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Profil

Studium der Architektur an der TU Wien und University of Michigan, USA.
Diplom 1991, Dissertationsstudium 2007–2010.
Architektin, Architekturpublizistin, Kuratorin. Regelmäßige Tätigkeit als Kritikerin für Fachzeitschriften und Die Presse, spectrum zu den Themen Architektur und Städtebau, Kulturgeschichte und Design. Zahlreiche Textbeiträge, Ausstellungen und Publikationen. Fulbright Guest lecturer 2015/16, University of Minnesota, USA.

Lehrtätigkeit

2001 – 2003 Lehrauftrag an der TU-Graz, Institut für Raumgestaltung, Vorlesung und Übung.
2015 – 2016 Fulbright Gastprofessur an der Universität Minnesota
Thema: „Comparative Urban Planning in Central Europe and in the United States. The Transfer of Cultural Knowledge through Different Urban Structures.“ Basierend auf den Forschungen für das Buch: „Lernen vom Raster – Strasshof an der Nordbahn und seine verborgenen Pläne“, Hg. Judith Eiblmayr, Neuer Wissenschaftlicher Verlag, Wien 2013.

Mitgliedschaften

1997 – 2003 Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur - ÖGFA.
2001 – 2003 Vorstandsvorsitzende der ÖGFA.
Mitgliedschaft bei ÖGFA und Zentralvereinigung der Architekten.

Publikationen

Bücher:

Elizabeth Scheu Close – Amerikanische Architektin mit Wiener Wurzeln
Judith Eiblmayr
Verlag Anton Pustet, 2025

Bad Gastein ab I an Iaufgebaut
Hg. Judith Eiblmayr, Philipp Balga
J&J edition, 2021, '22

Styria Media Center
Hg. ArchitekturConsult
Autorin: Judith Eiblmayr
erschienen im Juni 2015
Birkhäuser Verlag
ISBN 978-3-0356-0551-8

Tour de Palais
Hg. Iris Meder, Judith Eiblmayr
Grafische Gestaltung: grafisches Büro Wien
Günter Eder
erschienen im Mai 2015
ISBN 978-3-200-04141-7

Baukulturführer 79 - Musiktheater Linz
Hg. Nicolette Baumeister, München / Berlin
Autorin: Judith Eiblmayr
Büro Wilhelm. Verlag, Amberg, 2014
ISBN 978-3-943242-32-4

Lernen vom Raster – Strasshof an der Nordbahn und seine verborgenen Pläne
Hg. Judith Eiblmayr, mit Beiträgen von Erich Bernard, Günter Dinhobl, Judith Eiblmayr, heri & salli, Caroline Jäger-Klein, Franziska Leeb, Johanna Rainer, Manfred Russo und Fotografien: Philipp Balga
Grafische Gestaltung: Katharina Erich, www.katharinaerich.at
Titelidee: Katharina Erich und Judith Eiblmayr, Tribute to Robert Venturi und Denise Scott-Brown, „Learning from Las Vegas“, Cambridge 1972
erschienen im Oktober 2013
NWV - Neuer Wissenschaftlicher Verlag - Architektur
ISBN 9 783708 309439

Opera House. Musiktheater Linz
Terry Pawson & ArchitekturConsult / archinauten
Text Judith Eiblmayr
Idee, Konzept und Grafik: Katharina Erich, www.katharinaerich.at
Hg. ArchitekturConsult, erschienen im Mai 2013 bei Callwey
ISBN 978-3-7667-2050-4

HAUS HOCH – Das Hochhaus Herrengasse und seine berühmten Bewohner
Hg. von Judith Eiblmayr und Iris Meder
2. erweiterte Auflage erschienen 2013 bei Metroverlag
ISBN 978-3-902517-92-0

Der Donaukanal – Die Entdeckung einer Wiener Stadtlandschaft
Judith Eiblmayr / Peter Payer
erscheint im Mai 2011 bei Metroverlag
ISBN 978-3-99300-031-8

Die Österreichische Nationalbank und ihre Architekten
Dissertation am Institut für Kunstgeschichte, Bauforschung und Denkmalpflege, Technische Universität Wien
März 2010

Der Teufel steckt im Detail – Architekturkritik und Stadtbetrachtung
Texte von Judith Eiblmayr, mit einem Essay von Daniela Strigl
erschienen im Februar 2010 bei Metroverlag
ISBN 978-3-99300-011-0

HAUS HOCH – Das Hochhaus Herrengasse und seine berühmten Bewohner
Hg. von Judith Eiblmayr und Iris Meder
erschienen im September 2009 bei Metroverlag
ISBN 978-3-902517-92-0

Der Attersee – Die Kultur der Sommerfrische
Hg. von Judith Eiblmayr, Erich Bernard,
Barbara Rosenegger-Bernard, Elisabeth Zimmermann
erschienen im Juli 2008 bei Christian Brandstätter Verlag
ISBN 978-3-85033-022-0

Moderat Modern – Erich Boltenstern und die Baukultur nach 1945
Katalog zur Ausstellung im Wien Museum
Herausgegeben von Judith Eiblmayr und Iris Meder
Farb- und Schwarzweißabbildungen
Broschierte und gebundene Ausgabe, 248 Seiten
erschienen im Verlag Anton Pustet, Salzburg 2005,
ISBN 3-7025-0512-1

Anna-Lülja Praun – Möbel in Balance
Katalog zur Werk- und Lebensschau zum 95. Geburtstag im Haus Wittgenstein
Herausgegeben von Judith Eiblmayr und Lisa Fischer
Farb- und Schwarzweißabbildungen
broschierte Ausgabe, 85 Seiten
erschienen im Verlag Anton Pustet, Salzburg 2001,
ISBN 3-7025-0435-4

Schulbau 2000 – Schulbau in Wien
Unterrichtsbehelf für Bildnerische Erziehung und Werkerziehung
Hg. BM für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, Medienservice
Konzeption und Texte: Judith Eiblmayr
Eigenverlag BMUK, Wien 1999

Architektur des Geldes
Die Baugeschichte der Oesterreichischen Nationalbank
Hg. Oesterreichische Nationalbank,
Konzeption und Texte: Judith Eiblmayr
Coverfoto: Rupert Steiner
Eigenverlag OeNB, Wien 1999

TEXTBEITRÄGE für BÜCHER, KATALOGE und WEBSITES:

Architektur und Psychodynamik
in „ARCHITEKTUR TRANSDISZIPLINÄR“, S. 39 ff
Hg. Mariela Dittrich, Andrea Rieger-Jandl
Autor:innen: Judith Eiblmayr gem. mit K. Paulitsch
IVA Verlag, Wien 2016

• Das Juridicum
• Studienräume
beide in „Stätten des Wissens. Die Universität Wien entlang ihrer Bauten 1365–2015“, S. 311 und S. 321
Hg. Julia Rüdiger, Dieter Schweizer
Autor:innen: Judith Eiblmayr et al.
Böhlau Verlag, Wien/Köln/Weimar 2015

Heri & Salli
in „Time Space Existence. Made in Europe“, S. 106
Hg. GlobalArtAffairs Foundation
Autor:innen: Judith Eiblmayr et al.
2014
ISBN 9789490784157

Die Sichtbarmachung des Gesehenen – Zur Entwicklung der Architekturfotografie in Österreich
Dossier „Architekturfotografie“ zum Thema „Architektur & Fotografie“ auf nextroom.
• Ateliers und Interieurs / Studios and Interiors
• Zur Sichtbarmachung des Gesehenen – Architektur als Objekt vor dem Objektiv / On the Visualization of the Seen: Architecture as the Object in Front of the Photographic Objective
in „pez hejduk. vor ort_on site“
Hg. Pez Hejduk, mit Beiträgen von Ruth Horak, Judith Eiblmayr, Elke Krasny und Helmut Weber.
Metroverlag, Wien, November 2012

So nahe bei Wien und eine solche menschenleere Fläche!
in „Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung“, S. 89 ff
Hg. Irene Suchy
Metroverlag, Wien, April 2012

Ungekünstelte Kunst. Ein Dach für das Passionstheater Oberammergau
Autor:innen: Judith Eiblmayr, Martin Zigon, Michael Seidel, Matthias Pfeifer
Hg. Karlheinz Wagner, Waldhör Verlag, Wien, Juni 2010

• Architektur nobler Zurückhaltung – Erich Boltenstern (1896 – 1991)
• Poesie durch Präzision – Wilhelm Holzbauer
beide in „Kunst Kunst Kunst – Der Große Österreichische Staatspreis“,
Katalog zur Ausstellung, S. 62 f und S. 94 f
Hg. John Sailer, Verlag Jung & Jung, Wien 2003

Dienst an der Kremser Bau(amts)kultur
Die Architektur österreichischer Amtshäuser zeichnet sich seit Generationen durch einen speziellen Charme aus, der „das Ungemütliche“ schlechthin repräsentierte. Das Wiener Architektenteam BEHF beweist, dass durch gezielten „Rückbau“ das Gegenteil möglich ist.
Krems, Stadt im Aufbruch, Architektur und Städtebau. Eine Bilanz, 2003

Schönbrunnerstraße 74 – BEHF mit BÜRO X
Broschüre making it 2, Hg. Marc Gilbert, Wolfgang Niederwieser, Wien 2000
Vorwort zur Architektur Wilhelm Holzbauers

in „Wilhelm Holzbauer – Arbeiten aus den letzten fünf Jahren des vergangenen Jahrhunderts“, Katalog zur Ausstellung, S. 6 f
Hg. Universität für angewandte Kunst
Eigenverlag Univ. f. angewandte Kunst, Wien 2000
Ernst Linsberger
Doppelwohnhaus in Krems an der Donau 1991 – 94
in „Meisterschule Roland Rainer“, S. 48 ff
Springer Verlag Wien New York, Wien 1998

• Analyse der Ursachen für den Bruch in der österreichischen Designidentität
• Lösungsmöglichkeiten für eine Zustandsverbesserung
beide in „Design in Österreich – Studie und Datenbank des MAK“, Österreichisches Museum für angewandte Kunst,
Wien 1992

ARTIKEL:
siehe http://www.eiblmayr.at/publikationen/index.htm

Veranstaltungen

Ausstellungen:

Moderat modern – Erich Boltenstern und die Baukultur nach 1945
Ausstellung im Wien Museum Karlsplatz von 20.10.2005 – 29.1.2006

Anna-Lülja Praun
Werk und Lebensschau der Architektin zum 95. Geburtstag
im Haus Wittgenstein von 11. – 24.5.2001

Herbert Eichholzer – Architektur und Widerstand
Ausstellung im Haus Wittgenstein von 12.11. – 4.12.1998

Anna-Lülja Praun – Werkschau der Architektin
bei Minerva Buchhandlung von 19.6. – 13.7.1997'

Architektur als Unterhaltung – Über ein neues Rollenverständnis der Architektur
Veranstaltungsreihe der Österreichischen Gesellschaft für Architektur
von 4.4.2001 – 22.2.2002

coming up: Elizabeth Scheu Close - American Architect with Viennese Roots.

VORTRÄGE:

Open Office versus Private Corner - Großraumbüro und das Recht auf Intimsphäre
Miba Forum Laakirchen, 20. 7. 2019
Blaha office Seminar, 3.3.2020

Dem Schach Raum geben
„ARCHITEKTUR HÖREN“ – Special: Rösselsprünge bei Loos
Gespräch mit Michael Ehn, Schachhistoriker
Bridge Club Wien, 16.2.2018

Anna Lülja Praun - Pionierin als Architektin in Österreich
für TU Graz und Ortwein-Schule,
Prenning bei Graz, 29.9.2018

Sprechen über Architektur
Werkvortrag von Judith Eiblmayr
ZV Architekt:innen Österreich, Wien, 11.1.2018

My Home Is My Castle - Das schwere Erbe von Suburbia
ÖGFA (IG Architektur), Wien, 10.5.2019
Soroptimistinnen Club Traunsee, Gmunden, 15.11.2018
Ausschuss der Ziviltechnikerinnen, Wien, 15.11.2017
HDA, Graz, 19.4.2017
Kamingespräch, Wien, 6.3.2017
Werkschau, Salzburg, 10.11.2016
Fulbright Womens Roundtable, Wien, 23.5.2016

Architektur als kreative Dienstleistung
Mödling, 18.7.2017

Die Stadt als Bühne - Von der Hochstraße zur Herrengasse, 200 Jahre Leben in Wien
mit Iris Meder
HG+ Infopoint, Wien, 9.6.2016

A planned Ideal City and the Legacy of its Plot
University of Minnesota, 11.12.2015

Is there a Perfect Town? The Rational Grid andthe Medieval Maze -
Two Systems of Urbanization
University of Minnesota, 19.11.2015

Margarete Schütte-Lihotzky - Talk and a Tour on the
Frankfurt Kitchen
MIA - Minneapolis Institute of Art, 17.11.2015

Vater, Großvater, Übervater. Zwei Generationen Holzmeister-Schüler.
Hannes (1905–1971) und Hansjörg Eiblmayr (1936–2013)
Internationale Fachtagung „Gibt es eine Holzmeister-Schule?“
Innsbruck, 16. - 18.10.2014

Was bewegt? Zur Situation von Architektinnen im
österreichischen Baugeschehen
Initiative Architektur Salzburg, 27.11.2013

Venus oder Eisenguss? Gendermainstreaming in der Architektur
Institut f. Architekturtheorie, TU Wien, 14.5.2013

ArchitektIn als DienstleisterIn?
frauwt - Netzwerk Wirtschaftstreuhänderinnen, 23.11.2010

Wettbewerbe

2006 Arbeiterkammer Wien Innenraumgestaltung, mit Irmgard Frank (Umsetzung 2006 – 2008)

Karte

Bauwerke

Artikel

12. März 2025 Spectrum

Der amerikanische Traum vom Leben in den Vororten ist zerstört

Der American Dream hat sich in vielen Bereichen zum Albtraum entwickelt. Nach der Suburbanisierung in den USA ist Wohnbau nun wieder ein Thema – da die menschenleeren Stadtzentren zu verslumen drohen.

Die USA sind in eine gesellschaftliche Krise geraten, die teilweise als aussichtslos zu bezeichnen ist. Ohne auf die politischen Ungeheuerlichkeiten einzugehen, von welchen seit 21. Jänner 2025 täglich berichtet wird, ist evident, dass die Zerstörung gewachsener Strukturen in den USA vorangetrieben wird. Sei es im Staatsapparat, wo Beamte willkürlich entlassen werden, sei es in Nationalparks, wo nach Rohstoffen gebohrt werden soll. Es mag verwundern, mit welcher Vehemenz das Oval Office gegen die eigene Bevölkerung vorgeht, doch war die US-amerikanische Geschichte immer wieder von Maßnahmen geprägt, die sich gegen das Gemeinwohl wandten, um kapitalistische Einzelinteressen durchzusetzen.

Ein Beispiel ist die Suburbanisierung der Städte, die von England ausgehend im 19. Jahrhundert in den USA mit Errichtung der Eisenbahn vorangetrieben wurde. Investoren beim Eisenbahnbau kauften rechtzeitig Grundstücke entlang der neuen Schienenstränge an und verwerteten diese, sobald die Zugverbindung zu den Vororten bestand.

Passendes Lebensmodell abseits der Großstadt

Bereits ab 1850 wurden von Developern standardisierte Häuser verkauft: mit Spekulationsgewinn und dem Werbeversprechen eines individuellen Lebensentwurfs. Individualisierung in der Architektur wurde durch ebenfalls standardisierte Dekorelemente an der Fassade erreicht. Systemimmanent war der Suburbia-Bewegung seit 1800, dass das Leben in der Stadt und das Aufwachsen von Kindern in einer Wohnung geächtet wurden und damit den Frauen das Leben im Häuschen abseits der Großstadt als passendes Lebensmodell empfohlen wurde.

In den 1920er-Jahren wurde erneut verstärkt in die Suburbs investiert, obwohl immer weniger US-Bürger sich ein eigenes Haus leisten konn­ten. Jenen, die bereit waren, sich in einen Kre­dit zu stürzen, versprach man unverblümt, dass in der Subdivision kein Haus an People of Color verkauft werden würde – rassistische Segregation gehörte zum Geschäft.

Die Gartenstadt setzte sich nicht durch

Zu dieser Zeit gab es allerdings auch eine vom englischen Gar­den Cities Movement geprägte, parallele Bewegung, die zur Stadterweiterung Gartenstädte mit eigenen Ortszentren propagierte. Um die Kos­ten für die Hauskäufer zu senken, wurde die Bauweise der Holzhäuser vereinfacht und die Vorfertigung entwickelt. Dass Gartenstadtidee und sozialer Wohnbau, wie er in den 1930er-Jahren durchaus staatlich verfolgt wurde, sich nicht durchsetzen konnten, war einer mächti­gen Gegenlobby geschuldet: Banken, Immobilien- und Baubranche fürchteten, dass ihnen durch staatliche Förderungen im Wohnbau der lukrative Eigenheimmarkt wegbrechen könnte.

1937 lieferte der Architekturkritiker Lewis Mum­ford (1895–1990) einen negativen Befund zum umgreifenden Suburbanisierungsgedan­ken in den USA und beschwor den sozialen Kern als essenzielles Element jeder wertigen Stadtplanung. Aber genau das Gegenteil wollte das offizielle Amerika, wo selbst Reihenhäuser als Wegbereiter des Sozialismus politisch verunglimpft wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Stadtplanung kein Thema, ganz im Gegenteil: Begleiteffekt der Suburbanisierung war das innerstädtische Demolieren ganzer Stadtteile, das euphemistisch als urban renewal bezeichnet wurde. Es war ein mutwilliges Zerstören gewachsener baulicher und sozialer Strukturen, um Stadtzentren von Wohnbauten frei zu machen und eine Spielwiese für Investoren zu schaffen. Die waren zufrieden, da ihnen mit öffentlichen Mitteln Brachland zur Verwertung hergestellt wurde.

Sozial benachteiligte Gruppen vertrieben

Die Bevölkerung wurde aus den Stadtzentren regelrecht vertrieben: Sozial benachteiligte Gruppen wie große Teile der afroamerikanischen Bevölkerung, die in ihren Wohnvierteln enge Communitys aufgebaut hatten, wurden in neu errichtete Wohnblocks in anderen Stadtteilen umgesiedelt; eine Maßnahme, die schwerwiegende soziale Probleme nach sich zog: „Urban renewal means Negro removal“, formulierte das der amerikanische Schriftsteller James Baldwin im Jahr 1963.

Mit dem Federal Housing Act 1949 wurde für den weißen Mittelstand das Prinzip der Suburbs verordnet, indem man eine staatliche Förderung von Darlehen zum Erwerb eines Hauses in der Subdivision einführte. Politisch gesteuert, wurde der Immobilienwirtschaft sowie der Auto- und Fertigteilhausindustrie der Markt gesichert. Developer schickten sich an, das Land hierfür aufzubereiten. „In den USA ist Immobilienspekulation ein Teil von allem, und sie ist unglaublich mächtig“, schildert die Historikerin Gail Radford in einem Interview. „Jeder Kongressbezirk hat seine Maklerverbände, Bauträger, die in Gruppen organisiert sind, auch auf nationaler Ebene, und Fabrikanten, die an Immobilien beteiligt sind. Das ist stark mit der Politik verwoben und dadurch kaum zu umgehen.“

Weit und breit keine Bahnlinie

Günstige Wohnungen in der Stadt waren abgeschafft worden, und die ideologische Belehrung wie vor 150 Jahren, es wäre unverantwortlich, Kinder in der Stadt großzuziehen, durfte auch nicht fehlen. Gut ausgebildete Frauen, die die Tätigkeiten der im Krieg verpflichteten Männer übernommen hatten, mussten die Arbeitsplätze den männlichen Heimkehrern überlassen. Kindererziehung und Haushaltsführung an den Stadträndern wurden für sie zum staatlich verordneten Lebensmodell. 20 Millionen Frauen, die eben noch einer Berufstätigkeit nachgegangen waren, bekamen einen Entlassungsbrief mit der Empfehlung, sich einen Ernährer zu suchen.

Und so zog die weiße Mittelschicht wohl oder übel ins vorgefertigte Häuschen in der neu errichteten Suburb, wo weit und breit keine Bahnlinie und auch kein Geschäft mehr zu finden war. Begleiteffekt war, dass sie mit einer Hypothek belastet in eine lebenslange wirtschaftliche Verpflichtung gebracht wurden, um die Rückzahlung der Darlehen leisten zu können. Mit zusätzlich aufgenommenen Krediten wurden ein Auto und ein Fernseher angeschafft, über deren Schirme flächendeckend die Botschaft propagiert wurde: „This is the American Dream!“ Was sollte daran falsch sein? Logischerweise folgte 1956 der Federal Highway Act, der die Errichtung des Autobahnnetzes für die gesamten USA beschloss. Bei gleichzeitiger Stilllegung des Schienennetzes bedeutete dies eine weitere systematische Zerstörung funktionierender Infrastruktur und einen massiven Eingriff ins Gemeinwesen der USA: Nicht jeder konnte sich ein Auto leisten.

Seit den 1950er-Jahren wurde die Suburbanisierung konsequent weiterverfolgt; erst seit zehn Jahren ist Wohnbau wieder ein Thema, da die menschenleeren Stadtzentren zu verslumen drohen. Die Häu­ser in den Suburbs haben sich zu teils formal grotesken „MacMansions“ ausgewachsen, bei denen Garage und Dachgiebel zum architektonisch bestimmen­den Element wurden. Ein manieristisches Lebensmodell, das sich die junge Generation kaum mehr leisten kann und dadurch an seine Grenzen stößt. Der American Dream hat sich in vielen Bereichen zum Albtraum entwickelt. Weitere Gewaltakte, wie man sie zurzeit in den USA beobachten kann, werden wohl kein Gegenmittel sein.

29. Juni 2023 Spectrum

Villa am Attersee: Klimt hinter Gittern

Über Jahrzehnte hieß es „Wandeln auf den Spuren Gustav Klimts“ in der Allee des Schlosses Kammer am Attersee, doch damit ist Schluss: Betreten ist seit Herbst verboten. Hat das Land Oberösterreich kein Interesse daran, seine Kultur- und Naturdenkmäler als Allgemeingut zu bewahren?

Der Attersee findet immer wieder Erwähnung, wenn es um den anhaltenden von Investorengeld befeuerten Bauboom geht, der die letzten freien Platzerln verbaut – je näher dem Gefilde, umso begehrter. Bauliches Prunkstück ist seit jeher das Schloss Kammer am nördlichen Ende des Attersees, ein seit 1165 bestehender, ursprünglich als Burg auf einer Insel gelegener Bau, der später durch Aufschüttung ans Festland „angedockt“ wurde. 1710 durch den Linzer Barockbaumeister Johann Michael Prunner zu einer prunkvollen Schlossanlage mit weitläufigem Park ausgebaut, verfügte diese über eine geschlossene Bebauung zur Straße hin, die speziell durch einen runden „Vorhof“ mit Torbögen als Durchfahrt imponierte. Hier lagen Stallungen und Remise, wie auf dem Plan von 1878 des Seebades Kammer ersichtlich, das die Schlossherrschaft etablieren wollte. Als übliches repräsentatives Element zwischen Vorhof und Schlosshof war den Park querend eine Lindenallee gepflanzt worden, die 200 Jahre später in die Kunstgeschichte eingehen sollte: Gustav Klimt hielt 1912 die Allee vor Schloss Kammer in Öl auf Leinwand fest, eines jener quadratischen Werke, die er während seiner Attersee-Aufenthalte zwischen 1900 und 1916 gemalt hat, und von denen sich so manches vielversprechende Stück in der Sammlung des Belvedere befindet.

„Klimt-Allee“ ist nicht mehr frei zugänglich

Der Klimt-Experte Alfred Weidinger attestiert dem Bild besondere Bedeutung, da es einerseits technisch von Klimts Beschäftigung mit dem Werk van Goghs zeugt, andrerseits durch die Darstellung der bildfüllenden Baumkronen mit der gelben Schlossfassade im Hintergrund unsere Erinnerungskultur bereichert hat. „Die Szenerie präsentiert sich heute noch weitgehend unverändert“, steht auf einer Stele des Klimt-Themenweges. Seit September 2022 präsentiert sich die „Klimt-Allee“ unverändert, ist aber nicht mehr frei zugänglich.

Ein Schockmoment, wenn sich an der Wegkreuzung von Parkpromenade und Allee plötzlich ein Einfahrtstor aufpflanzt und beidseitig ein simpler Gartenzaun das Feld der Herrschaft absteckt. Ein Blick nach links zeigt, dass ein Teil der Esplanade eingezäunt und so entlang des Atterseeufers kein Durchkommen in den Park mehr gegeben ist. Die Promenade wurde auf 1,5 Meter Breite zusammengeschrumpft, ein Flaschenhals im Wegenetz der Parkanlage von Kammer-Schörfling, der der Frequenz dieses Ortes spottet. Spaziergänger:innen, Fahrradfahrer und Läuferinnen werden mit der Schmalspur-Promenade ein Auskommen finden müssen – absurd, bedenkt man, dass es jahrhundertelang selbstverständlich war, sich in der Allee und der Wiese zum Wasser hin frei zu bewegen. Leider ist dies noch nicht alles, denn rechts des von Speerspitzen gesäumten, schmiedeeisernen Gartentors gibt es eine völlig neue Perspektive: Statt des verwilderten Parks steht nun ein Garagenbauwerk in Form einer überdimensionierten Scheune, euphemistisch als Remise bezeichnet. Wie konnte das passieren? Warum entzieht eine Industriellenfamilie, deren Schloss auf der Halbinsel an zwei Seiten über große Privatgärten verfügt, der Allgemeinheit Grünraum? In Zeiten der Klimaerwärmung wird ein Platz am Wasser eingezäunt und bebaut – warum lassen Entscheidungsträger im öffentlichen Interesse das zu? Die Umstände sind rasch recherchiert: Die Familie Max-Theurer, seit ca. 30 Jahren Eigentümerin der Schlossanlage Kammer, wollte ihren Grund reprivatisieren und den Pachtvertrag mit der Gemeinde Schörfling nicht verlängern. Es gab angeblich guten Grund dazu, weil die Pächterin verabsäumt hatte, ihrer Pflicht nachzukommen: Pflege der Grünanlage, Instandhaltung der Ufermauer, nächtliche Überwachung des Parks. Bürgermeister Gerhard Gründl meint hingegen, da könne man leider nichts machen, wenn die Besitzer nicht mehr verpachten wollen. Auf die Frage, wie ein fünf Meter hoher Garagenneubau in der Uferschutzzone des Attersees baubehördlich möglich sei, antwortet er: „Der Naturschutz hat‘s bewilligt! Es ist Privatgrund, und es besteht kein öffentliches Interesse an dem Park.“

Rein theoretisch könne der Park verbaut werden

Solch eine Aussage macht hellhörig: Selbst das Land Oberösterreich hätte übergeordnet kein Interesse, seine Kultur- und Naturdenkmäler als Allgemeingut zu bewahren? Wenn man gleichzeitig „Auf den Spuren Gustav Klimts“ als Teaser des Attersee-Tourismus liest? Die Aussagen der Behörden sind ernüchternd: Die Raumordnungsabteilung hat die Widmung wohl genehmigt. Die Kulturabteilung als Kulturförderungsinstitution wisse nichts vom Zaun und habe keine Handhabe, diesen zu verhindern. Das Bundesdenkmalamt kann nichts tun, denn nur das Schloss stehe unter Schutz, nicht jedoch der Park als „historischer Garten“. Die Aussage der Naturschutzbehörde ist desillusionierend: Das Gesetz sei in den vergangenen zehn Jahren aufgeweicht worden, man könne nicht mehr richtig dagegenhalten, und der Zaun sei nicht genehmigungspflichtig. Zudem liege der Schlosspark im Bereich der neuen „Attersee-Seeufer-Ausnahmeverordnung“, und rein theoretisch könne der Park verbaut werden.

Das ergibt mögliche Verwertungsszenarien: nette Chalets mit dem Château in Sichtweite, die Garage steht schon da; oder Glamping in der Jurte im Schatten der Alleebäume – das Aufnahmegebäude wäre leicht zu finden. Tatsache ist jedenfalls, dass die Exklusivität der Klimt-Allee hinter Gittern dem bislang verpachteten, daher kapitalistisch betrachtet wertlosen Parkgrundstück einen Wertzuwachs beschert. Das Gemeinwohl, eines der sechs Grundprinzipien der europäischen Staatslehre, hat offenbar wie das Subsidiaritätsprinzip des EU-Vertrages als gesellschaftspolitische Zielsetzung vielfach bei der Gestaltung und pfleglichen Weiterentwicklung des Lebensraums (Raumordnung, Städtebau, Seeuferschutz etc.) an Zugkraft verloren. Ein klarer Befund, denn es war die Gemeinde Schörfling, die es verabsäumte, den Pachtvertrag zu verlängern und die Erinnerungskultur in situ aufrechtzuerhalten. Und so wurde ohne politische Gegenwehr ein Park am Wasser der Öffentlichkeit entzogen – die Allee vor Schloss Kammer können Erholungsuchende nur mehr grau in grau malen.

