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Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

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Artikel

31. Oktober 2025 Der Standard

Das Museum, die Maschine

Vor einer Woche wurde in Paris die neue Fondation Cartier für zeitgenössische Kunst eröffnet. Jean Nouvel hat direkt neben dem Louvre eine gigantische Maschinerie mit mobilen Etagen geschaffen.

Nein, nein, ich wollte keinen Raum bauen“, sagt Jean Nouvel, „und schon gar kein Gebäude! Ich wollte vielmehr innerhalb des schon bestehenden Hohlraums arbeiten und die leeren Volumina, die Lücken und Löcher nutzen und zum eigentlichen Ort des Ausdrucks machen. Dieses Projekt ist – in Verbindung mit der einzigartigen Geschichte dieses Hauses – ein Versprechen endloser Möglichkeiten.“ Mathematisch berechnet von 117.854 Possibilitäten, um ganz genau zu sein.

Die neue Fondation Cartier pour l’art contemporain in der Rue de Rivoli im 1. Arrondissement im Herzen der Stadt, quasi eingeklemmt zwischen Louvre und Palais-Royal, ist das, was am Tag der Eröffnung, voll von Champagner und salbenden Dankesworten, immer wieder als „Maschine“ bezeichnet wird. Und diese Maschine will keineswegs bloß ein Symbol für die Größe und Mächtigkeit der neuen, 8500 Quadratmeter großen Ausstellungsräumlichkeiten sein. Diese Maschine ist im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen.

Potenzial ausschöpfen

Auf Knopfdruck, freilich weitaus komplizierter in seinen Abläufen, als sich dies anhören mag, bewegen sich fünf stählerne Plattformen, jede einzelne davon zwischen 250 bis 350 Tonnen schwer, mit einer Geschwindigkeit von fünf Metern pro Minute auf und ab, und können zwischen Souterrain und Beletage in jeweils elf verschiedenen Höhenpositionen eingerastet werden. Das Ziel ist, die Böden und Decken des Raumes aufzubrechen und eine flexible Bühne für Bilder, Skulpturen und raumfassende Installationen zu schaffen. Es seien so viele Varianten, versichert Nouvel – die Zahl ist bereits gefallen –, dass man das Potenzial wohl niemals werde ausschöpfen können.

„Die Fondation Cartier ist nicht nur eine weitere Galerie für zeitgenössische Kunst, eine von vielen in Paris, sondern eine Oase der Entdeckung“, sagt Nouvel. „Sie ist ein dynamischer Space, eine prachtvolle Werkstatt, die in der Lage ist, sich an die Kunst und an die Ideen und Konzepte der hier ausstellenden Künstler anzupassen.“ In den Ecken der fünf Plattformen, die gemeinsam eine Fläche von 1100 Quadratmetern bilden, befinden sich riesige Winden mit zentimeterdicken Stahlseilen, mit Schrauben und Bolzen, und damit das Maschinelle nicht optisch überhandnimmt, ist die gesamte Optik wie in einem Theater in ein schattiges, fast schwarzes Ich-bin-gar-nicht-da gehüllt.

Viele unterschiedliche Varianten, heißt es, habe man im Prozess ausprobiert und simuliert, von Schienen über Zahnräder bis hin zu Kolben und hydraulischen Stempeln. Doch mal waren es die Toleranzen, mal die Erschütterungen, mal die bedenklich großen Mengen an brennbaren Schmierölen, die das Planungsteam schließlich zum Liftmechanismus geführt haben. Ergänzt wird die Maschinerie der mobilen Plattformen von einem wandelbaren Glasdach, das je nach Tageslichtbedarf mit Klappen und Schiebeelementen geöffnet oder geschlossen werden kann.

Dramatische Transformation

In gewisser Weise fügt sich die neue Fondation Cartier, die den gesamten 150 Meter langen Häuserblock einnimmt, einen der ersten seiner Art, die nach dem damals neuen Pariser Generalplan von Baron Haussmann bebaut wurden, perfekt in die Historie des Ortes. Einst errichtet für die Weltausstellung 1855, beherbergte das Grand Hôtel du Louvre nämlich nicht nur Ballsäle, mit Pferdekutschen befahrbare Foyers und mehr als 1200 Zimmer und Suiten, sondern war auch eine technische Galanterie – mit Aufzug, Zentralheizung, Gasbeleuchtung, Lüftungsanlage, Telegrafenamt, elektrischen Klingeln und modernen englischen Wasserklosetts auf jeder Etage. In den darauffolgenden eineinhalb Jahrhunderten wurde das Hôtel du Louvre als Kaufhaus und Antiquariat genutzt.

