und Ruhe

Der Eingang zum Festspielhaus befindet sich unverkennbar unter dem weit auskragenden Dachkörper, am Ende einer Freitreppe, die direkt auf eine breite, an Spielabenden atmosphärisch leuchtende Glasfuge zuführt. Im Innern erwartet die Besucher ein strahlend weißes, als sanft auf- und abwogende Landschaft konzipiertes Foyer. Wie in einer Schleuse können sie hier zur Ruhe kommen, den Alltag abstreifen und anschließend durch eine weitere Glasfront ebenerdig zum Passionsspielhaus oder aber direkt bzw. über das obere Foyer in den Konzertsaal gelangen. Der dynamischen Asymmetrie des Foyers folgt ein orthogonaler, geradezu statisch anmutender Zuschauerraum, der analog zum Passionsspielhaus als Parketttheater ohne Galerien oder seitliche Ränge konzipiert ist. Vollständig mit dunkel gebeiztem Akazienholz ausgekleidet, weckt der Raum mit gleichmäßig ansteigenden schwarzen Sitzreihen und 732 Sitzplätzen dabei Assoziationen an das Innere eines Streichinstruments, das nur darauf wartet, endlich erklingen zu dürfen. Dass hier tatsächlich die Musik im Vordergrund steht, wird spätestens beim Blick in den Orchestergraben deutlich. Mit 160 m² fast 40 m² größer als in der Wiener Staatsoper, sind selbst bei opulent orchestrierten Opern keine Platzprobleme zu erwarten. Wird der Boden des Orchestergrabens mit Hubpodien auf Parkettniveau angehoben und bestuhlt, finden im Konzertsaal bis zu 862 Personen Platz.

Massgeschneidert

Gemäß der im Wettbewerb von Kuhn definierten Vorgaben ist hier ein reiner Tempel für die Musik entstanden, in dem keinerlei Sprechtheaterstücke bzw. nichtmusikalische Events oder Kongresse stattfinden sollen. Die Akustik des Saals ließ sich daher perfekt auf Opern und Konzerte abstimmen. Außer drei Deckensegeln über dem Orchestergraben sind Wand- und Deckenelemente des Zuschauerraums unbeweglich. Bühnen- und Zuschauerraum sind nicht durch ein festes Portal voneinander getrennt, sondern bilden eine räumliche Einheit, sodass ein relativ großes, akustisch zusammenhängendes Raumvolumen für ein optimales Klangerlebnis sorgt. Ansonsten zeigt sich das Festspielhaus hinsichtlich seiner technischen Ausstattung eher schlicht: So gibt es zwar ein rechtwinkliges Hubpodium auf der Bühne und eine zeitgemäße Lichttechnik, jedoch keine computergesteuerten Bühnenmaschinerien, keinen hohen Schnürboden, keine Lautsprecheranlage und schon gar kein elektronisches Raumakustiksystem. Im Mittelpunkt von Kuhns Aufführungen stehen vielmehr ein authentischer »Naturklang« sowie Bühnenbilder und Schauspiele, die die Musik erläutern statt mit ihr in Konkurrenz zu treten.

Hybrides Tragwerk

Wer am Abend in der Pause eines solchen Musikerlebnisses auf den nach Westen orientierten Balkon des oberen Foyers tritt, blickt – zumindest bei gutem Wetter – direkt in eine Art Götterdämmerung in fantastischer Bergkulisse. Der Ausblick ist v. a. deshalb so imposant, weil er vom weit auskragenden Bauvolumen über dem Eingangsbereich überlagert wird. Dort und in den seitlich des Zuschauer- und Bühnenraums gelegenen OGs befinden sich jene Lager, Werkstätten, Büros, Neben-, Aufenthalts- und Probenräume, die im Passionstheater fehlten. Auf Grundlage des trotz expressiver Gebäudeform erstaunlich klaren Tragwerkskonzepts entstanden seitliche Gebäudeflügel, Zuschauer- und Bühnenraumwände in Stahlbeton, während die Auskragung und die Decke des Zuschauerraums als Stahl-Raumfachwerk ausgeführt wurden. Letztlich handelt es sich hierbei um eine Zweckkonstruktion, die sich – auch unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Aspekte – relativ frei im Raum zwischen der heute sichtbaren äußeren und inneren Hülle bewegt.

Beim Festspielhaus in Erl geht es Delugan Meissl nicht um abgehobene Theatralik oder kompromisslosen Detailfetischismus. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Übersetzung der Bauherrenanforderungen in eine Architektur, die perfekt auf die Gedankenwelt Gustav Kuhns zugeschnitten ist. Durch das überaus glückliche Zusammenspiel der Beteiligten aus Wirtschaft, Musik und Architektur ist hier gerade kein heimtückischer Tarnkappenbomber entstanden, sondern viel eher ein überaus seltener schwarzer Diamant, auf den die Einwohner Erls heute ebenso stolz sind wie auf ihre Passionsspieltradition.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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