14. Oktober 2022 Spectrum

Kino in der Vorstadt: Als die Filme noch stumm waren

Seit 1909 ist dieses Kleinod relativ unverändert geblieben: die Breitenseer Lichtspiele. Die Zeiten für die Betreiber waren oft stürmisch – dank stilsicherer Adaptierung und Sanierung sieht die Zukunft des kleinen Kinos aber ganz gut aus.

Die Zeit des großen Kinosterbens wird mit den 1960er-Jahren assoziiert, als der Fernseher in den Haushalten Einzug hielt. Die Sendungen konnten bequem auf dem Sofa konsumiert werden, gleichzeitig galt das TV-Gerät als Statussymbol, das benutzt werden wollte. Zahlreiche Kinos verloren ihr Publikum, wurden zugesperrt und die großen Räume zu Supermärkten oder Lagerräumen umfunktioniert. Bis in die 1980er-Jahre hielt die negative Stimmung gegenüber den Kinos an, obwohl diese durch Verkleinerung der Säle und Etablierung von Programmkinos Cineasten ansprachen oder jene Zuschauer, die Fernsehen als spießig empfanden.

Ende der 1990er-Jahre setzte eine neue Entwicklung ein, die eine weitere Existenzgefahr für die innerstädtischen Kinos bedeutete, als am Stadtrand Kinocenter entstanden: mit extrabreiten Leinwänden und extrabequemen Polstersesseln – eine Form der „Eventarchitektur“, die Kino und leichtgängige Kulinarik plus Garagenparkplatz anbot, um in entlegenen Gegenden Kunden zu gewinnen. Einige dieser Kinocenter haben überlebt, andere wurden umgewidmet oder abgerissen, den Kinos im urbanen Bereich konnten sie jedoch nicht den Garaus machen. Eines der stimmungsvollsten dieser Art ist zugleich das älteste erhaltene Lichtspieltheater von Wien: die Breitenseer Lichtspiele, ein Kleinod der Filmszene, das seit 1909 relativ unverändert geblieben ist.

Das Angerdorf Breitensee hatte zwischen 1835 und 1890, dem Jahr der Eingemeindung nach Wien, eine wahre Bevölkerungsexplosion erfahren, als über die Wiener Vororte ein Raster gelegt wurde, um möglichst effizient Wohnbauten zu errichten. Eine übliche Zwischennutzung der Bauplätze erfolgte in Form von Wanderkinos, um den Arbeiterfamilien mit dem neuen Medium Film Zerstreuung anzubieten.

Unverändert bis aufs Tapetenmuster

Solch ein „Kinematographen-Theater“ im Zelt wurde ab 1905 auch in Breitensee aufgestellt. Als das Wohnhaus an der Breitenseer Straße 21 fertiggestellt war, zogen die Kinobetreiber dort ein, mieteten kurzerhand das Erdgeschoß dazu und eröffneten 1909 das nun ummauerte Breitenseer Kino. Seither wurde mehrmals die Sitzplatzzahl erhöht, denn das Kino konnte sich etablieren, in und nach den zwei Weltkriegen gehalten und kontinuierlich adaptiert werden. Historische Fotos belegen, dass der 20 Meter lange und nur knapp fünf Meter breite Kinosaal bis auf das Tapetenmuster unverändert ist, fünf Lagen Tapete seien übereinandergeschichtet gewesen, berichten die jetzigen Kinobetreiber Christina Nitsch-Fitz und Dieter Mattersdorfer. Der Eingangsbereich mit historischer Kassakoje, kleiner Verkaufsbudel und Theke mit Barhockern ist ebenso minimalistisch in der Dimensionierung wie der daran anschließende kleine Raum, um an einem der drei Tischchen den Kinoabend ausklingen zu lassen. Wahrscheinlich hat gerade die Kleinheit der Räumlichkeiten dem Kino das Überleben gesichert, denn von Miete bis Heizung blieben die Kosten so schmal und niedrig wie der Raum selbst. Das wahre Geheimnis ist aber, dass dieses Kino seit 1969 in Familienbesitz ist, denn damals erwarb die Mathematikerin Anna Nitsch-Fitz die Breitenseer Lichtspiele. Ihre Großmutter war Inhaberin des Nussdorfer Kinos gewesen; nach deren Tod hatte es ihr Vater, ein Arzt, bis zum Verkauf weitergeführt. Anna Nitsch-Fitz wollte auf die innerfamiliäre Tradition nicht verzichten und neben ihrem Beruf als Gymnasiallehrerin Kinobetreiberin werden – aus Liebhaberei, denn sie kaufte zu einer Zeit, da das Kino eben bereits totgesagt wurde.

Im Lauf der Jahrzehnte wurde saniert, reaktiviert und investiert, alles dezent und in überschaubarem Rahmen, denn Profilierung über das Design war nicht notwendig. In dem halben Jahrhundert wurde großes Kino auf kleinstem Raum geboten, aber das tat dem Ruf als „ältestem Kino von Wien“ keinen Abbruch. Frau Nitsch-Fitz in ihrem Kino war eine Institution und nicht nur im Westen von Wien bekannt.

Mittel gegen die Abwanderung

Auch in Eggenburg existiert seit über einem Jahrhundert ein „Lichtspielhaus“. Dieses wurde von Clemens Holzmeister geplant, sein zweites gebautes Werk. Im Gegensatz zum Kino von 1909 im Penzinger Wohnviertel wurde 1914 im Waldviertel ein frei stehendes Kinogebäude errichtet, das mit seinem hohen Walmdach an ein bürgerliches Wohnhaus der Jahrhundertwende gemahnt. Typologisch war dies ein Verweis auf die Heimatschutzbewegung – kein Zufall, denn der junge Holzmeister war über den Verein „Deutsche Heimat“, für deren Bauberatungsstelle er als Architekt tätig war, zu diesem Auftrag gekommen. Holzmeister habe das Bauwerk mit klassizistischen Details an der Eingangsfassade später als „Jugendsünde“ abgetan, wobei dies der erste seiner Theaterbauten war, für die er später berühmt werden sollte. Kubatur und imposante Formensprache dieses Kinos sind erstaunlich für ein Bauprojekt zu Beginn des Ersten Weltkriegs, offensichtlich setzte man politisch auf den Film als starkes Medium, um im Sinne der Heimatschutzbewegung die Landbevölkerung von der Abwanderung abzuhalten. Erstaunlich ist aber auch, dass dieses Gebäude unverändert in Eggenburg steht – zwar als Lager für Archivalien des Krahuletz-Museums genutzt wird, aber theoretisch als Kino- oder Theaterraum eine Zukunft haben könnte.

So wie die Breitenseer Lichtspiele eine Zukunft haben – da die mittlerweile verstorbene Besitzerin rechtzeitig ihre Nichte Christina Nitsch-Fitz für das Kino begeistern konnte, die nun gemeinsam mit Mattersdorfer den Betrieb fortführt. Die beiden setzen auf modernisierte Projektions- und Tontechnik, spannende Programmierung und eine stilsichere Sanierung, Eventarchitektur braucht es hier keine. Wenn die Holzklappstühle eine gepolsterte Sitzauflage und die Türen einen petrolfarbenen Anstrich erhalten, ist dies ein wohltuend dezentes Kino-Ambiente, in dem die beschriebene Tradition mitschwingt: das erweiterte Wohnzimmer einer filmbegeisterten Familie.

4. Oktober 2022 Spectrum

Schloss Lengenfeld: Das Fest ist vorbei

Nahe Krems liegt das Schloss Lengenfeld, wo einst regelmäßig Kunst und Kultur gefeiert wurden. Die Letztbesitzer vermachten es dem Land Niederösterreich, das jedoch nicht deren Wunsch entsprach, es weiterhin für die Öffentlichkeit zugänglich zu halten. Jüngst wurde es verkauft – und was passiert nun?

Der Sommerausklang ist die ideale Zeit, um die Gegend rund um Wien zu durchstreifen. Nicht mehr zu heiß, aber bei prächtigem Wetter fährt, wandert oder läuft man umher und landet unvermutet an einem Ort, der an die Kindheit erinnert. Nördlich von Krems und östlich von Langenlois liegt Lengenfeld, und mittendrin, direkt an der Hauptstraße, verfügt das lang gestreckte Straßendorf über ein Renaissanceschloss. Die zufällige Begegnung mit den zwei in den Straßenraum ragenden runden Wehrtürmchen mit „Hexenhutdach“ weckt die Reminiszenz an Festivitäten in den 1970er-Jahren, zu denen die Eltern eingeladen und auch Kinder willkommen waren. Wie oft waren wir dort, zwei-, dreimal? So genau weiß ich es nicht mehr, aber dass es rauschende Feste waren, die das Künstlerehepaar Christa Hauer und Johann Fruhmann veranstalteten, ist mir erinnerlich.

Ein Blick über den Zaun offenbart, dass sich hier nicht wie früher im „Freilichtzoo“ Katzen, Esel und Pfaue, sondern nun eher wilde Tiere vergnügen; ungestört von zivilisatorischen Eingriffen, liegt der Garten brach mit seinen satt grünen, üppigen Wiesen zu beiden Seiten des Lengenfelder Baches, der parallel zum Schloss das Grundstück quert. Was dem Naturgarten guttut, ist der Bausubstanz weniger zuträglich, und so verwundert es nicht, dass die Fassaden der Anlage etwas mitgenommen aussehen. Allerdings verleiht Fruhmanns Sgraffito aus dem Jahr 1974 an zwei Seiten dem Gebäude eine speziell würdevolle Patina.

Das Gebäude über quadratischem Grundriss ist an allen vier Seiten geschlossen und hat einen Innenhof mit Arkaden im Erdgeschoß und einen Laubengang im Obergeschoß. Flankiert wird es von den vier Rundtürmen mit spitzem Kegeldach, die ungewöhnlich, weil niedriger als das Schloss und mit diesem nicht verbunden sind, da die Ringmauer im 19. Jahrhundert abgetragen wurde. Sie wirken als historische Wehrtürme ungeeignet, durch ihre „Putzigkeit“ jedoch umso charmanter. Und à propos Putz, der blättert ab: sowohl von den Türmchen als auch vom Gebäude.

Sammlung öffentlich zugänglich

Das Anwesen steht eindeutig leer. So beginne ich zu recherchieren und werde im Grundbuchauszug vom Juli 2022 fündig: Das Land Niederösterreich ist als alleiniger Eigentümer eingetragen, und noch davor ist vermerkt: „Die Erhaltung des Schlosses Lengenfeld ist im öffentlichen Interesse gelegen.“ 1994 trat Christa Hauer-Fruhmann – ihr Mann war 1985 verstorben – als Geschenkgeberin auf den Plan. In einem Notariatsakt, der im Grundbuch und somit öffentlich aufliegt, steht, dass sie vom Land eine Leibrente erhält und „nach ihrem Ableben sich das Land Niederösterreich verpflichtet, das Schloß Lengenfeld fachkundig zu verwalten. Lengenfeld soll als Lebensort der Künstler- und Sammlerfamilie Hauer-Fruhmann präsentiert werden, die vorhandene Sammlung muß öffentlich zugänglich sein und die im Schloß traditionelle Festkultur ist durch mehrere Veranstaltungen jährlich fortzusetzen.“ Die 130 Kunstwerke sind in einer lapidaren Auflistung ebenfalls im Grundbuch angeführt, von A wie „Anonym, stehende Madonna, 2. Hälfte 14. Jh.“ über „Dürer Nachfolge“, Egger Lienz, Jungwirth, Lassnig, Prantl, Rainer, Schiele bis Z wie Zülow – eine Sammlung, die größtenteils auf Christas Großvater, den Kunstsammler Franz Hauer (1867–1914), zurückgeht. Dieser stammte aus Weißenkirchen und war Besitzer des Griechenbeisls am Wiener Fleischmarkt; sein Sohn war der Maler Leopold Hauer und der Christas Vater. Bestärkt durch ihn und ihre Mutter, Sophie Helling, studierte Christa Hauer, 1925 geboren, Kunst und lebte von 1953 bis 1960 in den USA. Nach ihrer Rückkehr nach Wien erwarb sie 1970 Schloss Lengenfeld und machte es mit Hans Fruhmann zu einem Ort, der nicht dem persönlichen Eskapismus dienen sollte, „sondern sie begründeten ein Strahlungszentrum, dessen Besonderheit sich in einer in der Großstadt kaum zu schaffenden Verbindung von Privatheit und Öffentlichkeit, von Stadt und Land manifestiert“, wie Dieter Bogner im Vorwort der Publikation „1990 – 20 Jahre Lengenfeld“ schrieb. Und weiter: „Dort ist Theoretisieren über Kunst ebenso zu Hause wie das Feiern von Kunst und die Kunst des Feierns.“ Wesentlich war auch ihre Vorreiterrolle punkto Ökologie und Ortsbildschutz, die Hauer und Fruhmann u. a. um den Erhalt einer historischen Brücke in Langenlois kämpfen ließ. Dies alles ist erwähnt, um die Historie der kunstaffinen, weltoffenen und umweltbewussten Familie mit Wachauer Wurzeln zu verdeutlichen. Als Christa Hauer 2013 kinderlos starb, wurde das Land Niederösterreich durch die „Schenkung auf den Todesfall“ in die juristische und moralische Verantwortung genommen, die Erhaltung des Schlosses zu sichern.

Verkauft auf dem „Schlössermarkt“

Man ging ambitioniert an die Sache heran und schrieb 2015 einen Wettbewerb aus, den ein Projekt mit einem „behutsam strukturierten Konzept“ gewann, wie der Juryvorsitzende Andreas Vass meint. Der Genius Loci sollte konzeptionell gestärkt werden und die jahrhundertealte Historie der denkmalgeschützten Anlage mit Hauptgebäude, Türmchen und Garten ebenso ablesbar sein wie die Intentionen des Künstlerpaars Hauer-Fruhmann. Dieses planerische Konzept mit programmatischem Überbau wurde beauftragt. In einer umfassenden bauanalytischen Diplomarbeit an der TU Wien zu Schloss Lengenfeld, verfasst 2018 von Benjamin Türk, wurde der Architekt in einem Interview zitiert, dass er sich auf die Umsetzung des Projektes freue. Es kam anders, denn die Eigentümervertreter bekamen wohl kalte Füße beim Gedanken an die Baukosten zur Trockenlegung des Schlosses am Bach.

Das Schloss landete ganz unsentimental auf „Willhaben“ und fand auf dem „vitalen Schlössermarkt“ („Der Standard“, 10. 9.) jüngst einen Käufer. Den Namen des Investors darf Hermann Dikowitsch, Leiter der NÖ-Kulturabteilung, nicht preisgeben, da noch Verhandlungen zu führen sind, um einen Modus für die Nutzung zu finden, denn „die öffentliche Zugänglichkeit müsse bleiben“. Hier tun sich im oben aus dem Grundbuch zitierten öffentlichen Interesse zwei Fragen auf: Lässt der Notariatsakt den Verkauf an einen Investor zu, und wenn ja, wofür werden die Einnahmen verwendet? Salopp gesprochen: Wer kassiert – und wie viel? Wird hier vermachtes öffentliches Gut der Allgemeinheit entzogen oder durch gezieltes Investment im Sinne Hauer-Fruhmanns bewahrt?

„WIR KOMMEN VON ZU VIEL HER. WIR BEWEGEN UNS AUF ZU WENIG WEITER“: ein Aphorismus, der unter anderem vom Künstlerpaar an die Wand im Arkadengang des Innenhofes appliziert wurde und noch immer lesbar ist. Hoffentlich ist dies kein Sinnspruch für das weitere Schicksal von Schloss Lengenfeld.

3. August 2022 Spectrum

Brücken für Radfahrer: Mit mehr Schwung!

Gerade auf dem Land, wo die Vormachtstellung des Autos auf den Straßen ungebrochen ist, braucht es ein gesondertes Wegesystem für Radfahrer und Fußgänger – etwa in Form von Brücken über stark befahrenen Straßen.

Dank E-Bike-Boom stellen immer mehr Personen fest, wie gut es tut, sich zu bewegen. Dass Steigungen ohne Anstrengung überwunden werden und der Speed mit einer Fingerbewegung erhöht werden kann, macht die Sache auch für jene lustig, die sonst nicht sehr sportaffin sind oder im Berufsalltag nicht verschwitzt zu einem Termin erscheinen wollen. Die Frequenzen auf dem konventionellen und altbewährten „Biorad“ (ohne elektrische Trethilfe) nehmen ebenso zu, und es ist schön zu beobachten, wie auch auf dem Land der höheren Dichte an Radfahrer:innen Rechnung getragen wird. Autofahrer sind ihnen gegenüber rücksichtsvoller geworden, und die meisten drosseln das Tempo, wenn Fahrräder vor ihnen fahren, oder besser: gefahren werden.

Trotzdem ist in Sachen Entflechtung der Fahrbahnen seitens der Verkehrsplaner und des Straßenbaus noch viel zu tun, um eigene Wegenetze für Fahrräder und Fußgänger herzustellen. Ihre Exponiertheit muss reduziert werden, denn Tatsache ist, dass von den Autos und ihren Lenker:innen potenzielle Gefahr ausgeht. Umso erfreulicher ist es, dass die Errichtung von Fußgänger- und Fahrradbrücken über stark befahrenen Straßen im ländlichen Gebiet nicht nur notwendige Infrastruktur herstellt, sondern auch ein Zeichen für alle Autofahrer setzt: Die „Selbstbeweger“ müssen sich nicht einbremsen, um den Autoverkehr queren zu können, sondern können sich einfach „drüberschwingen“, ob zu Fuß oder per Rad.

Die schwungvolle Anmutung macht die Planungsaufgabe einer solchen Brücke spannend und das fertige Objekt ansehnlich – daher sollen zwei Vorzeigeprojekte dieser Art hier vorgestellt werden.
Fußläufige Anbindung

Kürzlich wurde in Maria Gugging, Niederösterreich, beim Eingang auf den Campus des ISTA – Institute of Science and Technology Austria eine Verbindungsbrücke eröffnet, die die stark befahrene Kierlinger Straße überspannt und gleichzeitig einen Geländesprung überwindet. Am Nordhang des Kierlingtales, gegenüber des ISTA, entsteht ein Technologiepark, dessen Bürobauten fußläufig an den Campus angebunden werden sollen; gleichzeitig soll ein öffentlicher Übergang geschaffen werden. Bestehend aus zwei Bahnen, die hangseitig kurz parallel geführt werden und sich dann in Fußgänger- und Radfahrweg teilen, überspannt das Bauwerk aus Stahlkonstruktion mit einer leichten Rundung die Straße und landet in zwei sich übereinander kreuzenden Strängen geschwungen sanft auf der anderen Seite. Während reine Fußgängerbrücken über eine Straße oder Gleisanlage meist – wie hier – in eine Stiegenanlage münden oder an einem Liftturm enden und dadurch starr wirken, müssen die Rampen geschwungen ausgeführt werden, was ein dynamisches Moment erzeugt. Die seitlich hochgezogenen Brüstungen dieser Brücke in anthrazitfarbenem Blech bieten „Flankenschutz“ und vermitteln ein Sicherheitsgefühl, eine Art des Geführtwerdens. Ohne viel Aufhebens gelangt man auf die andere Seite und hat den Autoverkehr unter der Brücke gar nicht wirklich bemerkt. Dass dieses bandartige Bauwerk sich besonders gut in die Landschaft einfügt, ist dem Planungsteam geschuldet, dem spanischen Büro RCR Arquitectes, dessen architektonisches Wirken immer starken Bezug zur umgebenden Landschaft herstellt. Für diese in ihren zahlreichen Entwürfen unterschiedlicher Größenordnung ausgeprägte planerische Kunstfertigkeit wurde das Architektenteam, bestehend aus einer Frau, Carme Pigem, und zwei Männern, Rafael Aranda und Ramon Vilalta, 2017 mit dem Pritzker-Preis, dem weltweit wichtigsten Preis für Architektur, ausgezeichnet.
Sichtschutz als Eyecatcher

Im oberösterreichischen Grieskirchen war man offensichtlich seiner Zeit voraus, denn dort gibt es bereits seit dem Jahr 2007 ein ähnliches Brückenmodell. Wie in Maria Gugging wurde ein vorhandener Betrieb (Pöttinger Landmaschinen) auf einem Grundstück auf der anderen Seite der Innviertler Bundesstraße um ein Forschungszentrum erweitert und beides fußläufig aneinander angebunden. Als Mehrwert für die Allgemeinheit wurde auch diese Brücke öffentlich zugänglich gemacht. Architektin Claire Braun aus Vöcklabruck hat den Fahrrad- und Fußgängersteg, der auf beiden Seiten auf Straßenniveau startet, konstruktiv in einer Mischkonstruktion gelöst: Zwei gebogene Holzleimbinder sind von vier schräg gestellten Stahlbetonstützen abgespannt, zwischen denen der Boden des Steges einhängt ist. Die Zufahrtsrampen sind in Stahlkonstruktion mit Brüstungen in Stahlblech errichtet, wobei die eine in einer Rundung hinaufführt, die andere geradlinig nach oben zieht und in einen Halbkreis ausschwingt, bevor sie auf den Steg und über die Straße führt.

Als Eyecatcher für die Autofahrer und Sicht- und Blendschutz für die Radfahrer:innen ist zusätzlich auf beiden Seiten jeweils ein Segel eingespannt, das erst recht zur Dynamisierung des Objektes beiträgt. Speziell an dieser Brücke ist, dass sie wie ein Bausatz funktioniert, in nur vier Monaten Planungs- und Bauzeit fertiggestellt war und adaptiert an örtliche Gegebenheiten jederzeit nachgebaut werden könnte.
Dies ist durchaus als Aufforderung an die Verkehrsplanung zu verstehen, denn gerade auf dem Land, wo die Vormachtstellung des Autos ungebrochen ist, muss verstärkt auf ein gesondertes Wegesystem geachtet werden – vor allem in der Nacht ist an das Fahrrad als gängiges Verkehrsmittel auf einer Landstraße nicht zu denken. Während in den Städten immer öfter auch Fahrbahnen auf den Straßen den Fahrradfahrern überlassen werden, ist im ländlichen Gebiet die sicherste Bahn jene, die von der Autostraße getrennt ist. Wenn diese Wege – im doppelten Sinne – darüber hinaus eine Straße ungebremst kreuzen können, erhöht das nicht nur die Sicherheit, sondern auch die durchschnittliche Geschwindigkeit.

Brücken wie die zwei beschriebenen setzen mit ihrem schwungvollen Design ein architektonisches Zeichen für die unten durchfahrenden Autos und halten Fahrradfahrer und Fußgänger in Schwung, damit sie schneller und sicher zu ihrem Ziel kommen – selbstbewegt und emissionsfrei!

2. Juni 2022 Spectrum

Wo der Kaiser Verträge aufsetzte

Wie kommt es, dass in touristischen Gegenden nicht nur Urlaub gemacht wird, sondern bisweilen historische Entscheidungen getroffen wurden? Über den Bauboom in Kurorten wie Baden, Gastein und Sinaia und ihre politische Relevanz.

Vertieft man sich in die Geschichte von berühmten Kurorten, fällt schnell auf, dass diese oft von den jeweiligen Machthabern protegiert wurden. Wie politisch bedeutsam sie waren, ist auch an den dort getroffenen Vereinbarungen abzulesen, etwa den „Karlsbader Beschlüssen“ 1818 oder der „Gasteiner Konvention“ 1865. Die Kur als unauffällige Rückzugsoption, um zufällig auf wichtige Persönlichkeiten zu treffen, war ein probates Mittel, hintergründig Politik zu machen, und ein wesentlicher Faktor, warum im 19. Jahrhundert in den Ausbau dieser ersten Tourismusorte kräftig investiert wurde.

Bereits Ende des 18. Jahrhunderts hatte der spätere Kaiser Franz II./I. das Badewesen an mehreren Orten des Habsburgerreiches gefördert. Geprägt durch seinen Vater, Großherzog Peter Leopold, der in den italienischen Kurort Montecatini investiert und diesen ab 1772 im klassizistischen Stil neu errichtet hatte, begab sich Franz nach Böhmen, um 1793 ein neues Bad zu gründen, das nach ihm Franzensbad genannt wurde und fortan nebst Marien- und Karlsbad das Westböhmische Bäderdreieck bildete. Er selbst weilte ab 1796 jeden Sommer in Baden bei Wien zur Kur, postulierte das „Badner Projekt“ und beauftragte namhafte Architekten wie Josef Kornhäusel und Charles von Moreau mit der Modernisierung zu einem mondänen Kurort klassizistischer Prägung. Zur gleichen Zeit nahm er sich auch des Wildbades Gastein an, das 1800, nach der Vertreibung der Erzbischöfe von Salzburg, Österreich zufiel und als Tourismusort entwickelt werden sollte. Hier wollte man aber nicht nur höfische Finanzmittel eingesetzt wissen, sondern Investoren gewinnen: Auf rechtlicher Basis des neu geschaffenen „Franziszäischen Katasters“ trat der Staat als Entwickler auf, indem den Einheimischen Wiesen abgekauft, diese parzelliert und Interessenten zum Verkauf angeboten wurden. Da für Franz II./I. sein „Badner Projekt“ ab 1804 Priorität hatte, sollte sein Bruder, Erzherzog Johann, die Geschäfte in Gastein vorantreiben.

Renditensteigerung dank Eisenbahn

Dieser war der Erste, der dem ortsansässigen mächtigen Gastwirt Peter Straubinger ein Grundstück abkaufte und 1830 ein schlichtes Sommerdomizil, die Villa Meran, erbauen ließ. Der Habsburger ging mit gutem Beispiel voran und sollte wohl in Absprache mit seinem Bruder Franz, nun Kaiser von Österreich, Gleichgesinnte ins Gasteinertal locken. Die Rechnung ging auf: Innerhalb kürzester Zeit wurde in Bad Gastein ein Bauboom entfesselt, der bis zum Ersten Weltkrieg anhielt. Konträr zu Baden jedoch, das eine gewachsene städtische Struktur aufzuweisen hatte, wurden im Wildbad mit seinem pittoresken Wasserfall ohne städtebaulichen Zusammenhang einzelne Kurhäuser in die Höhe gezogen. Städtische Architektur wurde nachgereicht, nachdem Investoren mit dem Eisenbahnbau die Chance erkannt hatten, ihre Renditen zu steigern.

Szenenwechsel: ein Kurort in den Bergen. Warum hat man in Sinaia in den Karpaten, zwischen Bukarest und Braşov (Kronstadt) gelegen, den Eindruck, in einem Hybrid aus Bad Gastein und Bad Ischl zu sein? Und was hat das mit Deutschland zu tun? Am Beispiel des Städtchens Sinaia wird exemplarisch die politische und wirtschaftliche Bedeutung von Kurorten anschaulich: In Rumänien wurde aus gesamteuropäischem Interesse 1866 der deutsche Prinz Karl von Hohenzollern-Sigmaringen als Fürst von Rumänien eingesetzt und durch eine Volksabstimmung legitimiert. Als Karl sich mit seiner Frau, Elisabeth, die unter dem Pseudonym Carmen Sylva als Dichterin erfolgreich war, im neuen Land niederließ, suchte er bald nach einem schönen Plätzchen in den Bergen. Auf einer Passhöhe im Tal des Flusses Prahova und am Fuße des Bucegi-Gebirges wurde er fündig. Diese unbebaute Gegend hatte zwar keine Heilquellen, aber gute Luft und ward rasch auserkoren, als Luftkurort entwickelt zu werden. 1864 kaufte eine Investorengesellschaft 35 Hektar Land an, wollte ein Erholungsheim errichten, gleichzeitig jedoch Grundstücke verkaufen, und da kam der deutsche Fürst, der 1881 zu König Carol I. von Rumänien gekrönt werden sollte, gerade recht. 1871 wurde das erste Hotel, Hotel Sinaia, eröffnet, geführt vom Österreicher Josef Ungarth, der bis dahin für den Investor Prinz Dimitri Ghica tätig gewesen war.

Dann sollte dem künftigen König ein Schloss errichtet werden: Man holte aus Wien den Architekten Wilhelm von Doderer, der als Reverenz an die Abstammung des Fürsten eine deutsch-romantisierende Architektur mit Fachwerk und einer Unzahl von Türmchen schuf. Platziert wurde es am Hang oberhalb des Klosters; für unterhalb beauftragte man einen Schweizer Landschaftsplaner, N. N. Eder, den Bebauungsplan für die neue Ortschaft anzulegen, mit breitem Boulevard, Kurpark und geschwungenen Gässchen den Hang hinauf.

Geplant auf der „grünen Wiese“

Doderers Sohn Richard war in Deutschland in der Eisenbahnindustrie tätig, und so war es nicht verwunderlich, dass ab 1905 ein Schienenstrang durch das Prahova-Tal gelegt wurde. Schon zuvor, sobald der frisch gekrönte König Schloss Peleş 1883 bezogen hatte, war Sinaia zum Treffpunkt für die Elite aus Politik und Wirtschaft geworden. Auch das war gesteuert worden, indem einflussreichen Personen aus Bukarest nahegelegt worden war, in Sinaia ein Grundstück zu kaufen und eine Villa zu errichten. Allerdings musste der stringente Bebauungsplan des alleinigen Investors eingehalten werden, kein Gebäude durfte das Schloss des Königs übertrumpfen. Am angelegten Kurpark entstanden später das obligate große Hotel, Hotel Palace, und ein Casino. Somit war das baulich und programmatisch perfekte Ambiente realisiert, das ein nobler Tourismusort der Jahrhundertwende bieten sollte. Umgesetzt wurde dies alles in nur 30 Jahren, 120 Kilometer nördlich von Bukarest, geplant auf der „grünen Wiese“.