„Und auch die Weltausstellung selbst“, schreibt die in New York lebende Architekturtheoretikerin Beatriz Colomina in ihrem Buchbeitrag über die neue Fondation Cartier, „war ein Wunderwerk der Technik und Mechanisierung, der Geschwindigkeit und des Spektakels, geformt durch neue Betrachtungsweisen auf die Welt. Die Fondation Cartier greift dieses mechanische Erbe und Technikfieber auf, indem die alte, stabile Gebäudestruktur nun eine geradezu schwindelerregende Instabilität aufnimmt. Die mobilen Plattformen werden nicht zufällig von einem Unternehmen hergestellt, das auf bewegliche Theaterbühnen spezialisiert ist – eine dramatische Transformation traditioneller Kunstausstellung.“

Schon jetzt, in der Anfangsausstellung, die in Anlehnung an die Weltausstellung 1855 einfach nur Exposition Générale heißt, werden große, zum Teil mehrgeschoßige Arbeiten von Freddy Mamani, Junya Ishigami, Alessandro Mendini, Richard Artschwager, Judith Bartolani, Juan Muñoz und Absalon gezeigt. Immer wieder mit spannenden Ausblicken auf die Touristen und Passantinnen einen Stock höher, die genüsslichen durch die Straßenarkaden hindurch spazieren, nichtsahnend, welche riesigen Löcher und Maschinerien sich hinter den denkmalgeschützten Kalksteinfassaden verbergen.

Magier der Räume

„Wir haben nun ein paar Jahrzehnte Zeit, um in dieses Haus hineinzuwachsen“, sagt Béatrice Grenier, Projektdirektorin der Fondation Cartier, die 1984 gegründet wurde und deren Sammlung mittlerweile rund 4500 Werke umfasst.“ „Mit der Leere und mit Nouvels Maschinerie ergeben sich neue Möglichkeiten der Inszenierung, aber natürlich ist die formlose Wandelbarkeit auch eine große Herausforderung für Künstlerinnen und Kuratoren.“

Über den nicht nur technischen, sondern auch finanziellen Aufwand hüllt sich die Fondation Cartier in Schweigen. „Es könnte sein, dass die Zahlen, die Sie hören, schon lange nicht mehr aktuell sind“, so Grenier. Auf Radio France Bleu ist von kolportierten 230 Millionen Euro Investitionsvolumen die Rede. Das neueste Projekt von Jean Nouvel, einem Magier der Räume, zettelt nicht nur ein atemberaubendes Wow an, sondern auch eine Diskussion über Angemessenheit und Suffizienz. In einem Heute, das nicht mehr so ist wie gestern.

Compliance-Hinweis: Der Autor besuchte die Fondation Cartier im Rahmen einer Pressereise.

13. Oktober 2025 Der Standard

Die Welt im Dahinter

Die Ringstraße kennen wir alle. Doch wie sieht es hinter den Kulissen des Wiener Prachtboulevards aus? Ein neues Buch unternimmt eine Expedition in Luftkeller, Dachstühle und historische Haustechnikräume.

Sie sehen aus wie Rachenhöhlen, wie unterirdische Luftröhren, wie weitverzweigte Bronchien mit Pilzen, Staubpartikeln und jahrzehntelangen Ablagerungen an den Zellwänden. „Und ja, diese Orte, die im Gegensatz zu den darüber liegenden Repräsentationsräumen nie dafür gemacht wurden, sich der Öffentlichkeit zu zeigen“, sagt die Wiener Autorin, Kuratorin und Architekturhistorikerin Gabriele Kaiser, „haben in der Tat etwas Anatomisches. Sie erinnern an einen riesigen Organismus, den man zwar schon Hunderte Male von außen gesehen hat, aber noch nie zuvor von innen.“

Die Rede ist vom Burgtheater. Der Prachtbau an der Wiener Ringstraße, errichtet in den Jahren 1874 bis 1888 nach Plänen von Gottfried Semper und Carl von Hasenauer, ist eine der größten und komplexesten Lüftungsmaschinerien, die im historischen Wien je gebaut wurden. Neben Prunkstiegen, Pausenräumen und dem rund 1300 Menschen fassenden Zuschauerraum, der im Volumenvergleich zum Gesamtgebäude wie eine kleine Perle in einer riesigen Auster drinsitzt, gibt es einen 28 Meter hohen Bühnenturm, jede Menge faustische Zuluft-Katakomben im Untergrund sowie monströse Abluft-Konstruktionen, die den Dachboden wie eiserne Eingeweide ausfüllen.
Luft- und Zeitmaschine

„Die technischen Infrastrukturen hinter den Kulissen des Theaterbetriebs sind enorm“, so Kaiser. „Das erste Mal vor Ort ist man bass erstaunt ob des riesigen Äquivalents an nicht sichtbaren Räumen über, unter und hinter all den historistischen Kostbarkeiten. Doch das wirklich Erstaunliche ist, dass diese alte, originale Haustechnik-Anlage – die über ein Einlaufbauwerk im Volksgarten mit Frischluft gespeist wird, die dann über Luftbrunnen, Drosseltüren und Filtersysteme mucksmäuschenstill ins Innere des Theaters gelangt – nach 150 Jahren immer noch in Betrieb ist. Das ist nicht nur eine Luft-, sondern auch eine Zeitmaschine.“

Die Faszination für das Unsichtbare wurde nun zwischen zwei Buchdeckel gepresst. Maschinenräume. Hinter der Kulisse der Wiener Ringstraße , herausgegeben von Kaiser, dem STANDARD-Architekturjournalisten Maik Novotny und der Wiener Fotografin und Projektinitiatorin Hertha Hurnaus, ist ein fotografischer Spaziergang in Keller, Kesselhäuser und Luftheizkammern, zu Kettenzügen, Gasmessern und Rohrpostanlagen, auf Dachböden, Doppelkuppeln und hauchdünne, zart genietete Wartungswendeltreppen aus der Wiener Eisenkonstruktionswerkstätte Ignaz Gridl. Und natürlich bis hinauf zum Luftstromregler des Burgtheaters, wo die warme, verbrauchte Luft nach drei Stunden Drama durch eine kupferne Windfahne entweicht, geschmückt vom hübschen Nordwindgott Boreas.

„Begonnen hat das Projekt“, erzählt Fotografin Hertha Hurnaus, „als ich im Zuge des Parlament-Umbaus 2017 beauftragt wurde, den historischen Bestand zu dokumentieren – und zwar nicht nur in den repräsentativen Räumlichkeiten des parlamentarischen Betriebs, sondern auch in den Luftmischräumen und Luftzufuhrschächten, die Theophil Hansen einst unter den großen Plenarsälen errichtet hat.“ Nach der Sanierung durch Jabornegg & Pálffy ist das unterirdische Maschinenlabyrinth längst Geschichte, das alte Haustechniksystem modernisiert, das Lüftungsregime modernen Ausschusslokalen gewichen.

Unbekannte Welt

„Ich habe eine mir unbekannte Welt betreten und dachte mir: Wo bin ich hier? Was sind das für Armaturen und Gerätschaften? Und wohin führen die vielen dunklen Räume, die den Eindruck erwecken, als hätte man ein künstliches Universum betreten?“ Der Parlaments-Haustechniker, erinnert sich Hurnaus, meinte damals: „Na, wenn mich das schon umhaut, dann solle ich mir doch unbedingt das Burgtheater anschauen! Da gebe es noch sehr viel mehr zu entdecken!“

Gesagt, getan. Und nicht nur das. Die Expedition mit Nikon, Stativ und mitunter minutenlangen Belichtungszeiten in Dunkel- und Abgeschiedenheiten führte darüber hinaus ins Rathaus, in die Universität, ins Kunst- und Naturhistorische Museum, in den Wiener Bankverein am Schottentor sowie ins ehemalige, denkmalgeschützte k. k. Uniformierungs-Inspektorat des Obersthofmeisteramts in den Untergeschoßen der Hofburg. Die weiß lackierten Schränke samt Gridl-Stiege und eingezogener Zwischendecke aus Eisenrosten erinnern an eine Mischung aus Titanic, Gellért-Bad und Orient-Express.