Noch immer spürt man in Sinaia, dass hier ein Kurort stringent „aufgesetzt“ wurde, ganz anders als in Bad Gastein, wo ohne Bebauungsplan jeder baute, wie er wollte. Apropos: In Gastein gibt es den König-Carol-Weg, denn der rumänische König war von 1902 bis 1905 im Sommer im Hotel Kaiserhof zu Gast. Es gab wohl gute politische Gründe, sich abseits von Sinaia zu treffen. Ironie des Schicksals ist, dass keine zehn Jahre später die Kriegserklärung an Serbien in Bad Ischl verfasst wurde, wie im Buch „Bad Ischl – mit und ohne Kaiser“ (Wimberger/Rapp) nachzulesen ist: „In den glanzvollen Kulissen der Villa fassten Minister, Beamte und der Kaiser selbst Beschlüsse, die den Untergang jener Welt bedeuten werden, der sie angehörten.“ Zu dieser Welt gehörte die Exklusivität der elitären Kurorte – 100 Jahre später können diese auch von der Allgemeinheit genossen werden.

3. Februar 2022 Spectrum

Wohnen wie in den 1960ern

Weil der „brutalistische“ Baustil eines Wohnhauses in Wien-Mauer dem neuen Besitzer nicht gefällt, droht der Abbruch. Aber was ist mit dem kulturellen Wert? Sichtbeton sollte als anregend verstanden werden – genau wie die Wotrubakirche zum Denken animiert, die sich nur zwei Gassen weiter findet.

Um ungeschminkte Betonarchitektur zu erfassen, kommen Architekturinteressierte seit fünfzig Jahren auf den Georgenberg in Wien-Mauer. Dort steht die Kirche „Zur Heiligsten Dreifaltigkeit“ (1976), bekannt als „Wotrubakirche“. Das Bauwerk aus aufeinander geschachtelten Stahlbetonquadern mit Glasfeldern in den Zwischenräumen imponiert noch immer mit archaischer Kraft, die der Bildhauer Fritz Wotruba und der Architekt Fritz Gerhard Mayr der Raumplastik verliehen haben. Diese einzigartige Form für einen Kirchenbau hatte Wotruba bereits zehn Jahre zuvor für einen anderen Ort entwickelt; er wurde also nicht vom Genius Loci inspiriert, obwohl es auf dem Georgenberg zu der Zeit bereits Bauten in Sichtbeton gab.

Einerseits wurde die Kirche auf einem Grundstück des Bundes errichtet, wo „gewaltige Bagger die Betonsockel der Kaserne der Deutschen Wehrmacht aus dem Boden rissen“, wie im Liesinger Bezirksführer von Rudolf Spitzer nachzulesen ist. Bruno Kreisky und Bürgermeister Leopold Gratz hätten sich persönlich dafür eingesetzt, dass Wotrubas Wunsch in Erfüllung ging, einen Bauplatz zu finden, wo der Blick weit ins Land reichte. Dies war auf der Anhöhe in Mauer gegeben, und die Errichtung eines Sakralbaus, entworfen vom wichtigsten österreichischen Bildhauer seiner Zeit, bot eine gute Gelegenheit, die Ruinen der Nazi-Kaserne abzureißen. Noch immer zeugen in der Nähe der Kirche verwitterte Betonmauern vom Kasernengelände, der Blick ins Umland ist mittlerweile zugewachsen.

„Die drei Aquarien vom Wittmann“

Andrerseits gibt es zwei Gassen weiter ein Einfamilienhaus, dem der Blick über die Weingärten von Mauer und Perchtoldsdorf hinweg bis ins Wiener Becken noch gegeben ist. Es ist ein Haus aus Stahlbeton, wie es selten zu finden ist, und es stand schon hier, bevor die Wotrubakirche gebaut wurde: Das Haus Stricker, errichtet 1968, findet sich in Friedrich Achleitners Kompendium zur „Österreichischen Architektur im 20. Jahrhundert“, ist es doch eines der seltenen privaten Sichtbetonhäuser in Österreich.

Als Architekt ist in dem Buch ein anderer genannt als jener, von dem eine Projektkundige zu erzählen weiß, war dieses doch eines von drei Häusern auf gartenseitig benachbarten Grundstücken, die vom selben Architekten, Karl Wittmann, geplant worden waren. Die drei Familien seien befreundet gewesen, der Architekt bewohnte selbst eines der Häuser. „Die drei Aquarien vom Wittmann“ wurden sie genannt, wohl wegen der kubischen Form, wenn auch unterschiedlich gestaltet: eines in Sichtbeton, eines verputzt und eines mit keramischer Fassade. Wittmans Mutter, Luise, die ebenfalls dort wohnte, war Künstlerin und hat in zumindest zwei dieser Häuser Werke hinterlassen. Dieses Ensemble besteht noch immer, aber womöglich nicht mehr lange.
Das zweigeschoßige Haus Stricker hat wie bei Wotrubas Kirchenbau eine beeindruckende plastische Wirkung: An der Fassade sind die rauen Bretter der horizontalen Holzschalung des Betons abgebildet, was die betontypische natürliche Textur verleiht. Mit einer Brüstung mit überdimensioniertem Speiher zur Entwässerung der südwestseitig vorgelagerten großen Terrasse und einem übereck greifenden Relief an der Fassade wird die Positiv-Negativ-Wirkung des gegossenen Betons eingesetzt, um den Hauseingang rechts zu betonen.

Die auch formal schwere Terrasse steht auf schmalen Stahlstützen, darunter gibt eine vollflächige Übereckverglasung den Blick ins Wohnzimmer und bis in den hinter dem Haus liegenden Garten frei. Das Gebäude ist kompakt, quaderförmig und flach gedeckt und mit den rostbraunen Fensterprofilen sowie Wandverschalungen ein perfektes Abbild der Moderne der 1960er-Jahre. Man möchte fast sagen, es ist formvollendet: ein schlichter, kantiger Bau mit einer starken künstlerischen Geste zur Straße hin, der sich mit seiner patinierten Sichtbetonfassade gegenüber dem Grün des Gartens zurücknimmt. Genau dieses Haus soll nun abgerissen werden. Dass neue Besitzer ihr Wohnhaus spezifisch geplant haben wollen, ist prinzipiell verständlich, zudem schätzt nicht jeder „Hausbenutzer“ die Moderne. Manchmal hängen an Bauten persönliche Geschichten, die – abgesehen von hohen Heizkosten und kaum einer Möglichkeit, die Sichtbetonmauern thermisch nachzurüsten, ohne die Architektur zu zerstören – auch eine finanzielle Last darstellen. Gleichzeitig hat sich neben Grundstücksspekulanten, die ohne Rücksicht auf „Stadtbildverluste“ alles wegreißen, was im Weg steht, um auf einem Grundstück die maximale Kubatur zu generieren (auf dem Grundstück des Hauses Stricker lässt dies die Bauordnung nicht zu), eine Käuferschaft entwickelt, die diese privaten Bauten retten will. Zumindest jene, die durch eine Erwähnung von Fritz Achleitner im österreichischen Architekturkanon „geadelt“ wurden, absolut erhaltenswürdig sind und mit finanziellem Ein- und innovativem Ansatz bei Haustechnik und Bauweise sicherlich zeitadäquat und stilaffin verbessert werden können.

Verschämt mit Styropor zugepappt

Wenn es nach den Vorstellungen der Aktionsgruppe „Bauten in Not“ geht, sollten einige von diesen rasch unter Denkmalschutz gestellt werden, damit nicht alle Gebäude verschwinden, die als „brutalistisch“ bezeichnet und damit eigentlich verunglimpft werden. „Für den Brutalismus, eine Architekturbewegung, die hauptsächlich in den 1960er-/1970er-Jahren auftrat, war die Verwendung von rohen Materialien als Gestaltungselemente und nicht rein als Werkstoffe für eine stabile Konstruktion charakteristisch“, wie in einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom Juli 2021 zur Unterschutzstellung des Kongresszentrums in Bad Gastein nachzulesen ist. Für dieses Bauwerk von Gerhard Garstenauer, geplant und wie die Wotrubakirche 1974 bis 1976 errichtet, wurde erst voriges Jahr bestimmt, dass „die Erhaltung des Objekts im öffentlichen Interesse gelegen sei“.

„Brut“ ist das Stichwort, nicht „brutal“: Als anregend sollte Sichtbeton (frz. béton brut) verstanden werden, so wie die Wotrubakirche unbestritten ein Meisterwerk ist, das zum Denken anregt und nicht als nackte Wahrheit missverstanden werden muss, verschämt mit Telwolle verhüllt, realiter mit Styropor „zugepappt“. Die Wahrhaftigkeit der Konstruktion ist dem Menschen zumutbar, könnte man in Abwandlung eines berühmten Zitates sagen – genau das Prinzip, das Fritz Wotruba mit seinem Entwurf realisieren wollte. Die Menschen verstehen das, sonst würden sie nicht zu diesem Bauwerk pilgern. Das Einfamilienhaus in Sichtbeton versteht sich als Teil unserer Kulturgeschichte und sollte unbedingt erhalten werden, wenn es baulich in Ordnung, kompakt und im Stil so cool ist wie das Haus von Karl Wittmann – noch dazu wenn es auf dem Georgenberg steht.

21. Oktober 2021 Spectrum

Wien und Klosterneuburg: Luxus am Donauufer

Ein Küstenspaziergang in Wien und Klosterneuburg zeigt: Leben am Wasser wird zur finanziell luxuriösen Angelegenheit – und der freie Zugang zur Donau immer mehr eingeschränkt.

Die Lockdowns haben für die Stadtbewohner:innen eine Beschäftigung populär gemacht, die nicht ohne Weiteres in den Arbeitsalltag integriert werden kann: das Flanieren durch leere Straßenzüge und das Wandern in Vororten und auf den Hausbergen. Als der Radius für Ausflugsziele behördlich eingeschränkt wurde, der Bewegungsdrang jedoch ausgelebt werden wollte, wurden Stadtwanderungen in der Kleingruppe gerne auf die Agenda gesetzt.

In Wien bieten sich 14 Stadtwanderwege an, und wer mit Nr. 1 beginnt, kann eine gemütliche Runde über den Kahlenberg spazieren. Wenn man diese Strecke um eine Schleife ausweitet, gelangt man ins benachbarte Klosterneuburg und ist auf dem Rückweg nach Wien entlang der Donau erstaunt, welche architektonischen Neuerungen sich präsentieren. Bereits auf der Rückseite des Kahlenbergs, den Josefsteig bergab schlendernd, kann man sich an alten spitzgiebeligen Häuschen und neuen flachgedeckten Bauten unterschiedlicher Stilrichtungen erfreuen, welche die Qualität der Hanglage eint. Spaziergänger:innen werden an dieser Stelle belohnt, denn es ist ein beeindruckendes Panorama, das sich Richtung Nordosten erschließt: über das Stift Klosterneuburg und die Auen der Donau hinweg auf den Wagram linkerhand, die Burg Kreuzenstein mittig und auf Donaustrom und Bisamberg rechterhand. Da fällt der Abstieg nach Weidling fast schwer, wenn der Blick mit jedem Schritt an Weite verliert.

Am Donauufer angekommen, führt der Weg zurück nach Wien und hält für die architekturinteressierten Flaneur:innen einige neue Objekte bereit: Die „Cabanas Kuchelau“ stehen am Ufer des Kuchelauer Hafenbeckens und sind schicke, schwarz getäfelte zweigeschoßige Hütten mit 42 Quadratmeter Nutzfläche und Dachterrasse, dicht an dicht aufgefädelt und über einer Schotterfläche aufgestelzt. Ostseitig zum Wasser hin ist jeweils ein kleines Holzdeck vorgelagert und eine Loggia ausgebildet, um Privatsphäre herzustellen, ein Detail, das man von den konventionellen Wiener Kabanen, wie stromabwärts im Gänsehäufel, kennt. Diese sind zwar bedeutend kleiner, nämlich nur zwei Quadratmeter groß, beschattet von altem Baumbestand, umgeben von Wiesen und der Alten Donau und nach wie vor ein beliebtes Kleinod zum Ausspannen – die jahrelange Wartezeit auf ein mietbares Hütterl mit gedecktem Vorplatz zeugt von deren Beliebtheit.

Ein wesentlicher Unterschied zu den „Cabanas“ ist allerdings der Preis. Während im städtischen Bad auf Leistbarkeit geachtet wird, kostet die Hütte auf Pachtgrund in Uferlage in der Kuchelau 290.000 Euro. Die London Docklands sind es zwar nicht, aber die Verwertung der Grundstücke am schmalen Hafenbecken, früher mit Werften und Industriebetrieben bebaut, wie einem Stadtplan von 1929 im Klosterneuburger Stadtarchiv zu entnehmen ist, lässt erahnen, dass Investoren hier angelegt haben. Der Kuchelauer Hafen wurde Ende des 19. Jahrhunderts durch Errichtung eines Dammes parallel zur Donau ausgebildet, um den Schiffen als Wartebereich zu dienen, bevor sie nach Wien einfuhren. Neben Fabriken siedelten sich die in Mode gekommenen Ruderklubs mit ihren Bootshütten an, denn das gut zwei Kilometer lange und 50 bis 80 Meter breite Hafenbecken war ein günstiger Ort für Wassersportler:innen, im Boot oder im Badeanzug: „Sie träumen vom nächsten Sonntag, der ihnen Wasser, Luft und Sonne bringen wird“, wie im Artikel „In der Kuchelau“ von 1929 nachzulesen und auch heutzutage zutreffend ist.

Im Zweiten Weltkrieg erhielt der Hafen mit Errichtung der Marinekaserne direkt am Ufer militärische Bedeutung. Die Auen vor Klosterneuburg waren seit der Donauregulierung mit militärischen Anlagen bebaut, wovon die Namensgebung der „Pionierinsel“ drei Kilometer oberhalb der Kuchelau noch immer zeugt. Während dort kleine Holzhütten auf Stelzen kunterbunt nebeneinanderstehen, gerät die Kuchelauer Uferstraße optisch zu einem Sperrgebiet. Nicht nur die Tegetthoff-Kaserne wurde zu Luxuswohnungen umgebaut, nördlich davon, direkt anschließend an die „Cabanas“, schottet eine mehrgeschoßige Wohnbebauung zum Ufer hin ab. Auf dem ehemaligen militärischen Gelände südlich der jetzigen „Mietskaserne“ ragen kantige Spundwände aus dem Erdreich und zäunen eine Baustelle mit dicht an dicht betonierten Rohbauten ein. Zu statisch und abweisend sind die profilierten Stahlplatten, als dass Richard Serra daran eine Freude hätte, wobei dieses Readymade ohnehin temporär ist, wenn nach Ende der Bauarbeiten die Spundwände bodengleich abgeschnitten werden und der ewigen Baugrubensicherung gegen eindringendes Grundwasser dienen. Ein Energiekreis der anderen Art.

„The Shore“ nennt sich das Projekt im Luxussegment, und der Flaneur fragt sich umgehend, ob es nicht besser „The Edge“ oder vielmehr „Over the Edge“ heißen sollte: Hat man hier den Wagram mit einer Küste verwechselt, womöglich den Hafen mit einem Haff oder gar den Schutzdamm mit einer Nehrung? Ein Blick auf die Verkaufsseite der Errichtergesellschaft lässt dies vermuten, denn die Startseite zeigt, dass die Kleingartenhäuschen vis-à-vis am Ufer des Dammes zum Donaustrom kurzerhand ausgeblendet – um nicht zu sagen: ausradiert – wurden, sie hätten wohl den Blick in die vermeintliche Parklandschaft gestört. Eine Steilküste ist es nicht, auf der die Luxuswohnungen errichtet werden, vielmehr ein Flussufer, daher stellt sich die Frage zur potenziellen Hochwassergefahr. Seitens der MA 45 – Wiener Gewässer wird beruhigt, das Wasser könne sich ausreichend ausweiten, Überschwemmungen der Häuser oder Tiefgaragen seien nicht zu befürchten. Ein Foto von 2002, das von Barbara Weiss (Stadtarchiv Klosterneuburg) gefunden wurde, zeigt zwar das Hochwasser an der Kasernenmauer, aber womöglich ist dies Teil der Marketingstrategie von „Living the Shore Way of Life“: Ein wenig Strombad-Gefühl gehört wohl dazu, wenn nach dem Hochwasser die Gärten von Schlamm befreit werden müssen und die Gelsenbrut gedeiht.

Ein Verweis auf das vormalig wilde Ufer, das Raum für Hochwasser, Fauna und Flora bot, ist am nördlichen Hafenende auf einem Schild zu finden: „Reptilienschutzzone – Betreten verboten!“ Nachforschungen ergeben, dass es sich hierbei um Ersatzstrukturen zur Arterhaltung der Würfelnatter handelt, die bislang an den Uferböschungen des Kuchelauer Hafens und „im Wiesenbereich der Kaserne“ ihren Lebensraum hatte. Die Schlangen verbleiben artgeschützt in Nachbarschaft der Luxuswohnungen – wäre da nicht „Wild Coast“ ein sinnstiftender Projektname gewesen? Wien ist jedenfalls um eine virtuelle tektonische Attraktion reicher, und die Stadtwanderung kann zum Küstenspaziergang umformuliert werden. Schade allerdings, dass diese „Küste“ immer mehr verbaut und für die Allgemeinheit der Wasserzugang zusehends eingeengt wird.

13. August 2021 Spectrum

Wenn der Dom grün sieht

Die Stadt Wien scheint das Thema Überhitzung immer noch nicht ernst zu nehmen. Sie sollte auf die Kunst hören: Mario Terzic möchte den Stephansdom begrünen. Der Name seines Projekts: Franziskusgarten.

Als Bewohner:in von Wien kann man prinzipiell nicht klagen, die Stadt bietet im Sommer viele Qualitäten, die andere Großstädte vermissen lassen. Ein breites Angebot an Wasserzugängen ermöglicht es jenen, die sich nicht ins Grüne, in die Berge oder an einen See zurückziehen können, an einem Ufer zu entspannen, schwimmend sich abzukühlen und durch eine frische Brise vom Wasser her die Hitze der Büroräume zu vergessen. Kilometerlange Uferböschungen und Strände an Alter, Neuer und strömender Donau sind frei zugänglich, und seit einem Jahr wird sogar im Donaukanal wieder geschwommen. Ein Stück Freiraum mitten in der Stadt, das der „Schwimmverein Donaukanal“ für sportliche Wasserhungrige wiederentdeckt hat.

Entlang des Donaukanals leben Zehntausende Wiener und Wienerinnen, denen sich mit dem kanalisierten Donauwasser oft die einzige innerstädtische Option zur abendlichen Abkühlung eröffnet. In einem dieser dicht bebauten Grätzel, wo einige wenige Bäume in einem Park über einer Tiefgarage versuchen, frische Luft zu spenden, steigen die Temperaturen bei einer Hitzewelle ins Unerträgliche. Aber man weiß, dass die Gemeinde Wien einen Strategieplan entwickelt hat, um die aufgeheizten Straßenzüge mit erfrischendem Wind zu entschärfen. Die Hitzeinseln – „Urban Heat Islands (UHI)“ – sollen mit städtebaulichen Maßnahmen abgekühlt werden: etwa mit grünen Fassaden, Sprühnebelanlagen und Trinkbrunnen.

Es ist ein Maßnahmenpaket der Wiener Umweltschutzabteilung (MA22), das Hoffnung macht, es könnte sich etwas zum Besseren ändern – ohne Bürgerinitiative. Selbst als eine südwestseitig über den Donaukanal hinweg zum Stephansdom orientierte Feuermauer in eben diesem Grätzel schwarz angestrichen wird, denkt man noch nichts Böses. Vielleicht ist dies die Hintergrundfarbe für eine Fotovoltaikanlage, die an die bislang weiße, 200 Quadratmeter große Wandfläche appliziert wird?

Ernüchterung setzt nach zwei Tagen ein, als man erkennt, dass auf schwarzem Hintergrund die aufgemalte Silhouette eines Autos Formen anzunehmen beginnt. Kann das sein? Ist das eine bezahlte Werbefläche? Soeben hat man im UHI-Strategieplan auf Seite 35 gelesen, dass eines der Ziele sei, Gebäudeoberflächen aufzuhellen, weil „dunkle Oberflächen eine tendenziell geringere Reflexionsrate“ aufweisen – eine nicht unbedingt neue Erkenntnis –, und plötzlich ist die unter den aufgeheizten Gemäuern leidende Bevölkerung mit einem überdimensionalen Werbesujet auf schwarzem Grund konfrontiert, das die Köpfe zum Glühen bringt – vor Hitze oder Wut, sei dahingestellt. Zusätzlich wird dieses Sujet nachts mit einer Projektion bespielt, aus kolportierten vier Wochen Betriebszeit sind mittlerweile acht geworden, und die Werbung ist immer noch da.

Im Wissen, welch strenges Auge die für Stadtgestaltung zuständige MA19 auf andere Werbeträger wirft, wendet man sich an diese Stelle und fragt, wie eine positive Stellungnahme zu einer solchen schwarzen Wand denn möglich sei. Die Antwort, kurz gefasst: Es gebe keine Handhabe, dies zu untersagen. Auf Werbeflächen ist offensichtlich alles erlaubt, zumal sie von einem mächtigen Autokonzern angemietet wurde. Der Einwand einer sommerlichen Überhitzung in der Wohngegend bleibt unkommentiert, wobei versprochen wird, dass das Dezernat „Gestaltung öffentlicher Raum“ die Projektoren begutachten werde.

Empathischer fällt die Stellungnahme der MA22 aus, die die negativen mikroklimatischen Auswirkungen jener Fassade beim Namen nennt. Man sei bestrebt, „Informations- und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten, um auf die positiven Auswirkungen von Oberflächenbeschaffenheiten hinzuweisen“, und es werde an „Tools gearbeitet, um stadt- und mikroklimatische Veränderungen zukünftig besser steuern zu können“. Das E-Mail werde an die MA19 weitergeleitet, die zuständige Dienststelle. Ein sozialwissenschaftlich durchaus probates „Tool“ wäre, miteinander zu reden, um konzertiert als Stadt Wien solchen Unsinn schwarzen Werbehumors zu unterbinden oder schleunigst weiß übermalen zu lassen, aber davon steht nichts im Schreiben.

Solches Vordenken bleibt der Künstlerschaft überlassen, wie so oft, wenn das Nachdenken der Politik zu spät kommt. Wie erwähnt, liegt im Blickfeld der beschriebenen Hitzeinsel der Stephansdom; knapp 500 Meter Luftlinie ist er entfernt und nicht nur eines der Wahrzeichen von Wien, sondern ein in Bezug auf das Hitzethema beispielhaftes Bauwerk. Mitten im Stadtzentrum, wo kein Grün zu finden ist, flüchtet sich so mancher Tourist im Hochsommer in die Kühle der hohen gotischen Gemäuer aus Auer- und Mannersdorfer Sandstein. Was wäre, wenn man die systemimmanente Nachhaltigkeit augenscheinlich machte und etwa in Blickweite einer rückwärtsgewandten Autowerbung der Dom um ein (Bau-)Kapitel ergänzt würde und mit einem grünen Turm visionär imponierte?

Das dachte sich der Wiener Objektkünstler und Landschaftsdesigner Mario Terzic, als er jüngst ein Projekt vorschlug, das in jeder Hinsicht ein Aufzeiger ist: Er will den Nordturm des Stephansdoms fertigstellen, der Zeit entsprechend mittels tatsächlich grüner Architektur. „Franziskusgarten“ nennt er sein Projekt eines vertikalen Gartens in Form gotischer Fialen als Fertigstellung des unvollendeten Kirchturms und bezieht sich damit auf die Enzyklika von Papst Franziskus (2015): „Der Franziskusgarten ist kein Kunstwerk. Er ist die konsequente gartenarchitektonische Umsetzung der radikalen Botschaft Laudato si' zu den weltweiten Umweltschäden“, schreibt Terzic. Dies könne eine Erfüllung der Forderungen „über die Sorge für das gemeinsame Haus“ (Laudato si'), das Mutter Natur erbaut hat, sein und weithin sichtbar Symbolkraft ausstrahlen – positive wohlgemerkt, um auch geschwärzten Werbeflächen etwas Mächtiges entgegenzuhalten.

Das wäre kein Werbegag, sondern würde eine Programmatik verdeutlichen: Wir müssen im Stadtbild ökologisch vordenken und nicht oberflächliche Schwarzmalerei fördern, die direkte negative Auswirkungen auf die Lebensbedingungen in der Innenstadt hat. Wenn seitens der Stadt Wien Grünfassaden propagiert werden, könnte ein grüner Kirchturm der beste Werbeträger hierfür sein. So ein Projekt mitten in Wien könnte jedenfalls internationale Vorbildwirkung haben und dazu beitragen, die Großstadthitze mit kreativ-frischem Wind zu umwehen.

27. Oktober 2020 dérive

Die unbekannte Karriere der Moderne-Architektin Elizabeth Scheu Close

One of the largest oeuvres by an Austrian Modern architect happens to be almost unknown in Austria – how is that possible?

Eines der umfassendsten Gesamtwerke, das ein österreichischer Architekt der Moderne im Zeitraum von 1938–1991 aufweisen kann, ist in Österreich unbekannt – wie ist das möglich? Nun, es ist möglich, weil man diese architekturschaffende Person im Deutschen gendern sollte, denn diese ist eine Frau.

Man kennt Rudolf Schindler, Richard Neutra und Victor Gruen, aber eine Architektin? Elizabeth Scheu Close, nie gehört! Es ist eine spannende Geschichte, wie man im 20. Jahrhundert als Wienerin in der Architektur der Moderne in den USA reüssieren konnte, in der früheren Heimat jedoch nicht wahrgenommen wurde. Noch dazu, wenn man in einem von Adolf Loos geplanten Haus aufgewachsen ist!

Die renommierte amerikanische Architekturhistorikerin Jane King Hession hat in ihrem jüngst erschienenen Buch, Elizabeth Scheu Close – A Life in Modern Architecture die einmalige Geschichte einer mutigen jungen Frau aus Österreich erzählt, die 1932 zum Studium in die USA auswanderte und die erste und bedeutendste Architektin in Minnesota wurde. In dem Bildband werden erstmals das reichhaltige Œuvre und nachhaltige Wirken der Architektin, die über 50 Jahre lang aktiv war, umfassend dargestellt, ein repräsentativer Querschnitt durch ein Werk von 456 aufgelisteten Projekten. Ebenso hat Jane Hession ein sensibles biografisches Portrait verfasst, hatte sie doch noch Gelegenheit gehabt, mit Lisl, wie sie zeitlebens genannt wurde, persönliche Gespräche zu führen.

Elisabeth (später Elizabeth) Scheu, geboren 1912, ist in der Larochegasse 3 in Wien Hietzing aufgewachsen und war – im doppelten Sinne – stark durch ihr Elternhaus geprägt. Es waren ihre aufgeschlossenen Eltern gewesen, die Schriftstellerin und Verlegerin Helene Scheu-Riesz (1880–1970) und der Anwalt Gustav Scheu (1875–1935), die Adolf Loos mit der Planung ihres Hauses beauftragt hatten, das 1913 von Familie Scheu bezogen wurde. Elisabeth lebte bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr in dieser Architektur-Ikone, womit ihr das Leben in der Moderne quasi in die Wiege gelegt worden war. Je älter sie wurde, desto mehr begriff sie die Wirkungsmacht von Architektur, wie diese nicht nur zum Quell von Inspiration, sondern auch von Provokation werden kann, so wie sie das beim Haus Scheu erlebte.

Gegen Ende ihrer Schulzeit wusste Elisabeth Scheu, dass sie Architektin werden wollte, bereits damals fokussiert auf die aufkeimende Moderne. Die Prägung in einem Loos-Haus aufgewachsen zu sein hatte entschieden dazu beigetragen, nebst der Ermunterung durch die Eltern einen ihren Talenten entsprechenden Beruf anzustreben. Beides waren außergewöhnliche Faktoren einer weiblichen Biographie im bürgerlichen Wien der Zwischenkriegszeit.

Elisabeth Scheu begann ihr Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien 1930 – zehn Jahre, nachdem Frauen zum Studium zugelassen worden waren, immer noch eine Herausforderung. Die männerdominierte Fakultät legte den Kolleginnen konsequent Steine in den Weg. »Die wollten dort einfach keine Frauen«, erinnerte sich Elizabeth Scheu Close. Dies war einer der Gründe, dass sie für sich in Österreich keine Zukunft sah, der andere war der verstärkte Antisemitismus; Helene Scheu-Riesz war zwar als Quäkerin aktiv, aber sie entstammte einer jüdischen Familie. Im Jahr 1932 bestieg Elisabeth Scheu ein Schiff nach New York, um am MIT – Massachusetts Institute of Technology in Boston ihr Architekturstudium fortzusetzen und niemand konnte damals ahnen, dass sie in den USA bleiben und ihr Lebensmittelpunkt Minnesota werden würde.