Technische Utopien

Ergänzt werden die Fotoserien, die auf manchen Doppelseiten für Gänsehaut sorgen, gefangen im Tambour des Kunsthistorischen Museums, verloren im Wikingerschiff-Dachstuhl des Rathauses, von essayistischen Annäherungen an technische Utopien, medizinische Lufthygiene-Erfindungen und verbale Fieberträume aus der Hochblüte des Industriezeitalters.

„Die Errichtung der Monumentalbauten entlang der Ringstraße ist fotografisch gut festgehalten“, erklärt Gabriele Kaiser, „von der Grundsteinlegung bis zur Fertigstellung. Von den technischen Einrichtungen aber gibt es kaum bauzeitliche Aufnahmen.“ Manche dieser Installationen seien bereits verschwunden, andere vielleicht schon kurz davor, demontiert und demoliert zu werden, damit hier Depots, Learning-Center und unterirdische Sicherheitsräume entstehen. „Der Nutzungs- und Verwertungsdruck ist groß. So gesehen sind die aktuellen Fotografien eine Dokumentation des Fremden und Verschlossenen, wo ganz andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als in der uns bekannten Welt.“

„Maschinenräume. Hinter der Kulisse der Wiener Ringstraße“ ist im Album-Verlag erschienen. Buchpräsentation am Montag, 27. Oktober, im Nordbuffet des Wiener Rathauses, Eingang Lichtenfelsgasse 2, 18.30 Uhr.

4. Oktober 2025 Der Standard

Diplomatische Zurückhaltung

Ein eckiger Tanz auf dem internationalen Parkett: Der Neubau der Deutschen Botschaft in Wien versucht, die Balance zwischen Hochsicherheit und Offenheit zu halten. Das gelingt ihm nur teilweise.

Das Wiener Botschaftsviertel ist ein Ort der nervösen Nachbarschaften. Hier, wo Parzellengrenzen Nationengrenzen darstellen, dominieren Zäune, Mauern, Kameras, Wachposten und Absperrungen den Zwischenraum. Mittendrin, mit einem prachtvollen Park gesegnet, die deutsche Botschaft, in angespannter Lage zwischen den Vertretungen Chinas und Russlands, dessen diplomatisches Verhältnis zu Deutschland momentan auf einem Tiefpunkt angelangt ist.

Mitten in diesem Spannungsfeld: eine Anomalie. Der hohe Metallzaun um das deutsche Territorium macht einen schwungvollen Ausreißer, weitet den Gehweg in Form einer tropfenförmigen Beule in den Garten hinein. Die freche Einladung zur Grenzüberschreitung, konzipiert vom Künstler Stefan Sous, ist die offizielle Kunst am Bau für den Neubau der Deutschen Botschaft. 2016 hatten die Leipziger Architekten Ansgar und Benedikt Schulz den Wettbewerb gewonnen, im April zogen die Mitarbeiter ein, Ende Oktober folgt die offizielle Eröffnung. Es ist das dritte Botschaftsgebäude an diesem Ort.

Die erste Vertretung errichtete das deutsche Kaiserreich 1877 im Renaissancestil, nach der Zerstörung folgte 1962–64 ein Neubau nach dem Entwurf von Rolf Gutbrod. Ein hervorragendes Beispiel der moderaten Moderne, das mit betonter Horizontalen und in schattigem Grau und Grün hinter den Bäumen zurücktrat. Es war die Zeit, als die junge Bonner Republik sich mit neuen Botschaftsgebäuden wie jenem von Hans Scharoun in Brasília als weltoffen und bescheiden präsentierte, ein Gegenmittel zum noch frischen Albert-Speer-Trauma der Monumentalität.

85.000 Reisepässe

Ab den 1990er-Jahren wurde es für die Beschäftigten jedoch enger, da die ständige Vertretung Deutschlands bei der OSZE an derselben Adresse Platz finden musste. Die Residenz des Botschafters wurde nach Hietzing ausgegliedert. 2014 wurde das sanierungsbedürftige Gebäude ganz geräumt, eine Studie kam zum Entschluss: Abriss und Neubau.

Man habe sich damals die Entscheidung für den Abriss wahrlich nicht leicht gemacht, sagt Thomas Hirschle vom Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), das als Bauherr fungiert. Neben dem zu hohen Sanierungsaufwand gaben die funktionalen Bedürfnisse den Ausschlag. 380.000 deutsche Staatsbürger leben in Österreich, davon 85.000 in Wien. Sie alle brauchen irgendwann einen neuen Pass. Die Wiener Botschaft ist nach jener in der Schweiz die zweitgrößte Pass-Anlaufstelle der Welt für Auslandsdeutsche. Veranstaltungen, Kulturarbeit und Empfänge brauchen repräsentativen Rahmen, vor allem wollte man Kanzlei, Residenz und Wohnbereich wieder an einer Adresse vereinen.

Der Entwurf von Schulz und Schulz, der die viergeschoßige Kanzlei mit den Büros und der Pass- und Visastelle über den zweigeschoßigen Trakt der Empfangsräume schichtet und mit dem fünfgeschoßigen Bauteil für die Residenz an der Ecke zur Reisnerstraße einrahmt, ist eine sinnvolle Umsetzung dieser Wünsche. Dabei blieb der Garten weitgehend unangetastet. „Der Garten war wirklich ein Geschenk“, sagt Benedikt Schulz. „Wir mussten ihn nur noch ein bisschen grüner machen.“

Zudem dient der Park als Filter zum öffentlichen Raum und übernimmt die zunehmend wichtige Rolle des Sicherheitsabstands. „Die internationalen Beziehungen sind schwieriger geworden“, sagt Botschafter Vito Cecere. „Vieles von dem, was heute passiert, entspricht nicht unseren Vorstellungen eines guten Miteinanders.“ Dass er damit vermutlich nicht nur den russischen Nachbarn meint, darf man zwischen den diplomatischen Zeilen lesen. „Umso wichtiger ist es, eine Dialogplattform bereitzustellen.“

Diese einladende Geste der Offenheit sei hier naheliegenderweise eine eher symbolische, betont Benedikt Schulz. „Die Sicherheit soll man gar nicht wahrnehmen.“ Die Sicherheitsanforderungen für Terrorabwehr und Geheimschutz innerhalb des Gebäudes sind hoch, die Personenströme müssen streng voneinander getrennt sein. Der Geheimschutz, sagt Ansgar Schulz, galt auch für die Architekten. „Wir durften bei der Planung auch nicht alles über das Gebäude wissen.“

Um den Widerspruch zwischen Offenheit und Terrorabwehr unter einen Hut zu bekommen, ist die Idee, die Baumasse mit einer horizontalen Fuge zweizuteilen und Luft hereinzulassen, nicht die schlechteste, auch wenn die Fassade aus Kärntner Marmor (eine Hommage an Gastgeberland und Nachhaltigkeit), die auch die Untersicht der auskragenden Bauteile bedeckt, dem Neubau eine gewisse lähmende Schwere verleiht. So ganz lässt sich der defensive Charakter nicht aus der Welt bekommen – eine Terrasse ist hier immer auch ein potenzielles Schussfeld.

Feststiege und Fluchtwege

Dafür empfängt die hohe Eingangshalle die Besucher mit ausgebreiteten Armen, das Atrium erlaubt den Blick in die unzugänglichen Obergeschoße und lässt zumindest die Existenz von inneren Botschaftsvorgängen erahnen. Den weniger sicherheitsrelevanten Weg in den ersten Stock eröffnet eine breite und recht steile Feststiege, die an einer leeren weißen Wand endet. Gäste mit Lackschuh und Robe müssen hier eine scharfe 180-Grad-Drehung hinlegen, wenn sie in der Beletage dem empfangenden Botschafter die Hand schütteln wollen. Die Atmosphäre erinnert eher an einen funktionalen Fluchtweg in einem Flughafenterminal als an den Wiener Kongress.