Nach ihrem Studienabschluss 1935 arbeitete sie drei Jahre lang in Architekturbüros in Philadelphia und Minneapolis, bevor sie 1938 gemeinsam mit Winston Close (1906–1997), ihrem Studienkollegen am MIT und späteren Mann in Minneapolis ein Büro explizit für moderne Architektur eröffnete. Die beiden setzten diesen Plan auch um und hinterließen ein breit gefächertes, nachhaltiges Werk.

Der erste Planungsauftrag sollte ein erschwingliches Haus für drei junge Universitätsprofessoren sein, das diese als Wohngemeinschaft bewohnen wollten, eine Bauaufgabe, bei welcher Close & Scheu Architects, wie sie ihr Büro bis zu ihrer Hochzeit nannten, ihren Innovationsgeist beweisen konnten: Ein Haus mit Flachdach, um überflüssige Kubatur zu sparen. Der boxy style war für Minnesota nicht nur wegen seiner schneereichen Winter eine Besonderheit, sondern wegen der reduzierten Form eine Provokation, wurde es doch in der Wiederverkäuflichkeit in Frage gestellt. So erging es Elizabeth Scheu Close ähnlich wie Loos – visionäre Architektur war ein Grund zur Anfeindung. Das Holzhaus, das immer noch steht, besticht in seinem Selbstverständnis einer unaufgeregten Moderne, die ihre Wiener Spuren nicht leugnen kann.

Während des Zweiten Weltkriegs ließen Elizabeth and Winston Close, Architects ihre Befugnis ruhen und Scheu Close arbeitete für die Page & Hill Defense Company, die vorfabrizierte Häuser für Kriegsheimkehrer errichtete. Sie war bis in die späten 1950er Jahre für diese Firma als Architektin tätig, mehr als tausend Einfamilienhäuser wurden nach ihren Plänen errichtet. 1946 wurde Winston Close zum leitenden Architekten der Campusplanung in Minneapolis bestellt, während Scheu Close alleinverantwortlich das Büro führte. Die Bauaufgaben waren ab dann vielfältig, von zahlreichen Einzelhäusern und Wohnbauten, über Spitäler bis zu Firmengebäuden, oder dem Wettbewerb für das Franklin D. Roosevelt Memorial in Washington im Jahr 1960. Elizabeth Scheu Close war in den USA eine der ersten Frauen in der Branche und hatte die Chance, moderne Architektur im größeren Maßstab umzusetzen. Außergewöhnlich dabei ist die ungebrochene Karriere von 1936 bis 1991, während Europa durch den Nationalsozialismus dem Antimodernismus unterworfen wurde.

2002 wurde sie vom AIA – American Institute of Architects für ihr Lebenswerk geehrt, »das von wesentlicher Bedeutung für das Architekturgeschehen in Minnesota war und dessen Baukultur mitbestimmt hat.« Jane Hessions Verdienst ist es, ein Stück amerikanischer Architekturgeschichte erforscht und eine Strömung der Moderne österreichischer Provenienz in einem großartigen Buch öffentlich gemacht zu haben hat.


Jane King Hession
Elizabeth Scheu Close –
A Life in Modern Architecture Minneapolis/London:
University of Minnesota Press, 2020 256 Seiten, ca. 35 Euro

28. August 2020 Spectrum

Elizabeth Scheu Close: Wie die Wiener Moderne nach Minnesota kam

Die Moderne war ihr in die Wiege gelegt: Aufgewachsen in einer Hietzinger Villa von Adolf Loos, wurde Elizabeth Scheu Close (1912 bis 2011) die erste und bedeutendste Architektin in Minnesota. Erinnerung an eine in ihrer Heimat Vergessene.

Eines der umfassendsten Gesamtwerke, das ein österreichischer Architekt der Moderne im Zeitraum von 1938 bis 1991 aufweisen kann, ist in Österreich unbekannt – wie ist das möglich? Nun, weil dieser Architekt eine Architektin war. Man kennt Rudolph Schindler, Richard Neutra und Victor Gruen, aber eine Architektin . . .? Elizabeth Scheu Close, nie gehört!

Als ich im Jänner 2016 von einem sechsmonatigen Gastprofessur-Aufenthalt an der University of Minnesota aus Minneapolis zurückkehrte, hatte ich das Wissen um die Architektin Elizabeth Scheu Close und ihre einzigartige Geschichte im geistigen Gepäck. Ich begann, in der architekturwissenschaftlich ausgerichteten Kollegenschaft nachzuforschen, wer von der österreichisch-amerikanischen Architektin Kenntnis hatte. Es stellte sich heraus: Niemand kannte sie, weder als in den USA renommierte Architektin noch als Nachfahrin einer bedeutenden Familie in der Geschichte der österreichischen Sozialdemokratie.

Selbst im jeweiligen Wikipedia-Eintrag ihrer bekannten Eltern, der Schriftstellerin und Verlegerin Helene Scheu-Riesz (1880 bis 1970) und des Anwalts Gustav Scheu (1875 bis 1935), wurde lediglich der Sohn, Elizabeths Bruder, Friedrich Scheu (1905 bis 1985), erwähnt. Dass es eine in den USA lebende Tochter gab, die erst 2011 im 100. Lebensjahr verstarb, wurde schlichtweg ignoriert, ein gängiger Missstand bei der öffentlichen Wahrnehmung „großer Töchter“ Österreichs. Das konnte mittlerweile korrigiert werden. Und Architekturkundigen wird der Name Scheu anderweitig präsent sein: Helene und Gustav Scheu hatten Adolf Loos mit der Planung ihres Hauses in Hietzing beauftragt, das 1913 fertiggestellt wurde.

Elisabeth (hier noch mit „s“), geboren 1912, ist im Haus Scheu von Adolf Loos in der Larochegasse 3 aufgewachsen und lebte bis zu ihrem 20. Lebensjahr in dieser Ikone der modernen Architektur. Sie studierte an der Technischen Hochschule in Wien und am Massachusetts Institute of Technology in Boston Architektur und hatte im Jahr 1938 den für die damalige Zeit verwegenen Plan, in Minnesota gemeinsam mit ihrem Studienkollegen am MIT und späteren Mann, Winston Close (1906 bis 1997), ein Büro für moderne Architektur zu eröffnen. Die beiden hinterließen ein breit gefächertes, nachhaltiges Werk, das jüngst aufgearbeitet wurde.

Es ist höchst an der Zeit, diese einmalige Geschichte einer mutigen jungen Frau aus Österreich zu erzählen, die 1932 zum Studium in die USA auswanderte und die erste und bedeutendste Architektin in Minnesota wurde, oder wie die Architekturhistorikerin Jane King Hession schreibt: „Lisls außergewöhnliche Leistungen sind zu wichtig, um ein gut gehütetes Geheimnis zu bleiben.“

Im April dieses Jahres ist Jane Hessions Buch „Elizabeth Scheu Close – A Life in Modern Architecture“ in der University of Minnesota Press erschienen, ein Bildband, der erstmals das reichhaltige Œuvre und nachhaltige Wirken einer Architektin umfassend darstellt, die mehr als 50 Jahre lang aktiv war. Es ist ein repräsentativer Querschnitt durch ein Werk von 456 ausgewählten Projekten, zahlreiche Fotos und Pläne zeugen von der Diversität der von ihr geplanten Bauten. Ebenso hat Jane Hession ein sensibles biografisches Porträt verfasst, hatte sie doch noch Gelegenheit gehabt, mit „Lisl“, wie sie zeitlebens genannt wurde, persönliche Gespräche zu führen.

Spielen auf abgetrepptem Gebäude

Elisabeth Scheu war stark durch ihr Wiener Elternhaus geprägt – und dies gleich im doppelten Sinne: Leben in der Moderne war ihr quasi in die Wiege gelegt, ihre gesamte Jugend war sie von getäfelt schützendem Interieur Loosscher Planung umgeben und konnte auf einer der Terrassen des abgetreppten Gebäudes spielen, wie Fotos aus dem Familienarchiv zeigen. Je älter sie wurde, desto mehr begriff sie die Wirkungsmacht von Architektur, wie diese nicht nur zum Quell von Inspiration, sondern auch von Provokation werden kann. Wie beim Haus Scheu: Ein Terrassenhaus mit Flachdach war Anfang des 20. Jahrhunderts – in unmittelbarer Nachbarschaft von historisierenden oder Jugendstilvillen – zweifellos provokant. „Außen pfui – innen hui“, zu diesem Aphorismus ließ sich einer der zahlreichen im Hause Scheu Eingeladenen hinreißen, wie dem Gästebuch zu entnehmen ist.

Gegen Ende ihrer Schulzeit wusste Lisl, dass sie Architektin werden wollte, bereits fokussiert auf die aufkeimende Moderne. Die Prägung, in einem Loos-Haus aufgewachsen zu sein, hatte entschieden dazu beigetragen. Ebenso wichtig waren ihre aufgeschlossenen Eltern. Helene Scheu-Riesz war eine unternehmerisch ehrgeizige Frau, die sich als Autorin, Übersetzerin und Verlegerin von Kinderbüchern einen Namen gemacht hatte. Sie engagierte sich in Friedens- und Sozialhilfeprojekten und in der Frauenbewegung. Lisl war sie das Vorbild einer erwerbstätigen Mutter – Anfang des 20. Jahrhunderts im bürgerlichen Wiener Umfeld eine Seltenheit. Es war für Lisl normal, einen ihren Talenten entsprechenden Beruf anzustreben. Gustav Scheu war Rechtsanwalt, aktiver Sozialdemokrat und in der Zwischenkriegszeit Politiker im „Roten Wien“. Er war Mitbegründer der Zentralstelle für Wohnungsreform. Die politische Überzeugung ihres Vaters, die triste Wohnungssituation der Arbeiterschaft verbessern zu müssen, machten nachhaltigen Eindruck auf Lisl. Ihr späteres Berufsleben war geprägt von einem sozialen Anspruch bei ihren Bauprojekten – die Bauten sollten den Menschen dienen und nicht umgekehrt.

Von ebensolchem sozialen Geist getragen war die Adresse Larochegasse 3, wo bekannte Persönlichkeiten aus Kultur und Politik ein und aus gingen. Das Gästebuch des Hauses Scheu liest sich wie ein Who's who der Intellektuellen seiner Zeit. Ein mehrmaliger Gast im Hause Scheu war der US-amerikanische Geschäftsmann und Philantrop Edward Filene, der in Boston seinen Firmensitz hatte und Lisl später ermuntern sollte, in die USA zu gehen, um am MIT weiterzustudieren.

Elisabeth Scheu schrieb sich an der Technischen Hochschule Wien für das Fach Architektur ein. 1930, mehr als zehn Jahre, nachdem Frauen zum Studium zugelassen worden waren, noch immer eine Herausforderung. Die männerdominierte Fakultät legte den Kolleginnen konsequent Steine in den Weg. „Die wollten dort einfach keine Frauen“, erinnerte sich Lisl Scheu Close und beschrieb die Mechanismen der Frauenfeindlichkeit: subtil, indem keine eigenen Toiletten zur Verfügung gestellt wurden, und direkt, wenn Studentinnen daran gehindert wurden, sich zu Vorlesungen anzumelden oder ihre Leistungen prinzipiell mit schlechten Noten entwertet wurden. Durch die einsetzende nationalsozialistische Unterwanderung der Universitäten kam es zu Störungen von Vorlesungen. Mehr und mehr war die öffentliche Stimmung von Antisemitismus geprägt, die Lage wurde für die Scheus gefährlich: Helene Scheu-Riesz war zwar als Quäkerin aktiv, aber sie entstammte einer jüdischen Familie. Im Jahr 1932 bestieg Lisl ein Schiff nach New York, um am MIT ihr Architekturstudium fortzusetzen. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass sie in den USA bleiben und ihr Lebensmittelpunkt Minnesota werden würde.

Nach ihrem Studienabschluss 1935 arbeitete sie drei Jahre lang in Architekturbüros in Philadelphia und Minneapolis, bevor sie 1938 gemeinsam mit Winston Close den ersten Planungsauftrag erhielt: ein erschwingliches Haus als Wohngemeinschaft für drei junge Universitätsprofessoren. Dies war eine Bauaufgabe, bei der Close & Scheu Architects, wie sie ihr Büro bis zu ihrer Hochzeit nannten, ihren Innovationsgeist beweisen konnten: Es sollte ein Haus mit Flachdach werden, um überflüssige Kubatur zu sparen. Der boxy style war für Minnesota nicht nur wegen seiner eiskalten und schneereichen Winter eine Besonderheit, sondern wegen der reduzierten Form eine Provokation: Es konnte kein Kredit für die Baukosten aufgenommen werden, da das Haus ohne Giebeldach als unverkäuflich und daher wertlos beurteilt wurde. So erging es Lisl ähnlich wie Adolf Loos – visionäre Architektur war ein Grund zur Anfeindung. In Minneapolis nicht anders als ein Vierteljahrhundert zuvor in Wien. Das Holzhaus, das trotzdem gebaut und später für neue Besitzer erweitert wurde, mit seiner kostengünstigen Außenhaut und den mit warmen Materialien gestalteten Innenräumen, steht immer noch. Es besticht in seinem Selbstverständnis einer unaufgeregten Moderne, die ihre Wiener Spuren nicht leugnen kann.

Während des Zweiten Weltkriegs ließen Elizabeth and Winston Close, Architects ihre Befugnis ruhen. Winston diente als Reservist in der US Navy, Lisl arbeitete für die Page & Hill Defense Company, die vorfabrizierte Häuser für Kriegsheimkehrer errichtete. Sie war bis in die späten 1950er für diese Firma als Architektin tätig, mehr als 1000 Einfamilienhäuser wurden nach ihren Plänen errichtet. Dies ermöglichte ihr ein internationales Projekt, war es doch ein von ihr entworfenes Haus, das im Auftrag des US-Staates nach Europa verschifft und 1950 bei der deutschen Industrieausstellung in Berlin gezeigt wurde.

Karriere von 1938 bis 1991

Im Jahr 1946 wurde Winston Close zum leitenden Architekten der Campusplanung in Minneapolis bestellt, eine Funktion, die er bis 1971 innehatte. Während Winston entscheidend die Campusarchitektur prägte, führte Lisl alleinverantwortlich das Büro, sowohl die Planung wie auch das Geschäftliche betreffend. Die Bauaufgaben reichten von Einzelhäusern und Wohnbauten über Spitäler bis zu Firmengebäuden.

Elizabeth Scheu Close hatte in ihrer beruflichen Laufbahn in den USA – auch dort war sie eine der ersten Frauen in der Branche – die Chance, ihr architektonisches Können auch im größeren Maßstab umzusetzen. Außergewöhnlich dabei ist eine ungebrochene Karriere von 1938 bis 1991. Diese Kontinuität gab es ideologie- und kriegsbedingt in Europa nicht – schon gar nicht bei einer Frau und Mutter von drei Kindern. 2002 wurde sie vom American Institute of Architects für ein Lebenswerk geehrt, „das von wesentlicher Bedeutung für das Architekturgeschehen in Minnesota war und dessen Baukultur mitbestimmt hat“.

Jane Hessions Verdienst ist es, ein Stück amerikanischer Architekturgeschichte erforscht und eine Strömung der Moderne österreichischer Provenienz in einem großartigen Buch öffentlich gemacht zu haben. Der Mehrwert für die hiesige Architekturrezeption ist, wie moderne Architektur in den USA realisiert werden konnte, während Europa durch den Nationalsozialismus dem Antimodernismus unterworfen wurde – „A Life in Modern Architecture“ ist die Gegenthese dazu. Elizabeth Scheu Close hatte durch Loos geprägt ihr eigenes Los bestimmt und der Moderne in Minnesota zum Durchbruch verholfen.

28. April 2018 Spectrum

Sehen und gesehen werden

Leben wie in einem James-Bond-Film: Das Einfamilienhaus „Golden Eye“ an der Côte d'Azur fasziniert nicht nur mit dem Ausblick aufs azurblaue Meer. Außergewöhnliche Baukunst – aus Österreich.

Beausoleil heißt ein französischer Ort, dessen Name alles verheißt, was man sich an der Côte d'Azur erträumt: schön und an der Sonne, womöglich an der felsigen Küste mit Blick aufs Mittelmeer – was will ein assoziatives Bild mehr?! Was man als Ortsunkundiger nicht weiß, ist, dass es sich bei Beausoleil um den Stadtzwilling von Principatu de Múnegu, besser bekannt als Monaco, handelt, der auch physisch teilweise im Schatten der Hochhäuser des Fürstentums liegt.

Mitten durch die baulich extrem verdichtete, rund 40.000 Einwohner zählende Stadt verläuft die Grenze, die den Stadtstaat an der Küste von Frankreich trennt. Das Palais der Grimaldis thront auf dem Rocher Canton, an dessen Fuße liegt der Jachthafen der Reichen und Schönen dieser Welt, wo eine lang gestreckte Mole den Weg zum offenen glitzernden Meer weist.

Unmittelbar hinter der Hochhausstadt begrenzt ein felsiges Bergmassiv den schmalen Küstenstreifen und bietet sich für eine Vielzahl von Einfamilienhäusern offensichtlich seit Jahrzehnten als Baugrund an. Guter Grund zu bauen ist die fantastische Sicht, die sich von hier aus bietet, auf die Stadt und über deren Dächer hinweg auf das tatsächlich azurblaue Meer. Wer träumt als Architekt oder Architektin nicht davon, an solch einem Ausnahmebauplatz bauen zu können, sich vom Genius Loci inspirieren zu lassen und dies in Kubatur zu übersetzen? Angesichts von Eileen Grays Meisterwerk der Moderne, E.1027 – Maison en Bord de Mer, am Südwestufer des vier Kilometer entfernten Cap Martin mit Blick auf Monaco gelegen, scheint es fast unerreichbar, sich in dieser Gegend architektonisch manifestieren zu können. Dass ausgerechnet einem österreichischen Architekturbüro diese Ehre zuteil wurde, ist bemerkenswert und das gebaute Ergebnis berichtenswert, denn die Villa „Golden Eye“ ist ein wahrer Eyecatcher.

Die Auftraggeber sind Österreicher, die auch in Wien einen Wohnsitz haben. Aus einem Consulting, wie man die Wohnsituation verbessern könnte, folgte vor einigen Jahren der Auftrag an Anylis Architekten, Marion Kuzmany und Michael Lisner, das Haus umzubauen – und das Ergebnis erfüllte die Ansprüche der Bewohner. Nachdem die Auftraggeber an die Côte d'Azur übersiedelt waren, wollten diese dort ein eigenes Haus bauen. Das passende Grundstück war nach langer Suche erworben, einen passenden Architekten an Ort und Stelle zu finden stellte sich allerdings als schwieriger heraus als gedacht.

So wandten sie sich an ihre in Wien ansässigen Architekten Marion Kuzmany und Michael Lisner, im vollen Vertrauen, dass diese erneut ihre Wohnwünsche in die richtige Form gießen würden. So exzeptionell der Baugrund war, so außergewöhnlich sollte auch die Architektur sein, die Bedürfnisse der Bewohner gleichzeitig antizipierend. Mit diesem Vertrauensvorschuss betraut, machte sich das Architektenduo an die Arbeit. Es gab Detailvorgaben, die berücksichtigt werden sollten: Abgesehen von einem definierten Raumprogramm sollte ein Kamin das zentrale Element sein, an dem vorbei der unverstellte Übergang in den Außenraum gewährleistet ist.

Da das Grundstück in Hanglage bereits dahingehend ausgesucht worden war, war der ungehinderte Blick auf Monaco ein ebensolches „Must“ – auch beim Schwimmen im Infinity Pool. Es sollte ein Refugium werden, das sowohl als Ausguck als auch als Hingucker fungiert und täglich genossen werden kann.

Um sich den Wünschen an die Kubatur konstruktiv annähern zu können, musste vorab der felsige Hang dekonstruiert und in Terrassen neu angelegt werden. Ein in den Hang integriertes Sockelgeschoß mit zwei Gästewohnungen und Lagerräumen und darunter liegender Tiefgarage bildet die mit Faserzementtafeln in Anthrazit gehaltene Basis, über der sich das eigentliche Wohnhaus als eigenständiger, im Grundriss verschwenkter Baukörper erhebt. Auf der Hauptebene gehen Wohnraum, Terrasse und Garten mit dem lang gestreckten Pool nur durch eine Schicht Glas getrennt ineinander über; der Kaminblock, der auch als Technikschacht und Einbaumöbel fungiert, ist der stabilisierende Pfeiler, der sich an der Vorderfront des Gebäudes über beide Geschoße erstreckt.

Daran angehängt und somit weitestgehend stützenfrei wird die große Geste dieses Bauwerks gesetzt, die es formal von anderen Villen unterscheidet: Die Horizontalität der Geländeterrassierung wird aufgenommen und in eine weit auskragende, am Sonnenstand orientierte Deckenkonstruktion übersetzt, die die Beschattung der Glasflächen gewährleistet. Ausgeklügelt und statisch ausgereizt schieben sich die Deckenkonstruktionen von Erd- und Obergeschoß talseitig bis zu sieben Meter vor, bilden an drei Hausseiten Loggien aus und decken jeweils eine Fläche dreimal so groß wie die Grundfläche des eigentlichen Hauses ab.

Die beiden mit weißen Platten belegten Lagen sind einen Meter hoch, um die Stahlkonstruktion abzudecken und gleichzeitig die Haustechnik unterzubringen; durch die große Dimensionierung werden sie zum formal bestimmenden Element. Die in einer Ebene durchlaufende Deckenuntersicht mit integrierten Lichtbändern und Lüftungsschlitzen in der Fugenteilung und der Bodenbelag aus weißem Terrazzo mit glimmernden Muscheleinstreuungen stellen den auch in der Materialität schwellenlosen Übergang zwischen Innen- und gedecktem Außenraum wie selbstverständlich her.

Eine Ebene im Swimmingpool, die auf verschiedenen Höhen arretiert, oder eine Poolbar, die in den Boden versenkt werden kann, sind neben anderen jene Assets, die durchaus mit dem Setdesign eines James-Bond-Filmes assoziiert werden können. Der Name „Golden Eye“ spielt mit dieser Assoziation, und dem Architektenduo Anylis ist es gelungen, genau diese Qualität des Bauplatzes herauszuarbeiten: als Luxusvilla belebt und beäugt zu werden und gleichzeitig den Blick in die Ferne zu richten, wo die Wasserfläche des Pools und das Mittelmeer nur durch eine feine Linie getrennt werden und am Horizont in den azurblauen Himmel übergehen.

Beau et ensoleillé – was will man mehr, als an diesem schönen, sonnigen Ort ein Haus bauen zu können?

18. Februar 2017 Spectrum

Ein Rochen über der Einfahrt

Die neue, zeltartige Überdachung einer Firmenzufahrt fungiert nicht nur als Witterungsschutz, sondern setzt ein deutliches architektonisches Zeichen. Verantwortet von Claire Braun, zu begutachten in Vodňany, Tschechien.

Wenn man die Grenze zwischen Österreich und Tschechien übertritt, sollte man meinen, dass landschaftlich kein allzu großer Unterschiedzwischen den beiden historisch die meiste Zeit eng verbundenen Staaten besteht. Prinzipiell stimmt das auch: Das Wald- und Mühlviertel gehen über in waldige Gebiete mit der Richtung Prag fließenden Moldau, an deren Strom nicht nur Schlösser errichtet, sondern auch zahlreiche Mühlen und Flößerei betrieben wurden. Südböhmen zeugt durch die Vielfalt der Baukultur und die meist vorbildlich restaurierten Dörfer und Städte von der Kultiviertheit der auch an Bodenschätzen reichen Region. Die unzähligen Schlösser belegen gleichzeitig den Reichtum des altösterreichischen Adels, der in dieser Gegend für seine wirtschaftlichen Interessen wie die Holzwirtschaft und privaten dazu, wie die Jagd, ideale Bedingungen fand.

Zwischen all den Wäldern, Flüssen und Teichen wurde Agrarland angelegt, das im Laufe der Jahrhunderte immer wichtiger wurde. Hier liegt der große Unterschied zwischen den beiden Nachbarstaaten, der einem jedoch erst beim zweiten Blick bewusst wird: Es sind die riesigen Felder. Ein einziger Acker zieht sich manchmal weit über sanfte Hügel hinweg, und seine Begrenzung ist erst am Horizont auszumachen. Die relative Kleinteiligkeit in der österreichischen Landwirtschaft geht knapp hinter der Grenze in eine Dimensionierung über, die eher an US-amerikanisches Farmland erinnert.

Inmitten dieser Land(wirt)schaft hat sich eine österreichische Firma angesiedelt, um von genau jenen großen Flächen zu profitieren. Pöttinger Landtechnik, ein seit 1871 bestehendes Familienunternehmen aus Grieskirchen in Oberösterreich, Hersteller von landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen, hat 2007 in Vodňany, nordöstlich von Budweis, ein Werk für Lackiertechnik eröffnet und erfolgreich etabliert. Zur Standortaufwertung sollte nun zwischen der bestehenden Produktionshalle, über ein Portierhaus hinweg, wo die An- und Abmeldung von Lkws stattfindet, die Zufahrt auf das Betriebsgelände überdacht werden: einerseits als Witterungsschutz gegen Niederschlag und Sonne, andrerseits um ein markantes architektonisches Zeichen zu setzen.

Klaus Pöttinger, der bislang gemeinsam mit seinem Bruder Heinz den Familienbetrieb in der vierten Generation führte, betraute mit der Bauaufgabe die Architektin Claire Braun aus Vöcklabruck, die immer wieder für die Firma Pöttinger planerisch tätig war. Dass sie eine zeichenhafte Architektursprache beherrscht, zeigte sich in der flachen Bogenform einer Fußgänger- und Radfahrbrücke in Grieskirchen, die zwei Gebäude der Firma verbindet und mit gekonnter Leichtigkeit eine Straße überspannt. Mit eben dieser Leichtigkeit ging Claire Braun auch an die Bauaufgabe einer Überdachung heran – immerhin galt es 2200 Quadratmeter Fläche abzudecken. Sie bediente sich einer Membrankonstruktion, die eher als ephemer wahrgenommen wird, etwa als Partyzelte oder „Sunsails“ für Terrassenüberdachungen, in der Architektur allerdings etwas aus der Mode gekommen ist. In freier Form gestaltbar und für große Spannweiten geeignet, ist die Leichtigkeit eines folienbespannten Tragwerks eine Technologie, die für diesen Zweck ideal zu sein scheint.

Als raffinierten Kontrapunkt zur klassisch kistenförmigen Ausformung der Betriebsstätte definierte Claire Braun mit ihrer Planung wie selbstverständlich zwischen neun Auflagerpunkten einen sehr großen stützenfreien Außenraum, ohne dass einem Deckenbalken oder Fachwerkträger schwer über dem Kopf hängen. Ganz im Gegenteil, die HP-Schale des Daches zieht an den Rändern schwungvoll in die Höhe, öffnet den Blick zum Himmel und scheint eher abzuheben, als auf den Raum eine bedrückende Wirkung auszuüben. Konstruktiv funktioniert das Ganze vereinfacht ausgedrückt wie ein Sonnenschirm: Das PVC-Polyestergewebe wird über zwei bogenförmige Träger, die wegen ihrer Unterspannung durch zarte Stäbe „Spinnen“ genannt werden, gezogen; in die „Borten“ der Membran sind Stahlseile eingebracht, die zwischen den Stützen verfestigt werden. Sobald die Seile angezogen werden und das Gewebe somit unter Spannung gerät, entwickelt es seine spezielle Form, die von Architektinnenhand entwickelt und von den Tragwerksplanern, Büro für Leichtbau – Tritthart + Richter aus Radolfzell in Deutschland, auf Realisierbarkeit durchgerechnet wurde.

Die einzelnen Elemente des Tragwerks wie Stützen oder Schraubverbindungen waren keine Spezialanfertigungen, wurden jedoch möglichst zart dimensioniert, was der ganzen Anlage die erwähnte Leichtigkeit verleiht. An drei rund fünf Meter hohen, nach außen hin schräg abfallenden Stahlbetonfundamenten sind die zwei Tragebögen, an denen das Gewebe linear befestigt ist, gelenkig gelagert; vier weitere Ecken der Membransind über schräge Stützen zum Boden hin abgespannt; zwei Auflagerpunkte sind an der Fassade des bestehenden Gebäudes befestigt. An der Form der Betonstützen kann man denKräfteverlauf des statischen Systems ablesen. Wie sich unschwer erkennen lässt: Es sind gewaltige Kräfte, die da wirken.

Die Ableitung des Regenwassers von der Dachfläche erfolgt an den Auflagerpunkten der Bögen vorbei über eingelegte Polokalrohre im Inneren der frei stehenden Fundamente und weiter unterirdisch in Sickerschächte; im Bereich der Stahlsäulen rinnt das Regenwasser einfach in die Wiese. Wo Gewebeteile aufeinandertreffen, sind diese durch verzahnte Stahleinlagen nach dem Reißverschlussprinzip miteinander verspannt; auch dies ein schönes formales Element, das wie ein leicht geschwungenes Rückgrat seinen organischen Charakter und die Selbstverständlichkeit dieser Überdachungsart unterstreicht.

Knapp 50 Jahre ist es her, dass der deutsche Architekt Frei Otto gemeinsam mit Rolf Gutbrod mit der Entwicklung seiner „leichten Flächentragwerke“ die Architektur von Mauern und Dachstühlen befreite und bei der Expo in Montreal 1967 den deutschen Pavillon als membranüberspannten Raum ausbildete. Fünf Jahre später wurde die Olympiaanlage von München mit ihren Zeltdächern von Behnisch & Partner und Frei Otto zum wohl berühmtesten Bauwerk biomorpher Architektur. Claire Braun nahm nach Absolvierung einer Spezialausbildung zu Membrankonstruktionen den Schwung dieser Architektur wieder auf und setzte sie am richtigen Ort gekonnt ein.

Vodňany liegt am Fluss Blanice, entwickelte sich aus einem Fischerdorf und ist Sitz eines Universitätsinstitutes für Fischerei und Hydrobiologie. Um bei einer biomorphen Metapher zu bleiben: Von der Seite betrachtet, hat die Dachform die Eleganz eines springenden Mantarochens; eine Assoziation, die der Dynamik der weltweit agierenden Firma Pöttinger gerecht wird. Claire Braun ist ein stimmiges architektonisches Zeichen gelungen.

28. Mai 2016 Spectrum

Panik hinter den Rollläden

Die Schlafstädte weiten sich aus. Schlafstädte, durch die sich kaum einer mehr zu Fuß bewegt. Und wo der öffentliche Raum verlassen ist, steigt die Verunsicherung: Man zieht sich sich in die Innenräume zurück. „Suburban angst“ heißt das Phänomen in den USA– und ist hierorts ebenfalls schon weit verbreitet. Eine Nachschau.

Es ist ein Phänomen, das man aus kleinen österreichischen Orten kennt: Häuser mit heruntergelassenen Rollläden, am helllichten Tag trotz Normaltemperatur. Als Schallschutz an der Hauptstraße, weil jemand ein Mittagsschläfchen hält, oder aus Sicherheitsgründen am knallgelben Fertigteilhaus, weil man nicht zu Hause ist, hat dies ja Sinn. Es gibt auch andere Gründe, wie eine ortskundige Niederösterreicherin erzählt: Bewohnerinnen verdunkeln untertags, selbst wenn sie zu Hause sind, damit die Fensterglasscheiben nicht verschmutzen. Nicht unlogisch, da stets stärkere Autoverkehr immer mehr Nebenwirkungen hat.

Der Rollladen bietet Schutz aus einem persönlichen Sicherheitsbedürfnis heraus; man kann man nie wissen, wer grad vorbei- und auf dumme Gedanken kommt. Und es fällt in diesem Ort auf, dass so wenige Menschen auf der Straße sind. Die Geschäfte im Ortszentrum haben zugesperrt, die Post ist weg, der Wirt ist grantig, weil er mit der Registrierkassa nicht zurechtkommt, und droht, auch bald den Hut draufzuhauen. Die Leute würden sowieso lieber zum „Mäkki“ (McDonald's) im Fachmarktzentrum am Kreisverkehr in der Ortseinfahrt fahren. Seit der aufgesperrt hat, bleiben die jungen Gäste und jene mit Kindern weg. Viele Hauptstraßen geraten zu Durchzugsstraßen und ziehen oft dem Ortskern den Lebensnerv.

Wenn der öffentliche Raum nicht mehr funktioniert und die soziale Kontrolle durch Menschen, die die Straßen und Plätze sinnvollerweise „bevölkern“ oder auch nur aus dem Fenster schauen, nicht mehr gegeben ist, ist das Volk verunsichert und zieht sich in den Innenraum zurück. „Suburban angst“ nennt man dieses Phänomen in den USA. Ein undefiniertes Unsicherheitsgefühl, das die Bewohner von immer größeren, teureren, billiger gebauten Häusern auf immer entlegeneren Grundstücken befällt. Näher am jeweiligen Ortszentrum kann man sich's nicht leisten, was zur Folge hat, dass die Dislozierung des Wohnhauses als Lebensmittelpunkt in der Subsuburb durch Anschaffung immer größerer, bequemerer Autos wettgemacht werden muss, um noch „top“ zu sein.

Die Geschichte der Suburb führt ins England des 18. Jahrhunderts, als sich die ersten Verwerfungen im durch strikte Klassenunterschiede geprägten Gesellschaftssystem zeigten. Die Industrialisierung bewirkte, dass die arme Landbevölkerung in die Städte drängte, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Eine sinkende Kindersterblichkeit bewirkte nicht nur, dass mehr „hungrige Mäuler gestopft“ werden mussten, sondern auch mehr Arbeitskraft vorhanden war; Kinderarbeit war eine Folge, um die Arbeitsplätze in den neu geschaffenen Fabriken auslasten zu können und das Einkommen der Familien zu verbessern. Analog dieser Art von Ausbeutung waren die Lebensbedingungen der Arbeiter schlecht: Miese Wohnbedingungen, übervolle Straßen, rauchende Schlote und üble hygienische Zustände machten die Stadtzentrenzu unangenehmen Orten.

Die heile Welt von Clapham Common

Die Kaufmannsfamilien suchten nach einem Ausweg, um die Annehmlichkeiten ihres Reichtums in Ruhe genießen zu können, und hielten Ausschau nach Grundstücken im grünen Umland. Clapham Common war das erste als solches gegründete gemeinschaftliche Wohnprojekt, fünf Meilen nördlich von London, wo ab 1780 um einen großen Park Villen errichtet wurden. Eine neue Strömung in der Anglikanischen Kirche, das Evangelical Movement, lieferte den konfessionellen Überbau, um die eigenen Familien aus den inferioren Städten quasi in Sicherheit zu bringen. Die relativ kleine Clapham-Sekte definierte eine neue Rolle für Frauen: nämlich jene, ausschließlich für Kinderaufzucht und Religionsausübung zuständig zu sein. Waren sie bislang in den Betrieb in der Stadt eingebunden, wurden sie nun ins Haus auf dem Land versetzt, um sich mithilfe von Personal familiären Aufgaben zuzuwenden. „Suburbia war das gemeinschaftliche Bestreben, ein rein privates Leben zu führen“, schrieb Lewis Mumford 1938. Und später: „Die Suburb war ein Rückzugsort, wo die Illusion einer heilen Welt aufrechterhalten werden konnte. Es ging nicht nur um eine kindgerechte Umgebung, sondern auch um eine kindische Sicht der Dinge, wo die Realität dem Schönheitsprinzip geopfert wurde.“

Zur selben Zeit wurde in der Neuen Welt das System des Landverkaufs als Einnahmequelle staatlich institutionalisiert. Nach Gründung der USA wurde im Land Act von 1796 festgelegt, dass der Kontinent einem streng geometrischen Raster unterworfen wird und die einzelnen Quadrate Land an reiche Europäer verkauft werden, um dem Staat ein Einkommen zu bescheren. Das System funktionierte, binnen kürzester Zeit entwickelten sich die USA zu einem Zentrum der Weltwirtschaft. Das Eisenbahnwesen machte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die weitläufige Erschließung von Nordamerika möglich und lockte neue Pioniere ins Land.

Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Suburbs in den USA, wie zum Beispiel in Philadelphia; die Eisenbahn war hierbei systemimmanent. Zuerst wurden die Gleise verlegt, dann die Gründe von den Bahngesellschaften nahestehenden Personen erworben und um teures Geld weiterverkauft. Chestnut Hill, als exklusive Suburb im Norden von Philadelphia angelegt, war bereits elf Meilen vom Stadtzentrum entfernt, aber durch die Bahnanbindung relativ schnell zu erreichen. In allen großen Städten der USA wurden Straßenbahnlinien bis weit ins Umland geführt, da man um den anhaltenden Zuzug von Siedlern aus Europa wusste. Die Suburbs als Investorenprojekte wurden als kleine Einheiten für die Elite sorgsam geplant und entsprechend beworben, die Gegenden entlang der Bahnlinien würden sich im Laufe der Zeit mit billigeren Häusern auffüllen. Ein System, das jahrzehntelang gut funktionierte, vor allem durch das Bahn- undStraßenbahnwesen der USA, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als das dichteste und beste der Welt galt.

Mit dem Aufkommen der Autoindustrie in den USA änderten sich die Vorzeichen; Ende der 1920er-Jahre war die amerikanische Autoproduktion achtmal so hoch wie in Europa und geriet zu einem der wesentlichsten Wirtschaftsfaktoren. Neben dem öffentlichen Verkehr wurde nun der Individualverkehr beschleunigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte man an diese Erfolgsgeschichte anschließen und suchte nach einem Weg, der Auto- wie auch Fertigteilhausindustrie den Markt zu sichern. Die Idee der Suburb wurde weiterentwickelt und im Housing Act von 1949 die staatliche finanzielle Förderung beim Erwerb eines Häuschens im Grünen beschlossen; Developer schickten sich an, das Land aufzubereiten.

Innerstädtisch wurden ganze Stadtviertel oft grundlos zu Slums erklärt und niedergerissen, um unter dem euphemistischen Begriff des „Urban Renewal“ Platz zu schaffen. Erneuerung bedeutete hierbei eine Spielwiese für Investoren, die mit den billig erworbenen Gründen durch Verdichtung und neue Nutzungen ungeahnte Gewinne einfahren konnten. Die Bewohner wurden nicht lange gefragt und in woanders neu errichtete „Wohnsilos“ verfrachtet; eine Maßnahme, die schwerwiegende soziale Probleme nach sich zog. Die Mittelschicht zog wohl oder übel ins vorgefertigte Häuschen in der neu errichteten Suburb, wo weit und breit keine Bahnlinie und auch kein Geschäft mehr zu finden war, daher wurde ein Auto angeschafft. Der American Dream sollte perfekt sein.

Von der „Krankheit ohne Namen“

Die Frauen, die während des Krieges die Arbeiten der abwesenden Männer übernommen hatten, wurden, um die Arbeitsplätze wieder frei zu machen, in bewährter Weise an die Stadtränder versetzt, Kindererziehung und Haushaltsführung wurden zum staatlich verordneten Lebensmodell erklärt. Die Männer fuhren mit dem Auto zur Arbeit, die Frauen blieben zurück und konnten sich in den neu errichteten Shopping Malls zerstreuen. Als „die Krankheit ohne Namen“ wurde der depressive Zustand der Frauen in den Suburbs bezeichnet, schrieb Betty Friedan 1961. Der amerikanische Tagtraum an den Stadträndern war eher von Langeweile denn von Glück erfüllt.

Die vermeintliche Freiheit jedes Einzelnen, seinen Weg mit dem Auto selbst bestimmen zu können, ist das eine, die ohne Massenverkehrsmittel mangelnde Dichte an Menschen in den Stadtzentren das andere. Wenn Gehdistanzen auf Wege vom Parkplatz zum Zielgebäude reduziert werden, entleert sich der öffentliche Raum, es kommt auch keiner vorbei, der in den Gassenläden einkauft. Die Welt außerhalb der eigenen vier Wände oder der Blechblase auf vier Rädern wird nur mehr be-, aber nicht mehr erfahren und so als „fremd“ wahrgenommen.

Dies ist da wie dort dasselbe. Wo prinzipiell niemand mehr zu Fuß geht, werden jene verdächtig, die es dennoch tun. Die Suburbanisierung greift in den USA wie auch bei uns immer weiter um sich. Trotz Kenntnis der Problematik weiten sich die Schlafstädte aus, in denen die Straßen keine Gehsteige haben. Wozu auch, man muss sowieso ins Auto steigen, anders kommt man dort nicht weg! „Suburban angst“ könnte mit „den Rollladen runterlassen“ übersetzt werden, eine Form der Kommunikationsverweigerung. Heißt auf den Straßenraum bezogen so viel wie: Wenn sich jedes Haus mit geschlossenen Rollläden präsentiert, ist dies kein positives Signal an den Gemeinsinn einer Gesellschaft – hüben wie drüben.

30. Mai 2015 Spectrum

Ein Tower wie aus Pepita

Im Grazer Stadtteil Jakomini entstand das vom Büro ArchitekturConsult konzipierte Hochhaus für das Styria Media Center. Das Gebäude besticht durch den erstaunlichen Eindruck des Schwebens.

Das Styria Media Center ist ein Blickfang in der Grazer Dächerlandschaft. Der Wunsch der Bauherren nach architektonischer Zeichenhaftigkeit, die das neue Hauptquartier des Medienkonzerns übernehmen sollte, ist durch die Gestaltung wirkungsvoll erreicht worden. ArchitekturConsult hat einen Flügel geplant und in den Luftraum des Stadtteils Jakomini gestellt, der trotz seiner enormen Größe aus der Distanz als schwebend wahrgenommen wird.

Als die Vorstände der Styria Media Groupden Beschluss fassten, in Graz ein neues Gebäude als Firmensitz zu errichten, wurde klar formuliert, dass man sich als zweitgrößter Medienkonzern in Österreich einen selbstbewussten architektonischen Auftritt verschaffen möchte. Seit dem Jahr 1902 ist der Styria Verlag in der Schönaugasse im Grazer Stadtteil Jakomini ansässig – seit 1904 wird dort die „Kleine Zeitung“ produziert – und so ist es im Sinne einer wohl verinnerlichten Firmentradition eine glückliche Fügung gewesen, dass man in unmittelbarer Nähe das neue Gebäude errichten konnte.

Das Büro ArchitekturConsult in Graz, hier federführend die Architekten Hermann Eisenköck und Herfried Peyker, war im Jahr 2005 beauftragt worden, mehrere neue Standorte in Graz für die Styria Group zu prüfen, die realistische Option für einen Bauplatz lag jedoch in nur 500 Meter Entfernung zum bestehenden Firmensitz. Dieserart „geerdet“ sollte ein neues Hochhaus in Graz entstehen, was ganz allgemein eine stimmige Absichtserklärung bedeutete, in die stark in Veränderung begriffene Medienlandschaft eine Landmark zu setzen.

Auch wenn die „weiche Form“ viel Interpretationsspielraum zulässt, wie Architekt Herfried Peyker meint, kann man doch eine eindeutige Zuschreibung machen: Dieses Hochhaus besticht durch Leichtigkeit. Erreicht wird dieser Effekt durch eine Zonierung des Baukörpers in ein im Grundriss der Grundstücksform eingepasstes, zweigeschoßiges Sockelbauwerk und ein davon architektonisch abgehobenes, formal eigenständiges Hochhaus. Während der Baukörper des Sockels in V-Form durch ein Fassadenband aus schwarzgrauen Profilen und schwarz wirkendem Sonnenschutzglas beziehungsweise im Bereich der Hochgarage aus Trapezlochblech zusammengefasst wird, fällt am Büroturm die ausgeprägte Gliederung in der Tiefe der Fassade auf, die durch die Farbvariation in Schwarz und Weiß dem Auge des Betrachters ein abwechslungsreiches Spiel bietet. Die Ecken gerundet, die beiden Längsseiten unterschiedlich stark gekrümmt, hat der Baukörper die Form einer Radarantenne, und dies ist für einen Medienkonzern eine stimmige Metapher.

Städtebaulich bietet das hohe, gerundete Gebäude den entsprechenden und ansprechenden Gegenpart zur von Klaus Kada geplanten und 2002 fertiggestellten Stadthalle mit seiner ganz auf Horizontalität setzenden, weit auskragenden und spitz zulaufenden Überdachung. Durch das neue, mit ausreichend Distanz platzierte Gegenüber scheint das Vordach räumlich gehalten, und dieserart wird an der Conrad-von-Hötzendorf-Straße eine völlig neue urbane Qualität erzeugt, die sich gleichzeitig visuell als „Tor zur Stadt“ definiert. Gleich hinter diesem Tor wird viel Leben an den Ort kommen; das Styria Media Center wird für ungefähr 1200 Menschen Arbeitsstätte sein und somit ein stark frequentierter Ort werden. Nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Tagesgäste werden hier ein und aus gehen, im Sommer im Gastgarten des Restaurants sitzen oder die Kinder vom Kindergarten abholen. Die Erdgeschoßzone innerhalb und außerhalb des Gebäudes bietet wichtige Einrichtungen des sozialen Austauschs, was eine gute Voraussetzung für das Funktionieren des sozialen Raumes schafft.

Auch wenn die freie Aussicht von der Sky Lobby im 14. Obergeschoß des Hochhauses nicht von der Allgemeinheit genossenwerden kann, zeugt die Basis dieses Bauwerks und der anschließende, ebenfalls neu geschaffene und von der Stadt Graz zu pflegende Park vom Ansinnen des Styria Verlags auch für die Grazer Bevölkerung neuen qualitätvollen Raum zu schaffen. Das Herzstück des Komplexes ist der Newsroom im ersten Obergeschoß; hier sind die Redaktionen der „Kleinen Zeitung“ und des Radiosenders Antenne Steiermark untergebracht und produzieren auf einer Fläche von 3200 Quadratmetern Print- und Onlinemedien sowie Radiosendungen.

Im Großraum um den zentralen Newsdesk sind zahlreiche Einheiten mit in Summe circa 220 Arbeitsplätzen gruppiert, weiters gibt es Einzelräume wie Büros, Besprechungsräume und Studios für Radioaufnahmen und Filmbeiträge, die für Onlinemedien produziert werden. Das zweite Obergeschoß springt an allen Seiten von der Fassadenebene des Turmes zurück und bildet damit eine klare Trennung zwischen dem Hochhaus und dem Sockelbauwerk aus. Die Architekten haben dies als Fuge bezeichnet, die zwischen die beiden Bauteile gesetzt wurde, um für den Turm architektonische Leichtigkeit zu erzeugen. Die Intention dieses Kunstgriffs scheint aufgegangen, ist doch die Fuge genau jenes Element, das die schwebende Anmutung für den Turm erklärt und ihm jegliche Plumpheit nimmt.

Die elf Büroetagen im Turm sind teilweise als stützenfreie Großraumbüros, andernfalls in einzelne Zimmer unterteilt, geplant. Durch die Schmalheit und die leichte Krümmung im Grundriss des Baukörpers ist das Besondere im Großraum, dass die Menschenan jedem Arbeitsplatz über beste Lichtverhältnisse, Durchblick und einen ungetrübten Ausblick verfügen. Auch der Anblick des Büroturms erzeugt Spannung: Aufgesetzte Lisenen, die Wind- und Wetterschutz bieten, erzeugen optisch durch die in der Höhe abwechselnde Farbgebung in Schwarzgrau undTelegrau, was der Außenhaut jegliche Starre und Eintönigkeit nimmt. Der Farbwechsel findet nicht nur an einer Lisene selbst und pro Stockwerk statt, sondern durch eine nebeneinander gegengleiche Farbgebung ebenso in der Horizontalen. Durch die Rundung des Baukörpers und die südseitig konvexe und nordseitig konkave Krümmung wird die Fassade einem dynamischen Moment unterworfen, ohne dass sich der Betrachter bewegen muss. Ein Blick hinauf genügt, wenn manin unmittelbarer Nähe des Gebäudes steht, um ein schwarz-weißes Muster entstehen zu lassen, das man – um die Weichheit der Form noch einmal zu bemühen – als Pepita-Effekt bezeichnen kann.

Diese Konnotation passt zur Anmutung einer zeitlosen Moderne, die immer schon klare Strukturen zu konstruieren und diese gleichzeitig durch ein spannendes Moment, zum Beispiel ein markantes Stoffmuster, zu brechen wusste. ArchitekturConsult setzte mit seiner Planung des Styria Media Center auf Nachhaltigkeit im städtischen Gefüge, und dieses präsentiert sich – um auf das Radarantennenmotiv zurückzukommen – als ein Tower hochwertiger Architektur.

23. Juni 2012 Spectrum

Schifferl, fast versenkt

Das brachliegende Werftgelände könnte Korneuburg ein besonderes Image verleihen, Ideen für eine Nachnutzung gibt es. Allein – es passiert nichts.

Wenn man sich heutzutage im Raum Wien der Donau annähert, assoziiert man in erster Linie den Erholungsraum. Durch die Alte Donau und die Donauinsel bzw. durch Einrichtungen wie den Wasserskilift oder die Marina Wien werden die möglichen Freizeitaktivitäten am Wasser hervorgehoben, man setzt auf Regeneration am Donaustrom. „Licht, Luft und Sonne und ein bissl abwaschen, das ist's, was der Mensch braucht“, wie Florian Berndl, der Gründer des „ersten innerkontinentalen Strandbades Gänsehäufel“, bemerkte und dieserart die Donau als Freizeitparadies postulierte.

Aber zu Berndls Zeiten hatte der Donaustrom eine andere Primärfunktion, nämlich als Wasserstraße, über welche bereits jahrhundertelang die wichtigsten Güter mit Plätten, aus Holz gefertigt, nach Wien gebracht worden waren. Wien galt im Mittelalter als der wichtigste Warenumschlagplatz an der Donau. Anfang des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der Industrialisierung, war die Dampfschifffahrt entwickelt worden, und 1829 wurde die 1. DDSG – „Erste Donaudampfschifffahrtsgesellschaft“ gegründet. Siediente der Waren- und Personenbeförderung, und die zunehmende Frequenz ließ den Schiffsbau für Binnengewässer zu einer wichtigen Wirtschaftssparte werden.

Der Altarm bei Korneuburg war bereits vor der Donauregulierung als Winterhafen genutzt worden, daher war es naheliegend, diese geschützte Ausbuchtung als Schiffswerft auszubauen. 1852 wurde der Betrieb aufgenommen, der nicht nur dem Neubau von Schiffen diente, sondern vor allem der Wartung und Reparatur der Schiffsflotte, die zu diesem Zeitpunkt über 71 Dampfer und 233 Schleppkähne verfügte. Nachdem auch die „Vereinigten Ungarischen Dampfschifffahrts-Gesellschaften“ übernommen worden waren, galt die DDSG 1880 als das größte Binnenschifffahrtsunternehmen der Welt, und so musste die Korneuburger Werftanlage sukzessive vergrößert und mit Kraneinrichtungen, Werkstätten und Verwaltungsgebäude bebaut werden. Die Donau blieb nach dem ersten Weltkrieg wesentlicher „Lebensnerv“ des Transportwesens im verkleinerten Österreich, wie auch der Werftbetrieb dementsprechend wichtig war. Dass in den 1930er-Jahren noch modernisiert wurde, machten sich die Nationalsozialisten zunutze, und so gliederten sie den im Zweiten Weltkrieg florierenden Betrieb in die Hermann-Göring-Werke ein. Nach dem Krieg wurde die verkaufstechnische Strömung in die Gegenrichtung genutzt, indem nach dem Staatsvertrag enge Geschäftsbeziehungen mit der Sowjetunion gepflogen und seegängige Schiffe bis nach China exportiert wurden.

Nachdem in den 1980er-Jahren die Ostgeschäfte eingebrochen waren und keine anderen Aufträge an Land gezogen werden konnten, fand die Werftgeschichte im Jahr 1993 ihr vorläufiges Ende. Das Schulschiff, das in Wien vor Anker ging und bis heute am Ufer der Donauinsel liegt, war eines der letzten in Korneuburg gefertigten Objekte, bevor die Werft, die phasenweise bis zu 1500 Arbeitsplätze geboten hatte, „trockengelegt“ wurde. Es ist also eine bewegte Geschichte technologischer, politischer und soziologischer Natur, die den Ort Korneuburg geprägt hat und erzählt werden kann.

Während in einer kleineren Ortschaft wie Strasshof an der Nordbahn das Potenzial der nicht mehr benötigten Infrastruktur genutzt und im ehemaligen Heizhaus der Bahnanlagen das Eisenbahnmuseum eingerichtet wurde, existierte für die Industriebranche in Korneuburg die längste Zeit keine Idee einer Nachnutzung. Ein Schiffsbaumuseum war kein Thema, vielmehr zog man sich identifikatorisch vom Donauufer zurück und präsentiert Korneuburg via Homepage vielmehr als die „Rattenfängerstadt“. „Das wär für die Stadt selber nicht so schlecht, wenn wir da ein bisserl an der Identität arbeiten“, meint denn auch Korneuburgs Vizebürgermeister Christian Gepp, ÖVP, in einem Interview, das im Internet unter KO2100 nachzulesen ist – und da kann man ihm nur beipflichten. In Kenntnis finanzieller Gegebenheiten und ohne die Stadtgemeinde für den Niedergang der Werft verantwortlich zu machen, ist man über die Konzeptlosigkeit, die von politischer Seite für eine Nachnutzung des seit 2004 teilweise unter Denkmalschutz stehenden Werftgeländes zu herrschen scheint, doch einigermaßen erstaunt.

Bald nach Stilllegung der Anlage wurden eine ganze Menge auch bauhistorisch wertvoller Gebäude niedergerissen, wohl um sich zukünftige Wartungskosten zu ersparen beziehungsweise um Flächen für einen allfällig interessierten Investor freizumachen. Die WRG – Werft Revitalisierungs Ges.m.b.H., eine private Stiftung, kaufte das Areal und investierte in die Erhaltung einzelner Gebäude. Da das Gelände als kontaminiert galt, wurde ein teilweiser Rückkauf durch den SEFKO – Stadtentwicklungsfonds Korneuburg notwendig, und es erfolgte eine aufwendige Umweltsanierung aus Steuergeldern. Im Jahr 2004 wurde einerseits eine der Hallen als Veranstaltungshalle für kulturelle Zwecke umgebaut, andrerseits erhielten die „FHS – Freunde historischer Schiffe“ einen Zehnjahresvertrag, um ihre Schiffe im Hafenbecken andocken zu können. Ab diesem Zeitpunkt wurden an den historischen Slipanlagen nicht nur wieder Schiffe repariert und ausgestellt, sondern die verbliebenen Hallen mit parasitärer Nutzung erfüllt: Eine Oldtimer Werkstatt, ein Hundeabrichteklub, eine Tischlerei, eine Schlosserei und andere mieteten sich ein und etablierten wieder Leben an den Kaimauern, inklusive eines kleinen gastronomischen Betriebs. Vorigen Sommer wurde ein öffentliches Bad installiert, während das Florian-Berndl-Bad in Korneuburg wegen Sanierung geschlossen ist. In diesen Jahren entwickelten die FHS in Kooperation mit der TU Wien ein Konzept für eine nachhaltige Nutzung von Teilen des Areals in Form einer Museumswerft, wo sowohl die Industriegeschichte des Ortes und der DDSG didaktisch präsentiert und das Schiffsbauhandwerk weitergetragen werden sollen. Eine „Schauwerft“ mit historischen Schiffen im Wasser oder am Trockendock – eine Idee, die internationale Vorbilder hat und als Ausflugsziel wie auch als Arbeitsstätte funktionieren könnte.

Das Korneuburger Werftgelände ist der letzte authentische Schauplatz, wo sich das Konzept eines „interaktiven Kulturparks“ an der Donau realisieren ließe, alleine die Politik hat nicht reagiert. Im Gegenteil: Noch vor Ablauf des Vertrags wurden die FHS gekündigt, und die historischen Schiffe mussten im Dezember 2011 aus dem vermeintlich sicheren Hafen auslaufen.

Während andere Städte ihre historischenSchiffe an Land ziehen und publikumswirksam ein ganzes Museum drum herum bauen, wie das Vasa-Museum in Stockholm, spielt die niederösterreichische Kulturpolitik mit der Idee einer kurzweiligen, aber ernsthaften Bildungseinrichtung, der zusätzlich der Stadt Korneuburg „ein bisserl Identität“ bescheren würde, lieber „Schifferlversenken“. Wahrscheinlich will man das Gelände einfach für eine harmlose, aber gewinnträchtigere Option freihalten und spekuliert mit dem Gedanken: Ein Investor wird kommen ...

7. April 2012 Spectrum

Home, Sweet Dome

Projekt „Land schaf(f)t Zaun“: Die Aufgabe der Architekten lautete, einen Garten in Hanglage über dem Ufer des Traunsees zu akzentuieren. Heraus kam eine Loge mit größtmöglicher Naturnähe.

Ein hoch gelegener Blickpunkt, der den Betrachter die Landschaft überschauen lässt, war immer schon ein besonderer Ort. Sobald der Fremdenverkehr im frühen 19. Jahrhundert als solcher proklamiert worden war und die Landschaft per se als Highlight definiert wurde, delektierte man sich am Überblick, den man sich solcherart verschaffen konnte. Auch bei der Hotelarchitektur war man bemüht, den Reisenden den Reiz der unberührten Natur zu vermitteln und über Balkone oder Loggias den Außenraum ins Raumerlebnis beim Aufenthalt als unvergesslich zu integrieren. In einer demnächst erscheinenden Publikation über den Traunsee ist nachzulesen, wie in einem Reiseführer von 1832 auf die diesbezüglichen Vorzüge des Hotels „Goldenes Schiff“ in Gmunden verwiesen wird. Entzückend sei es, vom Balkon des Hotels aus den größten Teil der schönsten Umgebung von Gmunden zu überblicken und sich durch das Glühen der Hochgebirge in die Gefilde der Schweiz oder an den Comer See versetzt zu fühlen. Tatsächlich ist auch heute die erste Assoziation, die sich beim Blick auf das Nord- und Westufer des Traunsees aufdrängt, jene von Urbanität. Altmünster und Gmunden bieten ein Bild von urbaner Dichte, welche mit der schönen Landschaft als Hintergrundmotiv verschmilzt, eine Situation, die an anderen österreichischen Seen nicht zu finden ist. Dieses Spannungsfeld bietet für Architekten multiple Interpretationsmöglichkeiten, denn von ruralen Details bis städtischer Architektur ist hier alles „erlaubt“, und entsprechend vielfältig stellt sich das Gebaute auch dar.