Die Repräsentationsräume, die sich zu Terrasse und Garten orientieren und an die Botschafterresidenz anschließen, zeugen von einer teils gelungenen Annäherung an Eleganz. Empfang, Bibliothek, Speisesaal. Am Boden leichte Variationen des Natursteins in Grau und Weiß, auch ein Schachbrettmuster taucht auf. Dezente Vorhänge, diskrete Holztäfelung. So ganz ließ sich die Aura bundesdeutscher Bürokratie aber nicht abschütteln. Immerhin: Entfremdete Auslandsdeutsche dürfen hier mit Assoziationen von Länderfinanzausgleichen, Sonderausschüssen und Anträge-bitte-per-Fax ihr Heimatgefühl auftanken.

Mit einer Ausnahme: Die weiße Wendeltreppe von der Terrasse in den Garten, inspiriert von den Besuchen der Architekten in Brasília, erlaubt sich eine martiniglashafte Leichtigkeit, die der übrige Bau nicht leisten darf, und erinnert an sorglosere Zeiten auf internationalem Parkett. Vielleicht kehren sie eines Tages zurück.

1. Oktober 2025 deutsche bauzeitung

Erweiterung einer Firmenzentrale in Ernstbrunn (A)

Die Windkraft Simonsfeld AG zählt zu den größten Windstromproduzenten Österreichs – und hat kürzlich ihren neuen Erweiterungsbau von juri troy architects bezogen. Der Holz-Lehm-Hybridbau überzeugt durch Atmosphäre, Innenraumklima und liebevoll komponierte Details.

Es hilft nichts. Kaum hat man das Foyer betreten, schaut man zunächst einmal weder auf den eleganten Empfangstresen noch auf die schicken Lounge Chairs vor dem Fenster und schon gar nicht auf die wohlproportionierte Holzkonstruktion, die den gesamten Raum in einer stoischen Ruhe säumt – sondern muss unweigerlich zur Stampflehmwand hinlaufen, Hand ausstrecken, riechen, streicheln, herumrubbeln. »Und beinahe«, erzählt Architekt Juri Troy, »hätten wir die Lehmwand nicht realisieren können, denn es hat sich wochenlang kein einziges Lehmbauunternehmen gefunden, das bereit gewesen wäre, den Erdhaushub vor Ort zu verarbeiten. Das wäre echt ein Malheur gewesen! Umso besser, dass es dann doch noch geklappt hat.«

Zurück zum Anfang. Die Windkraft Simonsfeld AG zählt mit 94 Windkraftanlagen, die sie plant, realisiert und auch selbst betreibt, zu den größten Windstromproduzenten Österreichs. Was 1996 als kleines Garagen- und Bauernhof-Unternehmen begonnen hatte – damals wurden die Betreiber noch von vielen als grüne Spinner belächelt, wie man in der Firmenchronik nachlesen kann – ist heute einer der größten und wichtigsten Arbeitgeber in der Region, eine halbe Autostunde nördlich von Wien. Mit 150 Mitarbeitenden in der Verwaltung und einer jährlichen Ausbeute von über 740 Gigawattstunden an grünem Strom – genug, um damit 185 000 Haushalte zu versorgen – entwickelte sich das einstige Start-up auf diese Weise zu einem ausgewachsenen Unternehmen in diesem Bereich.

Vor den Bestand gesetzt

Der erste Wachstumsschub kam 2014, als das Büro vom Bauernhof im kleinen, beschaulichen Simonsfeld ins etwas größere Ernstbrunn übersiedelte und den österreichischen Architekten Georg Reinberg, seines Zeichens Öko- und Solarpionier, mit der Planung für die neue Firmenzentrale beauftragte. Reinberg setzte damals eine hölzerne Lagerhalle aufs Grundstück, daran angrenzend eine Hightech-Büromaschine für rund 50 Mitarbeitende, mit gläserner Südfassade und konstruktiv inszenierter PV-Anlage auf den Vordächern – eine Art technoides Passivhaus-Wahrzeichen in Stahl und Glas. Dazu passend die offizielle, dafür eigens eingetragene Büroadresse: Energiewendeplatz 1.

Mit dem grünen Trend und dem kontinuierlichen Ausbau an Windkraftanlagen im ganzen Land wuchs der Betrieb stetig an, einige Angestellte mussten sogar schon in eine angemietete Dependance übersiedeln, eine weitere Ausbaustufe am eigenen Grundstück – in direkter Nachbarschaft zum Reinberg-Bau – war daher unausweichlich. In Kooperation mit dem Wiener Consulting-Unternehmen M.O.O.CON, das sich vor allem als Partner für die sogenannte Phase Null versteht, wurde ein einjähriger Findungsprozess initiiert, der 2022 in ein Auswahlverfahren mit anschließendem geladenen, zweistufigen Architekturwettbewerb mündete. Unter den vier teilnehmenden Büros sps architekten, MAGK Architekten, Dietrich Untertrifaller und juri troy architects konnte sich Letzteres als Sieger durchsetzen.

»Eigentlich wurde in der M.O.O.CON-Ausschreibung ganz klar kommuniziert, dass die Aussicht freigehalten und der Zubau neben oder hinter dem bestehenden Gebäude positioniert werden müsse«, erinnert sich Architekt Juri Troy. »Aber das hätte bedeutet, dass man den Neubau versteckt und dass man sich weitere, optionale Ausbaustufen auf diesem Grundstück ein für alle Mal verbaut hätte. Dem haben wir uns widersetzt.« Im Gegensatz zu den drei Konkurrenzentwürfen wagte es Troy, den Neubau direkt vor den Reinberg-Bau zu setzen und der Windkraft Simonsfeld AG auf diese Weise ein völlig neues Gesicht zu geben. Statt Technik, Photovoltaik und abweisender Stahl-Glas-Konstruktion wird man am Grundstück nun von Holz, Loggien und farbigen Outdoor-Möbeln in Empfang genommen.

Doch nicht nur das. Mit dem Anbau in u-förmiger Konstellation ist es gelungen, dem Bestandsbau die Sackgasse zu nehmen und das gesamte Büro mitsamt Lobby, Kantine, Teeküchen, Konferenzsaal und sogar teilbarer Veranstaltungshalle zu einem Ring mit zirkulärer, redundanter Erschließung zusammenzufassen. Auf diese Weise steigen die physischen Begegnungen und Kommunikationssituationen im Unternehmen. Und: »Im Bestandsbau hatten bloß 13 Prozent aller Büros Aussicht auf das große, grüne Feld mit den identitätsstiftenden Windrädern am Horizont«, rechnet Juri Troy vor. »Nun sind es 68 Prozent. Das war eines der ausschlaggebenden Argumente für unseren Sieg.«

Bauteilaktivierter Stampflehm

Und hinein ins Haus. Der Zugang befindet sich in einer gedeckten Nische an der Schnittstelle zwischen Alt und Neu, beiderseits Respekt erweisend, beide Bauphasen wertfrei nebeneinanderstellend. Nach einem kleinen Foyer mit ökologischen Kokosmatten als Fußabstreifer, was sonst, befindet man sich im eingangs erwähnten, stimmungsvollen Luxusfoyer. Holzstützen, Holzmöbel, Holzdecken, Sitzlandschaften in warmen Rot- und Rosatönen sowie Terrazzoböden mit Steinen aus einem nahe gelegenen Steinbruch bilden den Vordergrund vor der erdigen, archaischen Stampflehmwand, die die beiden Sanitär- und Erschließungskerne des Neubaus umfasst und bis hinauf ins Obergeschoss reicht.

»Die Stampflehmwand ist ein nicht nur visuelles, sondern auch haustechnisches und bauphysikalisches Schlüsselelement dieses Entwurfs«, erzählt der Architekt. Sie dient als Wärmespeicher, Feuchtigkeitsregulator und vor allem als bauteilaktivierte Masse, denn im Inneren der 20 cm tiefen Stampflehmschicht, die in groben, wellenartigen Schichten den manuellen Produktionsprozess veranschaulicht, befinden sich wasserführende Leitungen, die wiederum an eine Sole-Wärmepumpe und an elf neue Tiefenbohrungen unter dem Haus angeschlossen sind. »Nichts anderes als eine klassische Bauteilaktivierung«, so Troy, »allerdings nicht mit Stahlbeton, sondern aus einem natürlichen Rohstoff zusammengestampft.«