Dieserart ist das seit dem Jahr 2004 in Wien tätige Architektenduo „Heri&Salli“, Heribert Wolfmayr und Josef Saller, an die an sie gestellte Bauaufgabe einer groß dimensionierten Lodge bei einem bestehenden Einfamilienhaus am Traunsee herangegangen. Die Bauherren wollten ihren Garten in Hanglage über dem Ufer des Sees mit bereits vorhandenem Swimmingpool räumlich akzentuieren. Ihre ursprüngliche Idee, dies durch Bepflanzung zu bewerkstelligen, ließen sie fallen, als sie ein fertiggestelltes Objekt, den Hausplatz J. von „Heri&Salli“, in einer Zeitschrift publiziert sahen. Auch hier wurde eine segmentierte Loggia dem Pool beigestellt, um Schatten und Geborgenheit im Außenraum zu gewährleisten. Die Architekten machten sich daran, die Frage, ob eine ähnliche Lösung bei ihrem Grundstück realisierbar wäre, formal zu beantworten. In ihrer Denkweise gingen sie dabei weder gezielt architektonisch noch künstlerisch an die Bauaufgabe heran, meinen die Architekten Wolfmayr und Saller in einem Interview, sondern es interessiere sie vielmehr, was mit dem Raum passiere, wie der Raum hinkünftig für die Nutzer funktionieren könne. Es gehe um das Formulieren einer These für die Raumgestaltung, die allerdings im Zusammenspiel mit den Menschen „halten“ muss. Dadurch erhält die planerische Herangehensweise experimentellen Charakter, was durch eine künstlerisch konstruktive Handschrift noch unterstrichen wird.
Die Gestaltungsidee kommt denn auch harmloser daher, als sie ist: Vordergründig beschreibt der Projektname „Land schaf(f)t Zaun“ als Ausgangspunkt der architektonischen Denkarbeit ein Stück rurales Design, nämlich den in der Gegend üblichen Jägerzaun, der sphärisch gekrümmt zu einem kokonartigen Gebilde umgeformt wird. Hintergründig steckt allerdings viel künstlerisches Potenzial in der Idee, denn metaphorisch gesehen bildet die Form der semitransparenten Halbschale eine schützende Hand aus. Der „Handrücken“ ist der Stützmauer am Hang und zum Nachbargrundstück hin zugewandt, während das Tragewerk wie gekrümmte Finger über den Sitz- und Liegeplatz am Pool ausgebildet ist. So kann der Blick des Betrachters über den Pool und den See hinweg ungehindert in die Ferne schweifen.
Abgesehen von dieser metaphorischen Qualität werden in der zart dimensionierten Gitterstruktur aus Stahl, die partiell mit rhombenförmigen, unterschiedlich geneigten Lamellen aus MAX-Exterior-Platten belegt ist, auch wesentliche Werke der Geschichte der architektonischen Konstruktion konnotiert: Richard Buckminster Fullers geodätische Kuppeln oder Frei Ottos leichte Flächentragwerke, die eine stützenfreie Überspannung durch zeltartige Dächer möglich machten. Sowohl Fuller als auch Otto fühlten sich in ihrer konstruktiven Kreativität einer „Strategie der Natur“ verpflichtet, und genau diese Qualität spürt man auch in der Lodge hoch über dem Traunsee: Man fühlt sich unter den Lamellen, die einen gegenüber Wind und Regenwasser durchlässigen Dome bilden, wie unter einem Blätterdach. Dies gewährleistet ein Spiel fürs Auge mit Licht und Schatten, mit Innen- und Außenraum.

Die Raumwahrnehmung wird nicht nur durch diese optischen Phänomene einer Dynamisierung unterworfen, auch die Ausbildung der fixen Einbauten, wie einer aus dem Boden rampenartig ansteigenden Liege oder eines „Bankbandes“, das sich ebenso aus der Bodenfläche löst und in den Raum zu einem Tisch hin erhebt, lässt alles in Bewegung geraten. Indem alle Flächen im gleichen Material wie die Lamellen ausgeführt sind, wird der Raum dem Anspruch als Kokon gerecht: im Inneren ein Ort des Rückzugs und der Kontemplation, nach außen eine Skulptur am Hang. Dieses Wechselspiel zwischen realem Raumerlebnis, der Möglichkeit, ein Bild von Urbanität hereinzuholen und das Gebaute selbst als stimmiges Objekt in der Landschaft zu implementieren, zeugt von der Kunstfertigkeit von „Heri&Salli“ mitzudenken. Und mitgedacht ist eben auch die Funktion: Heutzutage können die Bauherren von ihrer hoch gelegenen Loge nicht nur den Reiz der Natur visuell genießen, sondern gleichzeitig in den Pool hüpfen und sich selbst erfrischen.

31. März 2012 Spectrum

Strasshof, Texas

Ja ja, Wolfgang P., Natascha K. und das Kellerverlies im Heidesand, wir wissen schon: Als Schauplatz eines der spektakulärsten Verbrechen vergangener Jahrzehnte beschäftigt uns Strasshof noch immer. Und sonst? Wie aus dem Traum von der Gartenstadt ein Stück US-Provinz im Marchfeld wurde.

Niederösterreich war historisch immer nach Wien orientiert. Industrie-, Most-, Wald- und Weinviertel umschließen die Hauptstadt, über das Land verteilt finden sich nach wie vor die Renaissance- und Barockschlösser der Fürsten, die nebst diesen Landsitzen über ein dem Hofe nahes Pendant in der Stadt verfügten. Das Niederösterreich der einfachen Landbevölkerung hingegen war und ist von einer dörflichen Struktur geprägt, wo in kleinen Siedlungseinheiten die Land- und Forstarbeit für die Herren oder für den eigenen Hof erbracht wurde.

Wenn nun ein Ort in diesem gewachsenen Gefüge gänzlich anders ist, dann fällt dies auf. Strasshof an der Nordbahn ist dieser Ort. Warum fühlt man sich bereits knapp außerhalb der Wiener Stadtgrenze, mit dem Auto unterwegs Richtung Gänserndorf und womöglich weiter ins sanfte Hügelland des Weinviertels – einer sehr „österreichischen“ Gegend – so wenig auf österreichischem Boden? Der Betrachterin bieten sich flaches Land, weite Felder und mittendrin eine weiße Rinderherde; ein überbreiter Highway, flankiert von entsprechend überdimensionierten Werbeflächen, eine kleine Raffinerie im Augenwinkel, jede Menge Windräder. Man wähnt sich eher on Route 66 zwischen Oklahoma City und Amarillo, Texas, als in der Umgebung von Wien. Bei der Durchquerung von Deutsch-Wagram, einem gewachsenen Ort mit historischer Bausubstanz, wird man nach Mitteleuropa zurückgeholt, nachdem man dies hinter sich gelassen hat, öffnet sich wieder eine andere Perspektive: Die Vegetation, die man durchfährt, leitet einen assoziativ innereuropäisch westwärts, an die Küste Frankreichs. „Les Landes Aquitaine“ heißt das Gebiet, wo schnurgerade Landstraßen durch Föhrenwälder ziehen, hinter denen sich eine Dünenlandschaft aufbaut.

Von dieser Strecke beeindruckt, gelangt man nach Strasshof an der Nordbahn und bleibt hin- und hergerissen zwischen den Eindrücken, denn hier vermischen sich an der Haupt- und Durchzugsstraße B8 alle beschriebenen Assoziationen: die Werbeschilder und der Föhrenwald, die Einfamilien- und Warenhäuser, Tankstellen und „Dünen“ – teils echt, teils künstlich – als Rodelhügel oder Schallschutzmauer für dahinterliegende Fertigteilhäuser. Auf rund 6,5 Kilometer Länge erstreckt sich zwischen den Ortsschildern – in loser Abfolge aufgefädelt – das infrastrukturelle Zentrum, hier finden sich Supermärkte, Autohäuser, ein Möbelhaus, die Apotheke, die Bäckerei mit Café, die Banken, die Pizzeria und die Videothek, aber auch Hinweisschilder zu Gemeindeamt, Kindergarten, Arzt und Psychologin, kurz gesagt alle Elemente der lokalen Versorgung für die Menschen, die hier leben.

Ein Bahnhofplatz ohne Bahnhof

Ohne die kriminalistischen Erregungen der jüngeren Vergangenheit von Strasshof automatisch mitzudenken, vermittelt einem diese Mainstreet ein Gefühl, das im Amerikanischen mit weird umschrieben wird: seltsam, nicht passend, eine leichte Beunruhigung konnotierend. Obwohl man noch gar nicht weiß, dass es abseits dieser Drive-Through-Shopping-Mall kein eigentliches Ortszentrum gibt – auch wenn ein grünes Hinweisschild dies suggeriert –, spürt man, dass hier etwas anders ist. Definitiv anders als in den Straßendörfern des restlichen Niederösterreich, deren Hauptstraßen geprägt sind von geschlossener Bebauung, einer das Ortszentrum markierenden Kirche mit Vorplatz, vielleicht einem Anger, einem Adeg-Markt und dem Dorfgasthaus respektive Kirchenwirt.

Im durch das erwähnte Schild postulierten Zentrum erschließt sich die Logik eines eigentlichen Ortskerns nicht zwingend. Zwar lässt eine an der Strasshofer Hauptstraße unmotiviert am Straßenrand platzierte Dampflokomotive erkennen, dass die Zuschreibung „an der Nordbahn“ als Melioration gedacht sein muss, beim Bahnhofplatz freilich finden sich zwar Bahndamm und vier Geschoßwohnbauten mit Sichtziegelfassade, die auf Werkswohnungen der Jahrhundertwende schließen lassen, ein vermutetes Bahnhofsgebäude existiert jedoch nicht. Ein Bahnhofplatz ohne Bahnhof – in Strasshof scheinen städtebauliche Wünsche und deren bauliche Ausformung wechselseitig nicht schlüssig korrespondiert zu haben.

„Am Anfang war die Eisenbahn“, heißt es im Titel des Strasshofer Heimatbuchs, ein erster Verweis darauf, dass es mit der Ortsgeschichte zeitlich nicht weit her sein kann, da die Nordbahn in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts errichtet worden ist. Die „Enclave Strasserfeld“ ist im Franziszeischen Katasterplan aus dem Jahr 1822 als Teil der Gemeinde Gänserndorf verzeichnet. Der kartografischen Farbgebung ist zu entnehmen, dass es sich um Heideland ohne Flusslauf und ohne nennenswerte Siedlungen handelte, lediglich der „Straßerhof“ und der weiter südöstlich gelegene Schäferhof „Siehdichfür“ sind verzeichnet. Ab 1838 wurden die Gleise der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn zwischen Deutsch-Wagram und Gänserndorf verlegt, und Strasshof erhielt eine Haltestelle mit zwei Bahnwärterhäuschen. Im Zeitraum bis zur Jahrhundertwende blieb die Einwohnerzahl mit rund 60 Personen, die die „Drei Häuseln“, das Haus des Flohwirtes und den Strasserhof bewohnten, relativ unverändert.

Die 1890 zur Entlastung des Wiener Nordbahnhofs errichtete Rangieranlage in Floridsdorf konnte alsbald die Massen an Gütern kaum mehr bewältigen, und so sah man sich nach günstig gelegenem und günstig zu erwerbendem Brachland um. Am 1. Jänner 1906 wurde die Bahnlinie in k. u. k. Staatsbesitz übergeführt, bereits im Juni desselben Jahres das Gelände am Strasserfeld begangen und mit der Planung eines Rangierbahnhofes begonnen.

Im Oktober 1908 war der erste Teil der Gleisanlagen fertig gestellt, und ab diesem Datum mutierte die „Enclave Straßerfeld“ der Gemeinde Gänserndorf zu Strasshof als Enklave von Wien. Der damals größte Verschubbahnhof Mitteleuropas begründete einen Standort, dessen produktives Potenzial einzig auf die Entwicklung der Reichshauptstadt fokussiert war: ein Implantat der Industrialisierung mitten im sandigen Heideland.

Zu diesem Zeitpunkt trat eine Person auf den Plan, die bis heute prägend für das Stadtbild von Strasshof ist. Ludwig Odstrčil erwarb 1909 nicht nur den Strasserhof, sondern auch einen Großteil der Gründe am Strasserfeld. Odstrčil war durch die Einnahmen aus Schürfrechten in Mähren zu erheblichem Reichtum gekommen und widmete sich ab nun dem Projekt einer Garten- und Industriestadt Strasshof. Am 23. Mai 1911 wurde ein Flächenwidmungsplan bei der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf eingereicht, der mit einem erstaunlich rationalen Ansatz die Parzellierung der Grundstücke vorgab, welche auch umgesetzt wurde. Zur selben Zeit, als Otto Wagner für den heutigen 22.Wiener Gemeindebezirk das städtebaulich utopische Konzept einer unbegrenzten Großstadt entwarf und die einzelnen Stadtteile einem planerisch streng orthogonalen Raster unterwarf, entwickelte der Sohn von Ludwig, Jan Odstrčil, als Architekt einen Rasterplan für eine begrenzte Kleinstadt in Niederösterreich – für Strasshof. Die Einflüsse hierfür sollen aber nicht von Otto Wagner, sondern von viel weiter entfernt, aus den USA gekommen sein: Im Nachlass der Familie Odstrčil befindliche Ansichtskarten aus Chicago hätten die Selfmade-Stadtplaner Vater und Sohn Odstrčil auf die Idee der Gitterstruktur gebracht.

In einer von Ludwig Odstrčil formulierten Abhandlung von 1912 beschreibt er seine Intentionen dahingehend, eine Satellitenstadt für die Wiener Arbeiterschaft zu gründen, die ihren Bewohnern das Leben angenehm gestalten soll. Er schwärmt darin von den günstigen klimatischen Verhältnissen, der warmen, trockenen und durch die nahen Waldungen ozonreichen Luft und den unerschöpflichen Trinkwasservorkommen unter den für die Gegend typischen, sieben Meter tiefen Lagen aus Schotter- und Sandschichten. Ein Schaubild auf Odstrčils Plan zeigt ein Einfamilienhaus, das mit „Klein – aber mein“ betitelt ist, der Text beschreibt jedoch die Bebauung in Häuserblöcken, ein- bis zweistöckig, und die Gliederung der Stadtanlage durch große Plätze und Parks. „Außerdem ist für einen ca. 30 ha großen Stadtpark, also für einen Prater, und für einen umfangreichen Friedhof vorgesorgt worden.“

Eher sozialistisch denn elitär

Im Regulierungsplan hätte die katholische Kirche an ihrem jetzigen Standort auf einem Platz freigestellt und vom Ortszentrum umgeben werden sollen. Vom Kirchplatz ausgehend hätte die „Hauptallee“ (jetzt Waldstraße) den „Prater“ (jetzt Mischwald) tangiert, in dessen Mitte ein Bad vorgesehen war. Ludwig Odstrčils Motiv zur Stadtgründung war jedenfalls eher von sozialistischen denn von elitären Gedanken geprägt. Die Einwohnerzahl der Siedlung Strasshof war bis 1912 auf 750 angewachsen, die entworfene Industrie- und Gartenstadt dürfte für rund 20.000 Einwohner ausgelegt gewesen sein.

Der Erste Weltkrieg brachte mit der Niederlassung der Baufirma Redlich & Berger (ab 1921 Universale Bau) einen großen Betrieb nach Strasshof, der Arbeitskräfte benötigte und einen neuerlichen Zuzug nach Strasshof bewirkte, die Infrastruktur für die Bevölkerung blieb allerdings aus. 1916 wurde ein Militärflugplatz errichtet, an ein eigenes Schulgebäude wurde jedoch nicht gedacht. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Voraussetzungen denkbar schlecht, die stadtplanerischen Ideen der Vorkriegszeit in geordneter Weise zu realisieren: Durch den Zerfall der Monarchie wurde das Bahngeschäft schwächer, das Flugfeld wurde liquidiert. Wegen der vielen Grundstücke, die nun billig zu haben waren, ließen sich weiterhin Siedler, vorwiegend Eisenbahner, nieder, wodurch die Arbeiterschaft gegenüber der bodenständig bäuerlichen Gänserndorfer Bevölkerung immer stärker wurde. Als man in der Gemeinde fürchtete, dass Gänserndorf durch die Strasshofer Wählerschaft sozialdemokratisch übernommen werden könnte, entließ man die Siedlung 1923 in die Selbstständigkeit.

Ab dann hieß die Gemeinde „Strasshof an der Nordbahn“ und hatte etwa 1100 Einwohner. Durch den Beinamen sollte vermutlich die Gleisanbindung und Identifikation mit dem Roten Wien unterstrichen werden, denn der Verschubbahnhof hatte wirtschaftlich längst an Bedeutung verloren. Im Unterschied zur Finanzpolitik des Roten Wien, wo Luxussteuern eingehoben wurden, um soziale Bauprojekte zu finanzieren, verfügte Strasshof jedoch über keine gehobene Schicht an Bürgern, die hätte besteuert werden können. Der Gutsbesitzer Ludwig Odstrčil leistete in seiner Rolle als Mäzen freiwillig seinen Beitrag, indem er Einzelgrundstücke für Bildungseinrichtungen, den Friedhof und die katholische Kirche – später auch für die evangelische – spendete. Für eine geordnete Planung seitens der Gemeinde, die ein identitätsstiftendes Ortszentrum für die Strasshofer Bevölkerung geschaffen hätte, gab es jedoch kein Budget.

1932 war Straßhof mit einer Arbeitslosenrate von 30 Prozent ein echtes Notstandsgebiet, in Ergänzung einer überforderten Sozialpolitik kümmerte sich der Verein der Kulturfreunde Marchfeld um die neuen Mitbürger. Man widmete sich Themen wie der „erfolgreichen Hühnerwirtschaft“ oder der „zeitgemäßen Schädlingsbekämpfung“ bei Obstbäumen, aber eben auch der Problematik der neu zugezogenen Familien, die mit ihrem letzten Spargroschen kamen, um sich eine oft fragwürdige Existenz aufzubauen.

Der zweifelhafte wirtschaftliche Aufschwung folgte dann in der Nazizeit; eine kriegstreiberische Politik besann sich des Potenzials des Verschubbahnhofs, des ebenen Heidelandes und der (arbeits-)hungrigen Bevölkerung: Als offensichtlich kriegsvorbereitende Maßnahme wurden bereits im Jahre 1938 die Gleisanlagen wieder verstärkt bewirtschaftet und die Bauarbeiten an einem neuen Flugplatz mit direktem Gleisanschluss und flankierender Bebauung wie Tanklager und Bunker aufgenommen. Für die Arbeiten wurde nicht nur die Not der Strasshofer Bevölkerung ausgenutzt, sondern es wurden Konzentrationslager errichtet, um zusätzlich Zwangsarbeiter, später deportierte Juden aus Osteuropa unterbringen zu können.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel Strasshof in den Bereich der sogenannten Verwaltung sowjetischer Truppen und so konnte erst ab 1955 mit der Behebung der Kriegs- und Folgeschäden und der Etablierung der fehlenden Infrastruktur im Ortsgebiet begonnen werden. Ernsthafte städtebauliche Überlegungen waren jedoch weiterhin kein Thema: Strasshof wurde kurzerhand zur Schlafstadt deklariert, das Defizit eines funktionierenden Ortskerns wurde durch die gute Erreichbarkeit von Floridsdorf mit der Bahn für obsolet erklärt. Auch die Familie Odstrčil konnte nun nichts mehr dagegen halten: Ihr Vermögen, in der Tschechoslowakei angelegt, war nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr greifbar, und so sah man sich genötigt, den Grundbesitz Stück für Stück zu veräußern.

Ab da setzte die endgültige Amerikanisierung von Strasshof ein. Die Gitterstruktur, die nach Odstrčils Planung für eine verdichtete Verbauung mit Häuserblöcken vorgesehen war, wurde mit Einfamilienhäusern belegt und – anders als in den USA, wo im Suburb meist durch freie Rasenflächen zwischen den Häusern ein Raum zum sozialen Austausch gebildet wird – diese durch Zäune und blickdichte Bepflanzung voneinander getrennt. Jede Familie schuf sich so ihren abgeschotteten Freiraum, über die Notwendigkeit von stadträumlichen Zonen, in denen die zwanglose Annäherung der Individuen üblicherweise stattfindet, wurde offensichtlich nicht weiter nachgedacht.

Um der zunehmenden Automobilisierung gerecht zu werden, wurde alsbald das weitläufige Straßennetz asphaltiert und mit einer Beleuchtung versehen, auch Wasserleitung, Kanal und Gasversorgung mussten der stetig wachsenden Bevölkerung nachgereicht werden. Die Hauptstraße verselbstständigte sich zum dehnbaren „Zentrum“. Es herrschte kein übergeordnetes Interesse an einer Bündelung der Infrastruktur, und so siedelten sich entlang der B8 auf unüberschaubarer Länge Geschäfte und Betriebe an.

Die Lokomotive auf dem Abstellgleis neben der Straße verdeutlicht, dass sich die frühere Identifikation des Ortes mit der Bahn nur mehr im lokalen Eisenbahnmuseum wiederfindet – „Strasshof an der B8“ wäre die zeitgemäß authentische Zuschreibung. Der Bahnhof wird zurzeit zwar modernisiert, ein Auffanggebäude erhält er allerdings wieder nicht. Wichtiger ist vielmehr ein großer Parkplatz, auf dem die Strasshofer Bevölkerung ihren PKW abstellen kann, um den Zug zu besteigen. Und dann geht's vorbei an den weiten Feldern und dem Föhrenwald direkt nach Wien, das nach wie vor ihr eigentliches soziales Zentrum ist.

10. Dezember 2011 Spectrum

Hochsitz für die Kunst

Höflein an der Hohen Wand: Im Haus des Bildhauers Vadim Kosmatschof und der Textilkünstlerin Elena Koneff werden Kunst und Architektur vereint. Umgeben von Wald und Wiese.

Die Hohe Wand westlich von Wiener Neustadt könnte man durchaus als den Tafelberg der Wiener bezeichnen. Dieses acht Kilometer lang gestreckte Bergmassiv verfügt über ein bewaldetes Hochplateau, über das viele Wanderwege führen. Seine steilen Felswände im Westen und Süden sind weithin von der Ebene des Wiener Neustädter Beckens auszunehmen und verleihen der Gegend ihr skulpturales Gepräge.

Verständlich, dass sich ein Künstlerpaar von der Landschaft angezogen fühlt und diese als schützendes Hinterland für ihr Refugium wissen möchte. Der Bildhauer Vadim Kosmatschof und die Malerin und Textilkünstlerin Elena Koneff, 1979 aus Moskau nach Österreich emigriert, 20 Schaffensjahre in Deutschland und schließlich wieder in Wien lebend, haben sich den Traum von einem Kunstraum mit Weitblick erfüllt. Gemeinsam mit ihrer Tochter Mascha Veech-Kosmatschof und deren Partner Stuart Veech, die mit „Veech Media Architecture“ eine der wenigen internationalen Architektenformationen der Wiener Szene darstellen, wurde ihnen ein Atelierhaus entworfen, das in passgenauer Form und puristischer Weise einen Ort der Inspiration geschaffen hat. Inspirierend nicht nur für das weitere Arbeiten der beiden Künstler, sondern ebenso als „Kulturmagnet“ für Gäste – um einen Diskurs über die ausgestellten Werke und die Kunst zu bieten.

Vadim Kosmatschofs Lebenswerk ist von großformatigen Stahlplastiken geprägt, die immer im architektonischen oder urbanen Kontext in 15 europäischen Städten aufgestellt wurden. Das Grundstück für das Atelierhaus musste dem Maßstab der Arbeiten entsprechend weitläufig sein, um aus Teilen seines Werkes einen Skulpturengarten bilden zu können. Elena Koneffs Bilder und Gobelins hingegen benötigen neutrale Räume, um zur Geltung zu kommen.

Man machte sich auf die Suche nach einem passenden Bauplatz und wurde in Höflein, am westlichen Ausläufer der Hohen Wand, fündig: eine Wiese am Steilhang, oberhalb und östlich begrenzt von Föhrenwald, den Hang hinab mit einem unverstellten Blick ins Tal hinein auf grüne Bergkuppen und aus dem Tal hinaus bis zum Rosaliengebirge. In einem langen Planungsprozess konnten Varianten durchgedacht werden, um in der Auseinandersetzung mit dem genius loci die Idealform zu entwickeln. Noch während der wegen der Hanglage komplexen Bauarbeiten wurden Adaptionen vorgenommen, um das erwünschte Zusammenspiel von Innen und Außen, von Werkstatt, Wohn- und Ausstellungsraum zu optimieren.

Der Baukörper ist parallel zum Hang lang gestreckt, auf sieben Meter Tiefe in diesen eingeschoben und seitlich mit anthrazitfarbenen metallischen Platten verkleidet. Er liegt sieben Meter über dem Niveau der Zufahrtsstraße und verfügt über ein breites Plateau als Vorbereich zum Haus hin. Die Geländekante ist so weit vorgezogen, dass vom Innenraum aus die an der Straße liegenden Nachbarhäuser nicht sichtbar sind und nur die umgebende Landschaft im sicheren Abstand als malerisches Gegenüber ausgebildet wird.

Auf einer Länge von 40 Metern sind die halb öffentlichen Räume des Gebäudes additiv angeordnet: Im Westen liegt die Werkstatt als eigene, von außen begehbare Einheit. Daran anschließend liegen die Küche mit Essplatz, ein kleines Bad, die Stiege ins Obergeschoß und ein großer Galerieraum mit Kaminplatz, der zum Ausstellen der Werke und als Denk- und Diskursraum funktionieren soll. Ein Depot für die Kunstwerke markiert das östliche Ende des Sockelbauwerks.

Während der Atelierraum rundum geschlossen ist und über ein verglastes Dach zur Belichtung und zur Raumerweiterung verfügt, sind die Wohnräume mit einer durchlaufenden Verglasung zum Vorplatz hin versehen. Darüber schwebt mittig die weit auskragende, quer zum Hang stehende weiße Box und bildet darunter eine Loggia aus. Im Obergeschoß befinden sich die Schlafräume, das Wohnzimmer und eine Terrasse auf dem Flachdach des Erdgeschoßes. Auch dieser Außenraum bietet Privatsphäre, eingebettet zwischen der Brüstungsmauer, der Stützmauer zum höher liegenden Skulpturengarten und dem Waldesrand, wo die Pinien einen immergrünen „Schutzwald“ darstellen.

So einfach das Konzept der quergestellten Schachtel auf dem Dach des Atelierhauses klingt, so subtil ist seine architektonische Wirkung verstärkt, was sich erst vom oberhalb liegenden Skulpturengarten aus offenbart: Das Obergeschoß ist nicht orthogonal, sondern um acht Grad rautenförmig verschoben. Was von oben „ganz schön schräg“ aussieht, ist von unten als lediglich spürbares Phänomen wahrnehmbar. Ein spannendes Moment, denn das Auge wird getäuscht, nimmt Dynamik wahr, wo Schwerkraft herrscht, und lässt die enorme Weite der Auskragung vergessen.

Im Innenraum sind die zwei parallel verschobenen Außenwände sichtbar, doch nicht irritierend, sondern die räumliche Spannung steigernd. Die seitlichen Wände sind mit blickdichtem, transluzentem Glas versehen, und so ist die Blickrichtung über die Längsachse vorgegeben, das Naturschauspiel wird inszeniert und dadurch einem – wofür Veeches Architektur bekannt ist – gerichteten „framing“ unterworfen.

Die Natur als Bezugsgröße im Koordinatensystem dieser Architektur wird nicht nur in Form und Einbettung des Atelierhauses in dieselbe ersichtlich, sondern auch in der Funktion: An drei Seiten in die Erde eingegraben, muss wenig geheizt werden, die aufliegende weiße Box spendet Schatten im Erdgeschoß und garantiert einen kühlenden Luftzug durch das ganze Haus. Naturbezüge liegen auch im Wesen der künstlerischen Arbeiten von Vadim Kosmatschof, und so fanden Kunst und Architektur im innerfamiliären Klima von gelebter Kooperation und gegenseitigem Respekt zueinander.

Ein Hochsitz für die Kunst an der Hohen Wand, in unaufgeregter, anspruchsvoller Gestalt als Treffpunkt zur Kunstvermittlung: eine mehrfache Kulturleistung einer kosmopolitischen Familie mitten in Niederösterreich.

20. August 2011 Spectrum

Tisch ahoi!

Temporäre Sommerarchitektur: Terrassenboote, Zelturlaub und Minilofts. Die Donau und Schotterteiche rund um Wien als Refugium jener, für die Wochenende und Wasser unzertrennliche Begriffe sind. Eine Bestandsaufnahme.

Vor fünf Jahren stand an dieser Stelle geschrieben, dass der Juli 2006 der heißeste gewesen ist, seit es klimatische Dokumentationen gibt. Heuer fällt die Temperaturbilanz deutlich ernüchternder aus. Der Juli war nicht gerade der kälteste bis dato, aber einer der kältesten seit 30 Jahren. Was sich auf die Spitzen der Alpen positiv auswirkt, da durch Neuschnee im Juli die Gletscherschmelze ein wenig hintangehalten wird, lässt die Gemüter der Sommerhungrigen von sonnig auf betrübt umschlagen. Wer nicht schon den Sonnenhut auf den verregneten Sommer gehaut hat und in den Süden abgehauen ist, muss zur Freizeitgestaltung in Wien flexibel bleiben. Kaum, dass sich die Sonne zeigt, zieht es die Wiener und Wienerinnen hin zum Wasser, um körpernahe auszukosten, was den Rest des Jahres angenehmerweise nicht möglich ist.

„Stellt für den Amerikaner vor allem der Ausflug und das ,Camping‘, für den Engländer die Ausübung jeglicher Art von Sport, für den Franzosen die Kleintouristik ohne sportliche Betätigung, für den Italiener, bei dem Körper- und Wassersport erst in letzter Zeit Bedeutung erlangte, das dolce far niente die typische Wochenenderholung dar, so sind ... für uns in Österreich Wochenende und Wasser unzertrennliche Begriffe. Auch das sesshafte Wochenende entwickelte sich am Wasser: an den Ufern des Meeres und der Seen, in Wien an der Donau.“ So steht es in einer österreichischen Zeitschrift vom Juli 1933 unter dem Titel „Wasser, Luft und Sonne“ nachzulesen. Wenn sich auch die Präferenzen der jeweiligen Nationen im Laufe der Jahrzehnte wohl aufgemischt haben, bleiben die Gefilde der Donau bevorzugtes Ziel der Tagesausflügler. Glücklich kann sich schätzen, wer ein „Weekend-Häuschen“ mit Wasserzugang sein Eigen nennen kann – sei es in einem der Strombäder an der Donau, an einem der vielen Schotterteiche rund um Wien oder – quasi mitten in der Stadt – an der Alten Donau. Tagesgäste können seit Florian Berndls Zeiten, als sich dieser um 1900 am von ihm gepachteten Gänsehäufel die erste Reisighütte gebaut hat, Cabanen mieten und ihre Freizeit in der Gemeinschaft mit Bad und Sonnenbad „auf der Insel“ verbringen.

Wer allerdings das Individuelle bevorzugt und sich von der Landpartie unabhängig machen will, den zieht es vermehrt mit schwimmendem Untersatz direkt aufs Wasser. Das Schlauchboot mit Rudern als Inbegriff der Eroberung der Wasserflächen in den 1970er-Jahren hat dabei längst ausgedient – zu unpraktisch und zu unbequem, wie man mit der zeitlichen Distanz ruhig zugeben kann. Mittlerweile haben sich in Form und Größe ansprechendere Wasserfahrzeuge durchgesetzt: Boote mit Elektromotoren, die sich als kleine Jachten gerieren und mit sinnstiftenden Namen wie „Hartz IV“ (sic!) versehen sind, gehen an einem sonnigen Sonntag in Ufernähe vor Anker, dort, wo es seicht ist, damit man gut ins Wasser steigen kann, ohne schwimmen zu müssen. Andere mieten vis-à-vis des Gänsehäufels ein „Wohnboot“, das im Unterschied zu einem Hausboot fix mit dem Steg verbunden ist und sich nicht zum Herumschippern eignet. Aber man ist auch am Wasser, hört es plätschern, spürt die Wellenbewegungen, und vielleicht genügt ja schon die Vorstellung, dass man theoretisch ablegen und zu anderen Ufern aufbrechen könnte, um ein Freiheitsgefühl zur Entspannung im städtischen Alltag zu entwickeln.

„Schwimmhäuser“ mit 30 Quadratmetern, „vollverglast mit Küche, Bad, Doppelbett und zwei Terrassen“, werden an der Donau sogar mit Niedrigenergiestandard angeboten; zwar mit Klimagerät zum Kühlen und Heizen ausgestattet, aber nachdem der schwimmende Wintergarten der Wiener Firma „Mikrohaus“ sich nicht selbstständig fortbewegen kann, verbraucht er sicherlich weniger Energie, als wenn er mit einem Motor betrieben werden würde. Wer mit seinem Haus wirklich mobil sein will, der könnte zum „Wohnen auf dem Wasser“ eine „Flachrumpf-Tschunke“ auf der Donau erstehen; 45 Quadratmeter Wohnfläche bieten wohl mehr Komfort als ein Wohnmobil und darüber hinaus – trotz Schleusen – eine stressfreiere Reise, womöglich bis ans Schwarze Meer.

Ein dem Nomadentum am Wasserlauf entgegengesetztes Phänomen ist heuer am Unterkai des Donaukanals zu beobachten: An der Adria-Wien wurden von Initiator Gerold Ecker aufgeständerte Zweimannzelte aus Designerhand fix verortet, die als Schlafplätze zu Campingplatzpreisen gemietet werden können. Das Gegenteil vom schwimmenden Wohnwagen ist das fix verankerte Zelt. Das „Miniloft“ von Superwien Architekten zeigt, wie schnell mobil in stabil umformuliert werden kann, das Feeling des Zelturlaubs am euphemistischen Adria-Strand trotzdem inklusive!

Aber zurück an die Alte Donau, wo selbst ein romantisches Dinner mitten auf dem Wasser konsumiert werden kann: Zwei Partyboote stehen zur Anmietung bereit. Während das Essen aufgetragen und der Wein kredenzt wird, fährt man gemächlich an den Ufern des Altarmes entlang. Diese Art der stimmungsvollen Kreuzfahrt des kleinen Mannes kann durchaus auch in Eigeninitiative entwickelt werden, denn die Nutzung des Wassers selbst steht jedem frei. Ein katamaranartiges Floß, mit einem Elektromotor angetrieben, eine Reling rundherum, ein Tisch, ein paar Sessel, eine Kühlbox und fallweise ein Griller – fertig ist die eigene Chill-out-Zone! Es sieht aus, als ob sich ein Stück der im Wasser liegenden Sonnenterrasse eines Strandlokals verselbstständigt hätte, und genau diese Qualität bietet sich den Nutzern auch: ein weißer Gespritzter, eine kleine Grillerei und nachher eine Schaumrolle – allerdings individualtouristisch mitten auf dem Wasser. „Tisch ahoi!“, kann man da nur sagen und den Seefahrern wünschen, dass keine jäh einsetzende Bö das Semmerl oder den Plastiksessel von Bord weht. Das wendige und vielleicht auch trendige „Terrassenboot“ kann als ein Stück dynamisierter Architektur verstanden werden, was beweist, dass man seiner Kreativität nur freien Lauf lassen muss, um spontan auslaufen und einen der im Jahre 2011 spärlichen lauen Sommerabende in Wien wasseraffin genießen zu können.

7. Mai 2011 Peter Payer
Spectrum

Stadt im Fluss

Vom Lebensnerv der Stadt über die „Riviera der Arbeitslosen“ zur Lokalszene unserer Tage: Wiens Donaukanal – eine kleine Kulturgeschichte.

Ueber Jahrhunderte wurden Waren zur Versorgung von Wien über die Donau bis an die befestigte Stadt herangeschafft; der „Wiener Arm“, der viel später als „Donaukanal“ be- und im urbanen Gefüge verfestigt wurde, war der Lebensnerv der Stadt. Nachdem Mitte des 14. Jahrhunderts die erste Brücke – die Schlagbrücke an der Stelle der heutigen Schwedenbrücke – zur damals sogenannten Donauinsel mit ihren Auen und kaiserlichen Jagdgebieten geschlagen worden war, begann sich die Bebauung am anderen Ufer zu verselbstständigen. Die Händler trachteten danach, sich vis-à-vis des Rotenturmtores niederzulassen, um dem Geschehen möglichst nahe zu sein. Der „Untere Werd“ entwickelte sich zur bevölkerungsreichsten, später zur jüdischen Vorstadt von Wien.

Ab 1858, als die Wiener Stadtmauer fiel, begannen die Stadtplaner, sich den „Donaukanal“ anzueignen. Während das Ufer der Leopoldstädter Seite bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine geschlossene klassizistische Bebauung aufwies, konnte das andere Ufer erst jetzt baulich entwickelt werden. Nach der Regulierung des Donaustromes 1870 bis 1875 wurde ein Wettbewerb für ein infrastrukturelles Folgeprojekt ausgeschrieben: Der Generalregulierungsplan für Wien sollte nicht nur die gezielte Nutzung des Donaukanals als Schutz- und Winterhafen mit begleitender Anlage von Abwasser-Hauptsammelkanälen, sondern auch die Errichtung eines Stadtbahnnetzes festlegen. Bereits 1898 war die großzügige Infrastrukturplanung in vorbildlicher Weise realisiert, unter künstlerischer Federführung von Otto Wagner, dem expliziten Verfechter der Implementierung von Architektur im Sinne einer praktischen Kultur für ein „modernes Großstadtleben“.

Der ab Ende des 19. Jahrhunderts durch das Nussdorfer Wehr konstant haltbare Wasserspiegel ermöglichte die weitere bauliche Einengung des Donaukanals. Die Böschungen wurden im innerstädtischen Bereich begradigt und als zwei bis zu 15 Meter breite, die Wasserstraße begrenzende Vorkais und je einen Oberkai auf Straßenniveau ausgeführt. Die oberen Kaimauern wurden mit Kalksteinquadern verkleidet und mit einem von Otto Wagner gestalteten Metallgeländer dekorativ abgeschlossen, der Wasserlauf selbst wurde entlang der rund fünf Meter tiefer gelegenen Vorkais von Mauern aus Granitquadern begrenzt.

Um die notwendige Wassertiefe für die Schifffahrt zu gewährleisten, sollten nach dem Nussdorfer Wehr drei weitere Wehranlagen mit Kammerschleusen eingebaut werden, errichtet wurde allerdings nur das Kaiserbad-Wehr, mit dem weiß-blauen Schützenhaus, ebenfalls von Otto Wagner geplant. Abgesehen von den einzelnen architektonischen Schmuckstücken ist bei der baulichen Ausgestaltung des Donauarmes im innerstädtischen Bereich immer auch Wagners Bemühen um stadtstrukturelle Qualität erkennbar. Sein Konzept für die Kais als Zonen urbanen Lebens funktionierte, solange Waren in großem Umfang in die Stadt geliefert wurden und Personenschiffe der DDSG direkt am Morzinplatz oder beim Schiffamt anlegen konnten.

Als weitere Attraktion wurden ab 1904 die „Städtischen Strombäder“ in das – zu dieser Zeit nicht mehr durch Hausabwässer und noch nicht durch Industrieabwässer kontaminierte – Donaukanalwasser gesetzt. Diese 50 Meter langen und zehn Meter breiten, aus Holz konstruierten Badeschiffe wiesen, wie ein Katamaran, über die Seitenlängen je einen Schwimmkörper auf. Dazwischen wurde ein circa 13 mal sechs Meter großer Korb ins Wasser gehängt, in den die Menschen über Stufen steigen und – so gut es ging – gegen den Strom schwimmen konnten. Die Badeschiffe waren bis in die 1940er-Jahre in Betrieb, verschwanden dann aber aus dem Flusslauf. Nach dem Ersten Weltkrieg schrumpfte das Handelsverkehrsaufkommen auf der Donau ebenso wie die Personenschifffahrt. Dafür wurde der Freizeitnutzung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt: Gerade das Baden war sowohl in den Badeschiffanlagen wie auch „wild“ an den Uferböschungen zu dieser Zeit äußerst beliebt. Etwa im Bereich nördlich der Friedensbrücke, der häufig von Obdach- und Arbeitslosen frequentiert wurde, insbesondere Anfang der 1930er-Jahre, als sich deren Zahl infolge der Wirtschaftskrise eklatant erhöhte. Die Zeitung „Der Abend“ bezeichnete diesen Abschnitt des Donaukanals ironisch als „Riviera der Arbeitslosen“ und widmete ihm im Juli 1933 eine umfangreiche Reportage: „Das Strandleben an der Wiener Riviera ist einfach und anspruchslos. Man kommt, man sucht sich ein Platzerl, lässt die Hosen herunter oder streift das bescheidene Kleid ab – fertig. Man braucht keine Kabinen, keine Strandkörbe, keine hochmodernen Badeanzüge.“

Auch als Austragungsort von Sportveranstaltungen konnte sich der Donaukanal etablieren. Vor allem das Schwimmfest „Quer durch Wien“, bei dem der Donaukanal von der Nussdorfer Schleuse bis zur Sophienbrücke (der heutigen Rotundenbrücke) durchschwommen werden musste, entwickelte sich zum Publikumsmagneten. Erstmals 1913 ausgetragen, wurde der Wettbewerb im Jahr 1919 wieder aufgenommen und avancierte sogleich zu einer der populärsten Veranstaltungen im Wiener Sportleben. Unter den teilnehmenden Vereinen befand sich auch der jüdische Sportklub „Hakoah“, der eine avancierte Schwimmsektion aufgebaut hatte und „Quer durch Wien“ mehrmals für sich entscheiden konnte.

Noch 1927 schätzte man die Zahl der Zuschauer an den Ufern des Kanals auf beachtliche 25.000. Das „Arbeiterschwimmen“ war zur politischen Manifestation des „Roten Wien“ geworden. In den folgenden Jahren ging der Publikumszuspruch allerdings kontinuierlich zurück. Dies und der Umstand, dass antisemitische Anfeindungen gegenüber jüdischen Sportlern deutlich zunahmen, veranlassten die Veranstalter, den Schwimmbewerb nach Krems zu verlegen, ehe man ihn 1938 völlig einstellte. Der Donaukanal war zum Politikum geworden.

Als sich die Nationalsozialisten im Jahr 1938 der Wiener Stadtplanung zu bemächtigen begannen, war mit „Wien an der Donau“ nicht mehr die innere Donau, der Donaukanal gemeint, sondern der Donaustrom selbst. Die zwischen den Gewässern liegende Leopoldstadt, die vor dem „Anschluss“ zu 40 Prozent von Juden bewohnt war, wurde in gigantomanischen Entwürfen mit „Prachtstraßen“, „Aufmarschachsen“, „Festplätzen“ und „Parteizentren“ verplant, in einem Maßstab, der von gewachsener Struktur und Kultur nicht viel übrig ließ. Diese Entwürfe blieben ebenso unrealisiert wie jene nach Kriegsende aus dem Architektenwettbewerb zum Wiederaufbau, nachdem gerade die Donaukanalgegend im innerstädtischen Bereich zerstört worden war. Lediglich die Implementierung von vereinzelten Hochhäusern wie dem Ringturm von Erich Boltenstern oder dem Bundesländer-Gebäude von Georg Lippert entlang der Kais, wie in einem Wettbewerbsbeitrag vorgeschlagen, fand ihren Niederschlag in der späteren Bebauung am Donaukanal, allerdings ohne die konzeptionelle Basis eines Masterplans. Franz-Josefs-Kai und Obere Donaustraße wurden als Hauptdurchzugsstraßen hergestellt, wodurch schleichend eine stadträumliche Veränderung einsetzte, die sukzessive Ober- und Unterkai voneinander trennte.

In den 1960er-Jahren erhielt die Durchflussgeschwindigkeit des Individualverkehrs Priorität gegenüber dem Wasserlauf, der zunehmend verschmutzt und damit unattraktiv geworden war; und es wurde erwogen, auf den Vorkais des Donaukanals eine Stadtautobahn zu trassieren. Allerdings wurde diesem Ansinnen der Stadtpolitik durch eine städtebauliche Studie von Viktor Hufnagl, Traude und Wolfgang Windbrechtinger im Jahr 1971 eine klare Absage erteilt; man verwies auf die Wichtigkeit des Donaukanalbereichs in seiner Erholungs- und Klimafunktion.

Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde die Stadtbahntrasse auf U-Bahn-Betrieb umgerüstet, was als negative Begleiterscheinung das Eigenleben am Donaukanal völlig zum Erliegen brachte. Entdeckt wurde der Donaukanal in jenen Jahren lediglich als Filmkulisse: als Drehort für den US-amerikanischen Agentenfilm „Firefox“ (1982, Regie: Clint Eastwood) und in der österreichischen Kultkrimiserie „Kottan ermittelt“, in der Regisseur Peter Patzak den morbiden Charme des vorstädtischen Kanalufers mitsamt den historischen Stadtbahnbögen in Szene setzte, eine Gegend, die dem in Wien-Brigittenau aufgewachsenen Patzak seit seiner Kindheit bestens vertraut war.

Erst langsam setzte jene Entwicklung ein, die – nach Abschluss der U-Bahn-Bauarbeiten – eine Wende auch bei der Wahrnehmung des Donaukanals bedeutete: die Politisierung des öffentlichen Raumes und die damit einhergehende „Eventisierung“ des Urbanen. Die Wiener ÖVP veranstaltete Ende September 1983 erstmals das „Lichterlfest“, bei dem der Donaukanal abends mit Lampions, Kerzen und Feuerwerk ins Bewusstsein der Bevölkerung geholt wurde. Und auch in der von der SPÖ dominierten Stadtregierung forcierte man die Entwicklung von Konzepten zur Attraktivierung des Kanals. Ein eigener „Donaukanalkoordinator“ wurde bestellt, der sich seither um die Abstimmung sämtlicher Projekte und deren Einbeziehung in den übergeordneten „Masterplan Donaukanal“ kümmert.

Plötzlich hatte der Donaukanalbereich seine spezifische Qualität als Erholungsraum mitten in der Stadt wieder, wurde als solcher auch angenommen und sukzessive entwickelt: Sei es die entstandene Lokalszene, die Neuetablierung der Badeschiff-Idee oder die Wiedereinführung der Personenschifffahrt mit dem Twin-City-Liner nach Bratislava – das städtische Leben ist an die Unterkais des Donaukanals zurückgekehrt. Für Wien ist wichtig, dass nun umgesetzt wird, was Otto Wagner, der Verfechter eines modernen Großstadtlebens, gemeint hat: Urbanität heißt, die Stadt im Fluss zu halten. Dieses Prinzip könnte nun, ein Jahrhundert später, am Donaukanal funktionieren.

12. Februar 2011 Spectrum

Event Baustelle

Ein Turm wird zur Tribüne, das Baugelände zur Bühne erklärt: Der temporäre Holzturm an der Wiener Favoritenstraße bietet einen Blick auf das Drunter und Drüber der Wiener Hauptbahnhof-Baustelle. Signalhaft.

Es war eine faszinierende Szenerie als in den 1970er-Jahren der erste Bauabschnitt der Wiener U-Bahn umgesetzt wurde: Am Karlsplatz taten sich durch die offene Bauweise Schluchten auf, die einen beeindruckenden Einblick in den Wiener Untergrund gewährten. Über der Tiefbaustelle waren Ste-ge, Stiegen und Brücken aus Holz gespannt, um die Passantenströme an diesem zentralen Wiener Platz sicher zu kanalisieren und um den Straßenbahnen auf ihren wackelig anmutenden Schienensträngen, teilweise ebenfalls über Brücken geführt, freie Fahrt zu lassen. Aus der technischen Notwendigkeit heraus ergab sich eine Erhöhung der Blickperspektive: Die Fußgänger wurden für das Stiegensteigen mit einem Tiefblick in ein dynamisches Geschehen belohnt, das den offenen Bauch des Karlsplatzes mit darüber kreuzenden Straßenbahnzügen zeigte. Die temporäre Holzarchitektur wurde so zur Tribüne für Schaulustige – vermutlich als Nebeneffekt, da sich die Stadtpolitik zu dieser Zeit wohl kaum dazu bekannt hätte, dass man die Bürger am gemeinen Baustellenspektakel bewusst teilhaben lassen sollte.

Experimentelle Holzbauten wurden in den Zwanzigerjahren von russischen Künstlern als „Set-Design“ auf die Bühne gebracht. Technoide Gebilde, auf mehreren Ebenen mit Rampen und Treppen verbunden, dienten als sogenannte „Werkbank“ für die Schauspieler. Die Bühnenaufbauten thematisierten die Ästhetisierung der Konstruktion an sich und legten den Grundstein – oder besser den Bundtram – für den Konstruktivismus in der Architektur. Die Bauten aus Holz fanden bald ihren Weg in den Außenraum, wie Konstantin Melnikows sowjetischer Pavillon für die Weltausstellung in Paris 1925: Ein über den Ausstellungsräumen markant aufragender Turm in Holzkonstruktion als reiner Werbeträger mit dem „Logo“ USSR machte die Architektur zum Symbol der aufstrebenden Sowjetunion. Als die Türme begehbar gemacht wurden, geriet die Umgebung selbst zum Set, konnte diese doch plötzlich von oben herab ergründet werden. Genau diese Programmatik bietet nun in Wien die Möglichkeit, eine spannende Work in progress zu verfolgen: die Errichtung des Hauptbahnhofes mit umgebender Büro- und Wohnbebauung.

Wieder ist es ein Bahnprojekt, das Wiens Infrastrukturnetz nachhaltig verändern und einen neuen Stadtteil in den nächsten Jahren herausbilden wird. Aber anders als beim U-Bahn-Bau wird diesmal die Baustelle zum Ereignis für Interessierte uminterpretiert und durch einen Aussichtsturm getoppt, von dem aus das Drunter und Drüber am Baugrund beobachtet werden kann. Im Jahr 2008 war ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, der von Gemeinde Wien und ÖBB gemeinsam ausgelobt wurde und die Errichtung eines Informationsgebäudes zur Entstehungsgeschichte des Hauptbahnhofs und einer bis zu 26 Meter hohen Aussichtsplattform zur Aufgabe stellte. Als Planungsgebiet war die Überbauung des Busbahnhofs am Wiedner Gürtel vorgesehen. Das Wiener Büro RAHM architekten, namentlich Adele Gindlstrasser, Hans Schartner und Ursula Musil, konnte den Wettbewerb für sich entscheiden, obwohl es sich über die Vorgabe hinwegsetzte und einen Turm mit 90 Meter Höhe konzipierte. Die Begründung der bewussten Überhöhung des Turmes, um eine bessere Sichtbeziehung zum Baustellengelände zu erreichen, scheint die Jury überzeugt zu haben, und man folgte der kreativen Empfehlung der Architekten. Um das „Bahnorama“, so der Projekttitel seitens der Auslober, noch besser erfassen zu können, wurde nach dem Wettbewerbsentscheid der Standort für das Info-Center geändert und näher an die Baustelle heran, an den Anfang der äußeren Favoritenstraße, verlagert.

Nachdem ein Gemeindebau aus den Sechzigerjahren kurzerhand geschleift wurde – auch wegen der Verlegung der Sonnwendgasse, die durch die neue Gleisführung für die Bahnhofsanlage notwendig geworden war –, konnte auf dem vorhandenen Kellergeschoß neu aufgebaut werden. Es sollte ein Stück temporärer Architektur für die Dauer der Bauarbeiten werden, und RAHM architekten näherten sich diesem durchaus im Sinne des Konstruktivismus an: ein Objekt von signalhafter Wirkung, kostengünstig, schnell aufgestellt, aber auch demontierbar und nachhaltig in der Materialität, weil aus Holz und somit wiederverwertbar. Der Turm wird zur Tribüne, das Baugelände zur Bühne erklärt, von der aus das Schauspiel Baustelle verfolgt werden kann.

Das Ausstellungsgebäude mit Cafeteria wurde als schlichter, zweigeschoßiger Holzbau angelegt, dessen Erdgeschoß möglichst transparent, die Box im Obergeschoß hingegen in kräftigem Rot gehalten ist. Über eine verglaste Brücke in Stahlkonstruktion gelangt man zum Turm, der über einer Grundfläche von acht mal sieben Metern in Fichtenholz errichtet ist. Die Bodenhaftung für das Holzgerüst wird durch einen Sockel aus Stahl hergestellt, die Entkoppelung vom Boden für die Besucher erfolgt über zwei halbrund verglaste Panoramalifte, die ostseitig auf die auf 40 Meter Höhe gelegene Aussichtsplattform hochziehen. Während man hinaufschwebt, erschließt sich die Größe des Areals mit seinen Kränen, Baumaschinen, bereits ersichtlich konfigurierten Bauteilen, Gleiskörpern und Zügen und unzähligen Bauarbeitern. Der „Hochstand“ ist 66 Meter hoch und damit der höchste begehbare Holzturm Europas, eine auch statische Innovation.

Diese Form der Eventisierung des zwar spannenden, aber durch Lärm, Staub und fallweise ruchbare unsaubere Geschäfte für die Bevölkerung auch lästigen Phänomens Großbaustelle stellten die Architekten unter das Motto „Auf der Jagd nach Stadt“. Sie vereinen damit ihren architektonisch konstruktivistischen Anspruch mit einem bekannten Objekt österreichisch-ruraler Kultur: dem Turm als ein Zeichen von Transparenz, wie auch als Aufforderung an alle Bürger, sich auf die Lauer zu legen und sich über die Vorgänge am Bau einen Überblick zu verschaffen. Aber keine Sorge: Die Elemente des Urbanen werden nur visuell als Freiwild anvisiert, geschossen werden lediglich Fotos, undam Turm ist kein „Glasnost“-Transparent gespannt. „Bahnorama“ und Wien-Panorama können gegen 2,50 Euro von jedem, der schwindelfrei ist, genossen werden.

2. Oktober 2010 Spectrum

Lieber Plot als Pot

Gärten zählten bis vor einigen Jahren zu den Soft Skills der Planung: Erst das Haus – die Pflanzen wachsen dann eh von selbst. Dass sich daran einiges zu ändern beginnt, liegt auch an Initiativen wie „Public Spots On Private Plots“.

Den „Gärten im Film“ war jüngst ein Vortrag beim Symposium „Public Spots On Private Plots“ gewidmet, der einen Einblick in die Prägung des Filmplots durch den „Private Plot“ – das private Grundstück – bot. Der Garten steht beim Planen für das Unberechenbare und Wandelbare, das im Gegensatz zur Strukturiertheit des Hauses selbst das emotionale, im wahrsten Sinne des Wortes gewachsene Element verkörpert. „Der Garten als angestrengte Inszenierung der Natur, als Überwindung der Wildnis, als Zeugnis von Zivilisation, wird im Kino oft zum Sinn – und Schaubild“, erläuterte Judith Wieser-Huber in ihrem gemeinsam mit Gisela Steinlechner gehaltenen Referat.

Während im europäischen Film der Garten als abgegrenzter Außenraum privater Befindlichkeiten inszeniert wird, dient er im amerikanischen Film entweder als verbindliches Element zwischen einzelnen Häusern – etwa in Form einer gepflegten Grünfläche, sei es in der Vorstadt oder am Campus –, als opulent und detailreich geplanter Garten hinter schweren Gittertoren, um den Luxus seiner Besitzer zu unterstreichen, oder als Abenteuerschauplatz in der gezähmten Wildnis eines Nationalparks. In zwei Klassikern des amerikanischen Thrillers jedoch wird derin den USA eher seltene eingezäunte Garten zum Ort, wo das Unglück dräut: In David Lynchs „Blue Velvet“ und in Hitchcocks „Die Vögel“ beschreibt jeweils ein Holzzaun markant das Feld der Bedrohung.

Die Beispiele der „inszenierten Natur“ sind deshalb ausführlich angeführt, da man erst durch so anschauliche Interpretationen erkennt, wie vergleichsweise selten über gestaltete Außenräume ein der Architekturkritik analoger Diskurs geführt wird. Gärten zählten bis vor einigen Jahren zu den Soft Skills der Planung, nach dem Motto: Erst das Haus – und der Garten kommt später dran. Oder: Die Pflanzen wachsen dann eh von selbst. Dass die Freiraumplanung idealerweise bereits dem architektonischen Prozess integriert ist und das Grün als Raum und nicht mehr als bloße Restfläche definiert wird, findet aber immer mehr Verbreitung.

Beim Symposium „Public Spots On Private Plots“ wurde programmatisch der geplante Grünraum ins Scheinwerferlicht gerückt, sei es privat oder öffentlich – vom begrünten Hinterhof bis zur neu angelegten Parkanlage. Neben dem theoretischen Exkurs in die szenografische Annäherung an die Gartengestaltung durch die beiden Österreicherinnen berichteten die drei anderen Referenten über ihre Arbeit als Freiraumplaner. Der britische Architekt Neil Porter, der gemeinsam mit seiner Frau, Kathryn Gustafson, das Büro „Gustafson Porter – Landscape“ in London betreibt, zeigte seine Arbeiten, wobei die ringförmige Wasserbeckenanlage des „Diana, Princess of Wales Memorial“ im Londoner Hyde Park wohl die bekannteste ist. Der Franzose Xavier Perrot, der mit dem Vietnamesen Andy Cao das Studio „Cao I Perrot“ in Los Angeles und Paris betreibt, sieht die Gartenanlage eher als Hybrid von Landschaft und Kunst. Der holländische Freiraumplaner Bart Brands – von „Karres en Brands“ – hingegen kämpft bei seinen Planungen um Verständnis für den sozialen Aspekt der Freiräume. Es sollten wirklich freie Räume sein, in denen noch nicht jede Wegführung, jede Funktion determiniert ist, sondern wo den Nutzern die Chance gegeben wird, selbst zu definieren, was in einem Park passieren soll.

Die Referenten mit ihren dispersen Intentionen bildeten gemeinsam mit der österreichischen Landschaftsarchitektin Andrea Czejka die internationale Jury des zum vierten Mal stattfindenden Wettbewerbs „Best Private Plots“, mit dem privaten Freiraumgestaltungen öffentliche Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. Der Institutionalisierung dieses weltweit einzigen Wettbewerbs für Gartenarchitektur geht auf eine Initiative der Landschaftsarchitektin Karin Standler, der Gartenbauwissenschafterin Andrea Heistinger und des Architekten Robert Froschauer zurück. Eine österreichische Initiative, die 2006 ein außergewöhnliches Konzept entwickelte: Die zunehmende Popularisierung der Gartenkultur sollte aufgegriffen werden, um den Mehrwert von Planung und Kultivierung im privaten Grünraum publik zu machen und die ökologischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge zu thematisieren. Schließlich ist die anstrengende, aber meist lustvoll erlebte Arbeit des „Gartelns“ hinter dem eigenen Zaun eine Kulturleistung an die Allgemeinheit. Nicht nur, dass ein Garten meist von anderen Menschen eingesehen werden kann: Blühende Bäume und gepflegte Beete garantieren die Artenvielfalt bei Flora und Fauna, und davon profitiert die ganze Gesellschaft.

Als Partner für den Wettbewerb konnte das Land Niederösterreich gewonnen werden. Seit dem Jahr 2006 fungiert der Verein „Natur im Garten“, der Gartenbesitzern bei der Gestaltung nach ökologischen Richtlinien konsultativ zur Seite steht, als Mitveranstalter, daher findet die Veranstaltung auch im Loisium, mitten im Langenloiser Weinberg, statt und zieht Teilnehmer aus dem In- und Ausland an. Denn auch der Wettbewerb selbst hat sich rasch zu einer international beachteten Veranstaltung entwickelt: Heuer langten 72 Einreichungen ein – von Wien bis Litauen, von Irland bis Japan – und boten ein breites Spektrum an akzentuierender Bepflanzung, gezielter Wegführung und Raumbildung und die Tektonik betonenden Geländeformen.

28 Beiträge wurden, wie jedes Jahr, in einem Katalog publiziert, und es war spannend zu beobachten, nach welchen Kriterien die Jury daraus die Preisträger wählte, so unterschiedlich waren die Konzepte: Die Anerkennungen erhielten ein im Abstandsgrün im Wiener Gemeindebau angelegter Nachbarschaftsgarten („Wirbel Institut für feministische Forschung und Praxis, Wien) und ein Waldgarten an einem See in Wisconsin, USA (Swift Company, USA). Die drei Preisträger stammen aus den USA (Stone Hedge Farm von Andrea Cochran), der Schweiz (Calonder Landscape Architects) und Japan (Landscape-Niwatan). Das Siegerprojekt „mori x hako“ ist nicht nur räumlich originell, sondern auch im kulturellen Kontext stimmig, wächst doch der „Waldgarten“ im schmalen Atrium eines Hauses über drei Geschoße der Sonne zu. Näheres unter www.privateplots.at.

Früher waren es die „Private Pots“, die Blumenkisterln, die als Elemente der Dorfverschönerung üppig bepflanzt und vor die Fenster gehängt wurden; jetzt sind es eben die Plots, die Gärten, auf die das Spotlight gerichtet wird und die als Hot Spot erkannt werden. Auch wenn sie noch so lauschig und kühl sind.

15. Mai 2010 Spectrum

Pest und Passion

1634 sollten sie die Pest von Oberammergau abwehren. Dass die Passionsspiele dereinst vor allem Besuchermassen und Geld in das Dorf der Holzschnitzer bringen würden, konnte damals keiner ahnen. Dieser Tage ist es wieder so weit. Wie alle zehn Jahre.

Oberammergau und die Passion sind für den durchschnittlichen Medienkonsumenten untrennbar miteinander verbunden. Der Ort selbst wird mit den Passionsspielen assoziiert so wie Salzburg oder Bayreuth mit ihren Festspielen, ohne dass man sich bewusst ist, dass dieses Großereignis nur alle zehn Jahre stattfindet. Die Besucher strömen wie auch heuer wieder in den oberbayrischen Ort, wo man sich bemüht, die Leidensgeschichte Jesu möglichst „naturgetreu“ nachzuerzählen und die Inszenierungen anschaulich anzulegen. Nach wie vor sind es die Ortsbewohner selbst, die das Passionsstück mit großer Leidenschaft und beträchtlichem Zeitaufwand für die Bühne erarbeiten. Dieser persönliche Einsatz – letztlich zum Wohle des Dorfes – birgt jene Authentizität, die ein Schlüssel zum Erfolg sein dürfte. Wie sehr der Begriff der Passion der Historizität des Ortes immanent ist, erschließt sich dem Betrachter erst, wenn man zu Oberammergau kontextual – örtlich, zeitlich, kulturell – ein wenig ausholt.

Bezogen auf eine publizierte Feststellung aus dem Jahr 1880, dass im Dorf von 1260 Einwohnern 120 Holzschnitzer von Beruf seien, bemerkt Ilija Trojanow in seinem Buch über Oberammergau, dass die Handwerker mit Rückenkraxn die geschnitzte Ware bis nach Italien gebracht hätten, „was für eine gewisse Weltoffenheit gesorgt“ habe. Bis ins frühe 12. Jahrhundert dürfte die Ammergauer Holzschnitzkunst zurückreichen, jedenfalls ab der Spätgotik gilt sie als verbrieft. Die Mönche des 1330 gegründeten Klosters Ettal, das am südlichen Eingang ins Ammertal in unmittelbarer Nachbarschaft des Ortes Oberammergau gelegen ist, galten selbst als handwerklich geschickt und als wahrscheinliche Initiatoren und Promotoren des ortsspezifischen Kunsthandwerks.

In der 1520 verfassten „Geschichte von Ettal“ ist vermerkt, dass die Schnitzer so tüchtig seien, dass sie „das Leiden Christi in einer halben Nussschale“ darzustellen vermochten. Diese Anmerkung ist insofern von Bedeutung, als sie den passionierten Arbeitseinsatz der Oberammergauer für die Passionsgeschichte selbst, aber auch für die passable Vermarktung derselben trefflich beschreibt. Es könnte eine Metapher für den Charakter der Oberammergauer sein: ein gutes Anschauungsvermögen, viel Fingerspitzengefühl und voller persönlicher Einsatz. Dieser ging eben so weit, dass die Holzschnitzer ihre Tätigkeit ab dem 17. Jahrhundert als freies Gewerbe betreiben durften und die „Kraxnträger“ nicht nur in Richtung Süden ausströmten, sondern bis nach St. Petersburg und Kopenhagen gelangten. Später ließen sie sich an diesen und anderen Orten fern der Heimat nieder und bauten eigene Vertriebsnetze für die Oberammergauer Holzobjekte auf, wobei die Produktpalette von Heiligenfiguren, Krippen und Kruzifixen bis zu Haushaltsgeräten und Spielzeug reichte.

Wie in anderen Gebieten des Alpenraumes auch, war es somit die Holzwirtschaft, die die Existenz der Ammertaler Bevölkerung sicherte. Das auf 840 Meter Seehöhe gelegene Hochtal des Flusses Ammer ließ wegen saurer Wiesen keine ergiebige Land- oder Viehwirtschaft zu, und so war es eben das handwerkliche Geschick, das die Bewohner perfektionierten und über Produkte, mit der „Marke Oberammergau“ versehen, nach Europa hinaustrugen. Dieserart wurde bereits im Mittelalter eine bürgerliche und weniger bäuerliche Identität des bayrischen Dorfes begründet und dadurch die erwähnte überlebensnotwendige Weltoffenheit in das Dorf hereingebracht.

Leider ebenso hereingebracht wurden durch heimgekehrte Händler und Soldaten die Pesterreger, war doch die Krankheit im Mittelalter in ganz Europa verbreitet. Da der Epidemie medizinisch noch nicht beizukommen war, versuchte die Kirche mit ihrer eigenen Methodik Unheil abzuwenden: Zu Ehren Gottes wurde dem frommen Volke empfohlen, spielerisch das Leiden Jesu auf sich zu nehmen und durch die mehrtägige Darstellung der Passion Christi Abbitte zu leisten. Bereits bei der großen Pestwelle in Mitteleuropa um 1500 wurden vielerorts Passionsspiele auf den Marktplätzen inszeniert, wobei die Bevölkerung durch gemeinsames Gebet und beim Chorgesang einbezogen wurde. Die offenbar heilbringenden „Open-Air-Festivals“ mit Volksfestcharakter waren von den als Intendanz fungierenden Passionsbruderschaften der Städte wirtschaftlich und inhaltlich professionell organisiert. Ob dies im pekuniären Sinne einträglich war, ist nicht bekannt, jedenfalls garantierten die Passionsspiele der katholischen Kirche im Mittelalter eine mediale Verbreitung ihrer Glaubenslehre.

Im deutschen Sprachraum existierten drei Passionsspielkreise: der alemannische, der westmitteldeutsche und der Tiroler Spielkreis, zu dem auch Erl zählte, das seit 1613 regelmäßig seine eigenen Spiele abhielt. 20 Jahre später galt dieses Lösungsmodell auch für Oberammergau als Gebot der Stunde, um die Ausbreitung der Pest zu verhindern. Die Bewohner legten 1633 ein Gelübde ab, ein Passionsspiel im Ort zu etablieren, falls der Ort von weiterem Unheil verschont bliebe. Kaum ausgesprochen, fiel der Legende nach kein einziger Ammertaler Bewohner mehr der Seuche zum Opfer, und so kam es bereits 1634 zur Uraufführung in der örtlichen Pfarrkirche respektive auf dem Friedhof. Dramaturgisch half man sich innerhalb des Tiroler Spielkreises aus und erhielt als Grundlage den Text der Augsburger Spiele. Vielleicht war es ein Initiationsritus neuer Art für die Oberammergauer, denn es scheint, als ob sie daran Gefallen gefunden hätten, jene Szenen, die sie traditionell im Modell – wie erwähnt sogar in einer halben Nussschale – nachzubilden vermochten, selbst darzustellen. Es war nämlich allein den Bewohnern Oberammergaus vorbehalten, an der Passion mitzuwirken, dies hatte die Gemeinde von Anfang an bestimmt.

Dem Gelöbnis entsprechend, kam es zu regelmäßigen Aufführungen, wobei die Inszenierungen erweitert und ab 1674 von Musik begleitet wurden. Die Spiele gerieten – ganz abgesehen von der nachhaltigen Bannung der Pest, sei es durch die Passion, sei es durch die gute Luft – zum Erfolg, und von Mal zu Mal kamen mehr Besucher. 1680 wurde endgültig der Zehnjahresrhythmus mit je einer Aufführung etabliert. Neben der anschaulichen Passionsdarstellung gingen laut Christine Rädlinger (in der von ihr verfassten Ortschronik) die Überlegungen der Gemeinde immer auch in die Richtung, die Spiele nicht nur als kirchliches Fest, sondern als Einnahmequelle für den Ort anzulegen und das Einkommen der Einwohner auf diese Weise zu erhöhen.

1750 wurde zur Attraktivierung mit der „Passio Nova“ eine komplette Neubearbeitung im Stile eines allegorischen Barockdramas vorgenommen, das als geradezu reißerisch geschildert wird. In erstmals zwei Vorstellungen habe man 11.000 Besucher gezählt: Das scheint Mitte des 18. Jahrhunderts in Anbetracht der mühsamen Anreise in das hochgelegene Ammertal doch ganz beachtlich, und die Einnahmen müssen ebenso beträchtlich gewesen sein. Die Oberammergauer begannen, die Selbstdarstellung zu professionalisieren und ab Mitte des 18. Jahrhunderts das Dorf selbst als Teil der Inszenierung zu verstehen. Die profane Architektur im Ort sollte durch die Lüftlmalerei aufgewertet werden, eine im bayrischen Raum verbreitete Freskotechnik, die in barocker Machart auf Perspektivwirkung ausgerichtete Scheinarchitekturen und Allegorien an die Fassaden applizierte. Man hatte offensichtlich erkannt, dass „Entertainment Design“ nicht nur potenzielle Gäste anzieht, sondern, dass dadurch für die eigene Bevölkerung eine Identifikationsoption geschaffen wird, sich auch in den langen aufführungsfreien Jahren als Teil des Ganzen zu verstehen und mit vollem Eifer auf die nächste Passion hinzuarbeiten.

Diese Art der „Eventisierung“ des Christentums wurde während der Aufklärung kritisch gesehen, und Passionsspiele wurden generell ab 1770 mit einem Aufführungsverbot belegt. Nur Oberammergau erhielt 1780 das Privileg, wieder zu spielen, womit seine Sonderstellung in der mitteleuropäischen „Freiluft-Theaterszene“ evident und seine weitere prosperierende Entwicklung verständlich wird. Alle zehn Jahre strömten die Massen auf den mittlerweile vom Friedhof auf eine Wiese am Ortsrand verlegten Aufführungsort, der mit einem hohen Bretterzaun abgegrenzt und wo der Eintritt nur mit bezahlten Karten möglich war. Die Einnahmen flossen einerseits ins Gemeindebudget, andrerseits wurden sie dazu verwendet, die Bühne zu attraktivieren und die Aufführungen zu aktualisieren. Die durchgreifende Modernisierung der Passion 1850 durch den Oberammergauer Pfarrer Aloys Daisenberger brachte gute Kritiken in der Presse und somit internationale Reputation.

Trotz dieses Erfolges verloren die Oberammergauer ihren eigentlichen Haupterwerb, das Holzschnitzergewerbe, nie aus den Augen. Neben der Gründung einer örtlichen Holzschnitzschule dehnten sie bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Vertrieb der Holzware bis nach Übersee und Fernost aus. Die Christusfigürchen könnten dabei durchaus auch als Werbeträger für die Passionsspiele gedient haben, vielleicht hatten die Oberammergauer ihre „Werbetrommel“ dieserart sogar selbst gerührt.

Ende des 19. Jahrhunderts waren es vor allem die Engländer, die Oberammergau für sich entdeckten, eine Entwicklung, die dem britischen Erfinder des internationalen Massentourismus, Thomas Cook, zu verdanken war. Mit der Etablierung des Schienenverkehrs begann Cook, sein Reiserevier von den britischen Inseln auf den europäischen und den amerikanischen Kontinent auszudehnen. Er verstand es, eine der Segnungen der Industrialisierung, den Bahnverkehr, mit dem Ideal der Romantik, dem Naturschauspiel, zu vereinen und seinen Kunden die erbauliche Konsumierbarkeit von beidem anzupreisen. Die pittoresken Alpen, ein dort stattfindendes spirituelles Schauspiel und, nicht weit davon entfernt, das fast fertiggestellte Märchenschloss Neuschwanstein könnte die Apotheose von Cooks Imagination einer Erlebnisreise mit Disneyland-Vision bedeutet haben. Die englischen und amerikanischen Touristen fanden es zudem faszinierend, Fiktion und Funktion im Dorf verschwimmen zu sehen und inmitten von Bibelfiguren zu wohnen. Sie konnten beobachten wie Jesus, der tags zuvor am Kreuz hing, am Morgen durch den Ort spazierte – für die puritanischen Angelsachsen, meint Rädlinger, bedeutete dies wohl einen veritablen Nervenkitzel.

Festspielbesuche gerieten ab 1876 in Bayern zum jährlichen sommerlichen Kulturereignis, nachdem Richard Wagners Bayreuther Festspiele etabliert worden waren. Um mit einem neu errichteten Festspielhaus konkurrieren zu können, musste der Komfort für die Zuschauer in Oberammergau gesteigert werden. Vorerst wurden Zeltdächer über die Ehrenlogen gespannt, später begann man, Überlegungen für die Errichtung eines Zuschauerhauses anzustellen, das dem gesamten Publikum Schutz vor der Witterung bieten sollte. Ein Zirkuszelt wäre wohl zu trivial gewesen, und so konnte es für ein angestrebtes Fassungsvermögen von 4200 Plätzen konstruktiv nur eine Bahnhofshalle werden. Man verfolgte einen pragmatischem Ansatz, schließlich baute man für eine „Dezenniale“, und versetzte sechs 27 Meter hohe Stahlfachwerksbögen, die möglichst unaufwendig mit bemalten Leinwänden eingehaust wurden. Fertig war die „Industriehalle“ der Kulturproduktion, die in ihrer äußerlichen Anmutung dem Bühnenhaus in Bayreuth durchaus ähnlich geriet.

Die Bühne allerdings blieb im Freien, vor der großen, bogenförmigen Öffnung an der Nordseite: Die Schauspieler der Passion sollten, um glaubwürdig zu bleiben, weiterhin ihre Exponiertheit wahrhaftig leben müssen. Die Szenerie wurde, von innen heraus betrachtet, in einen Rahmen gesetzt, der sichtbare, echte Himmel im oberen Bereich des Bühnenbildes verlieh dem Geschehen zusätzliche Dramatik. Die Fokussierung auf das Spiel wurde deutlich verstärkt, ein Effekt, der wiederum an Bayreuth erinnert, wo, Wagners Wunsch folgend, die Guckkastenbühne die Konzentration der Zuschauer auf das Bühnengeschehen erhöhen sollte.

Die Errichtung des Passionstheaters, das in seiner ruralen Zweckarchitektur ab sofort die kolorierten Postkarten von Oberammergau zierte, nahm dem bereits weltbekannten Dorf das folkloristische Moment und machte es zu einem ernst zu nehmenden Kulturort. Ab nun stand die Passion als Schauspiel im Vordergrund, musste sich mit anderen Veranstaltungen messen und wurde mit Kombinationstickets – zu jeder Karte eine Übernachtungsmöglichkeit – gekonnt vermarktet. Bei den Salzburger Festspielen, gegründet 1920, wollte man die Oberammergauer Stimmung zumindest teilweise einfangen, der „Jedermann“ wurde ganz bewusst als Aufführung im Freien, auf dem Domplatz, angelegt. Hugo von Hofmannsthal selbst sah den Festspielgedanken als „eigentlichen Kunstgedanken des bayrisch-österreichischen Stammes“, der in der Passionsspieltradition des mitteleuropäischen Alpenraums seinen Ursprung hatte.

Oberammergau hat bis heute, trotz mehr als 100 Vorstellungen pro Saison und 500.000 verkauften Karten, seinen kulturellen Stellenwert gehalten. Die weltweite Popularität ist ungebrochen und die Qualität der halbtägigen Aufführungen unwidersprochen gut. Die Darsteller und Darstellerinnen kommen nach wie vor aus der Oberammergauer Bevölkerung, als Intendanten und Bühnendesigner werden allerdings mittlerweile hoch bezahlte Profis engagiert. Nach wie vor gibt es in Oberammergau die traditionellen Holzschnitzer, alle zehn Jahre die Passion und das demokratische Prinzip des Bürgerentscheids, das über die Entwicklung des Ortes bestimmt. Die Idee, die Bühne mit einer mobilen Überdachung zu versehen, um die Infrastruktur auch zwischenzeitlich nutzen zu können, ohne den Passionszyklus verdichten zu müssen, wurde im Ort positiv beschieden und ist seit heuer realisiert. Das Passionsspiel selbst bleibt auf der Freibühne exponiert wie eh und je, in den langen Jahren der passionsfreien Zeit allerdings kann ab nun zum Beispiel „Jesus Christ Superstar“ nicht in, sondern unter einer konstruktiven Halbschale dargestellt werden und dem Ort neue Zielgruppen erschließen. Gut durchdacht und gut bedacht.

13. Februar 2010 Spectrum

Mitten im Achten, mitten in Lourdes

Wie viele der Sechzigerjahre-Baudenkmäler in ihrem spezifischen Design erhalten werden können, hängt von der Finanzierbarkeit einer stiladäquaten Sanierung ab.

Es ist eine einprägsame Szene, die den preisgekrönten Spielfilm „Lourdes“ von Jessica Hausner einleitet: Die Kamera ist aus erhöhter Perspektive in einen hallenartigen Raum gerichtet, offensichtlich ein Speisesaal.Die Esstische werden gedeckt, halbhohe holzverkleidete Pflanzentröge dienen als Raumteiler und verleihen den Sitzgruppen intimen Charakter. Plötzlich fährt ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl „ins Bild“, es folgen andere offensichtliche Patienten, denn sie werden in Rollstühlen hineingeschoben odersteuern langsamen Schrittes auf ihre Plätze zu. Es stellt sich umgehend die Assoziation eines Sanatoriums ein, denn der grünlich-schwarze Steinboden, das dunkelbraune Mobiliar, die große gardinenverhangene Verglasung an der Stirnwand, die gerasterte Decke mit eingelassenen rechteckigen Oberlichtelementen zeugen von einer nüchternen Zweckmäßigkeit im Stil der Sechzigerjahre. Allerdings spielt sich der Raum nicht selbst, sondern er wird bespielt, durch Patienten wie auch Pflegepersonal des Malteserordens, man nimmt straffe Organisation und atmosphärische Strenge war.

Man weiß um die Manipulierbarkeit des Zuseherauges, und doch lässt man sich sofort auf die Bildgeschichte ein, die da von einem Hotel oder eben Sanatorium im Südwesten Frankreichs erzählt. Hier werden die Lourdes-Pilger untergebracht, um auf den zugewiesenen Termin in einer der Kultstätten zu warten und dort um Linderung ihrer körperlichen Leiden zu bitten. Die formale Sachlichkeit des Aufenthaltsraumes wird als reziprok zur Mystik des Ortes Lourdes empfunden, hier drinnen wird professionell vorbereitet, was sich draußen bei den heiligen Stätten wunderbarerweise ereignen könnte. Was man als Zuschauer anfangs noch nicht weiß, ist, dass die geschilderte Raumatmosphäre den Film hindurch prägend sein wird. So eindrücklich die Bilder der heiligen Stätten sind, der Blick auf die handelnden Personen bleibt ohne Kitschaffinität räumlich vorwiegend internalisiert.

Schnitt. Das Studentenheim in der Pfeilgasse 3A in Wien Josefstadt wurde 1962 bis 1967 errichtet und galt damals als die modernste Einrichtung dieser Art in Österreich. Errichter war der Trägerverein „Akademikerhilfe“, eine kirchennahe Organisation, die seit 1921 für Studenten Kost und Logis günstig anbietet. Die ersten beiden neu gebauten Wiener Heime – eines davon in der Pfeilgasse 4–6 – ließ die „Akademikerhilfe“ von Clemens Holzmeister planen, was architektonischen Anspruch erkennen lässt. Beim damals neuen „Pfeilheim“ auf Nr. 3A setzte man nicht nur auf moderne Architektur in Form eines 12-geschoßigen Hochhauses, sondern auch auf ein betriebswirtschaftlich durchdachtes Konzept: Erstmalig wurden Einzelzimmer mit Bad angeboten, um das Haus in den vorlesungsfreien Monaten als „Hotel erster Klasse“ betreiben zu können und somit eine Einnahmequelle zu erschließen. Mit 368 Zimmern war das während dieser Zeit „Hotel Academia“ genannte Heim nach dem Hotel Intercontinental Ende der Sechzigerjahre das zweitgrößte Hotel von Wien.

Kurt Schlauss hat dieses Studentenheim geplant, unverkennbar, wenn man den zeitgleich in Kooperation mit Erich Boltenstern entstandenen Gartenbau-Komplex am Parkring vor dessen Generalüberholung kannte. Über einer zweigeschoßigen Sockelzone erhebt sich ein zehn Stock hoher Bettentrakt, flankiert von etwas niedrigerer Blockrandbebauung. Die schmalen Fensterprofile aus Aluminium sowie die Fassade aus lila-violett-grün-grauem Glasmosaik sind zwar in die Jahre gekommen, legen aber immer noch Zeugnis davon ab, dass man damit versuchte, einem kantigen, hohen Gebäude eine weiche Textur zu verleihen. Im Inneren herrschen die zeittypischen Materialien vor wie Bodenplatten aus hellem Konglomeratstein, dunkle Holztäfelungen, fallweise grünlich-schwarzer Marmor als Säulenverkleidung oder Bodenbelag, eine gardinenverhangene, vergilbte Glaswand mit elegantem vertikalem Knick zum Garten hin. Die dunkelbraunen Tische und Sessel sind übereinander gestapelt, die vertäfelten Tröge mit den Plastikpflanzen ebenso. Und dann realisiert man, dass man sich „mitten im Achten“ mitten in „Lourdes“ befindet. Das Wunder der Reaniamierung eines Mensa-Saals im Sechzigerjahre-Look hielt nur für die Zeit der Dreharbeitenan, jetzt liegt der Saal wieder brach.

Die Großräume der Sechzigerjahre sind nicht nur in ihrer Materialität, sondern oft auch in ihrer Funktion in die Jahre gekommen und müssen erst von Kreativen entdeckt werden, um ihren eigentlichen Zweck als Räume für soziale Interaktionen wieder erfüllen zu können. Während in Schlauss' „Seepavillon im Donaupark“ von 1964 zur Revitalisierung Tanzpartys veranstaltet wurden, dient das „Pfeilheim“ immer öfter als Filmschauplatz. Die Generation der jetzt etablierten Set-Designer wie Katharina Wöppermann, die für die Ausstattung von „Lourdes“ verantwortlich zeichnet, weiß um die strukturelle Qualität dieser Räume, die durch formale Zurückhaltung der Regie Interpretationsspielraum lassen. Gleichzeitig erfolgt durch das „Staging“ eine Fiktionalisierung von Architektur, die immer auch ein Stück emotionaler Geschichte der Filmemacher selbst transportiert. Es sind genau jene Räume aus der Jugend, mit denen man persönliche Gruppenerlebnisse verbindet, wie Schule, Sporthalle oder das Schülerheim am Skikurs. Die originalen Schauplätze fungieren als ein illusionäres Abbild bekannter sozialer Muster. Wie viele dieser „60er-Jahre Baudenkmäler“ in ihrem spezifischen Design erhalten werden können, wird von der Finanzierbarkeit einer stiladäquaten Sanierung abhängen. So manch prominentes Bauwerk jener Zeit, wie das Bundesländergebäude von Carl Appel in der Taborstraße ist längst abgerissen oder – siehe Gartenbaukomplex – durch die Generalsanierung formal stark verändert. Das „Pfeilheim“ wird zumindest durch Filmmaterial auf die Authentizität ihrer „coolen“ Bausubstanz verweisen können – wenn auch in Ort und Zeit fiktional uminterpretiert.

Publikationen

2025

Elizabeth Scheu Close
Amerikanische Architektin mit Wiener Wurzeln

Elizabeth Scheu Close, 1912 in Wien geboren und 2011 in Amerika gestorben, wuchs in einem von Adolf Loos geplanten Haus auf. Ihre Eltern waren neuen Ideen sehr aufgeschlossen: Die Mutter, Helene Scheu-Riesz, war Autorin und Verlegerin von Kinderbüchern, der Vater ein Rechtsanwalt und politisch engagierter
Autor: Judith Eiblmayr
Verlag: Verlag Anton Pustet

2013

Lernen vom Raster
Strasshof und seine verborgenen Pläne

Wenn es nach den Vorstellungen seiner Erfinder gegangen wäre, könnte Strasshof an der Nordbahn heute „die größte und schönste Stadt Niederösterreichs“ sein, geplant auf einem orthogonalen Straßenraster nach US-amerikanischen Vorbild. Eine „Garten- und Industriestadt“, die 1908 nach der Errichtung des
Hrsg: Judith Eiblmayr
Verlag: NWV Verlag GmbH

2010

Der Teufel steckt im Detail
Architekturkritik und Stadtbetrachtung

Seit fast zwei Jahrzehnten ist Judith Eiblmayr als Architektin tätig, parallel dazu verfasst sie Architekturkritik für Fachzeitschriften und Zeitungen. Die Themen sind dabei vielfältig wie die Architektur selbst: von der Revitalisierung des Palais Palffy bis zum Neubau der Hauptbücherei, von der Containerarchitektur
Autor: Judith Eiblmayr
Verlag: Metroverlag

2005

Moderat Modern
Erich Boltenstein und die Baukultur nach 1945

Erich Boltenstern (1896-1991) war eine der zentralen Figuren der Wiener Architektur im 20. Jahrhundert. Einer der Schule von Oskar Strnad entstammenden spezifisch wienerischen Moderne verpflichtet, profilierte er sich erstmals 1930 mit dem Grazer Krematorium für den „Wiener Verein“, dessen Geschichte
Autor: Judith Eiblmayr, Iris Meder
Verlag: Verlag Anton Pustet

2001

Anna-Lülja Praun
Möbel in Balance

Anna-Lülja Praun zählt zu den wichtigen Persönlichkeiten der österreichischen Architektur des 20. Jahrhunderts. Sie wurde 1906 in St. Petersburg geboren, verbrachte aber ihre Kindheit und Jugend in Sofia. 1924 begann sie als eine der ersten Frauen in Graz ein Architekturstudium. Im Atelier von Clemens
Autor: Judith Eiblmayr, Lisa Fischer
Verlag: Verlag Anton Pustet