Von Anfang an hatte der Entwurf vorgesehen, für die Lehmschale das Aushubmaterial vor Ort zu verwenden. Allerdings fand sich zwischen Ostösterreich und Vorarlberg lange Zeit kein einziger Spezialist, der bereit gewesen wäre, den lokalen Aushub weiterzuverarbeiten. Manche hätten sogar vorgeschlagen, den Lehm aus Vorarlberg zu beziehen und quer durch die Alpen zu transportieren. In Hinsicht auf graue Energie und Emissionen hätte das den Gedanken der Kreislaufwirtschaft ad absurdum geführt. Das Ursprungskonzept konnte doch noch realisiert werden, und zwar wohlgemerkt mit tatkräftiger Unterstützung lokaler Mitarbeitender. Dies trug dazu bei, dass das Projekt nach dem österreichischen Gütesiegel klimaaktiv zertifiziert wurde und den Maximalwert von 1 000 klimaaktiv-Punkten erreichen konnte – ein neuer Rekordhalter.

Stimmige Einheit

Rund um die beiden Stampflehmkerne wie auch in deren Inneren befindet sich eine Holzkonstruktion mit 24 x 24 cm großen Stützen und Balken sowie mit Wand- und Deckenelementen aus massiven CLT-Platten. Mit einem konstanten Achsmaß von 2,70 m kommt zwischen den vielen ausgeklügelten baulichen Details wie Sitznischen samt drehbaren Tischchen, Stehboards samt Leselampen und geschickt platzierten Zu- und Abluftschlitzen in den Balkenzwischenräumen nicht nur Ruhe und Ordnung ins Gebäude, sondern, mehr noch, ein weiterer Gedanke von Zirkularität: »Eines Tages«, meint Troy, »wird man das Gebäude abtragen und die Bauteile wiederverwenden können. Aus diesem Grund haben wir die Konstruktion so weit wie möglich standardisiert und modularisiert.«

Auch wenn die Architektur aufgrund der seriellen Modularität wie viele Holzbauten heutzutage auf den ersten Blick wie eine segmentierte Bentōbox aussieht, ist das Projekt gegenüber ähnlichen Bauten in puncto Materialität einen großen Schritt voraus. Jury Troy hat den Erweiterungsbau nicht – wie so oft – ideologisch in einem Holz durchdekliniert, sondern die jeweils bestgeeigneten Holzarten wie beim Bau einer Violine oder eines Konzertflügels nach Bedarf miteinander komponiert: Fichte als Konstruktionsholz, Eiche für die bewitterten Terrassenflächen, Lärche für die Fenster, Weißtanne für Fassade, Türen, Möbel und Akustikdecken und schließlich Esche für Parkett, Handläufe und Griffstangen. Das Resultat ist ein sensibel zusammengestelltes Potpourri mit fließenden materiellen und chromatischen Übergängen – von einem Meister der Nachhaltigkeit, der sein Fach bis ins allerkleinste Detail hinein versteht.

Spätestens wenn man am Fenster zum Hof steht oder in den intimen, windgeschützten Garten hinaustritt, wird man dessen gewahr, was für eine schöne, stimmige Einheit hier geschaffen wurde – mit dem Bau von 2014, dem Neubau von 2025 und einem gleichwertigen Nebeneinander unterschiedlicher Ideologien nachhaltigen Bauens. Wie ernst es der Bauherr mit seinem klimasensiblen, ressourcenschonenden Commitment meint, zeigt sich nicht zuletzt im Blutspende-Bus, der regelmäßig bestellt wird, sowie in den täglich frisch gekochten, ausschließlich vegetarischen Menüs in der Kantine. So, und zwar nur so, könnte die Klimawende eines Tages doch noch gelingen.

6. September 2025 Der Standard

Killerkommando Canaletto

Seit dem Hochhausprojekt am Wiener Heumarkt wurde wohl kein Barockmaler so oft zitiert wie Bernardo Bellotto. Die Wiener Künstler Steinbrener/Dempf & Huber ziehen gegen ihren längst toten Kollegen in einen polemischen Kampf und fordern in ihrer Ausstellung: „Tötet Canaletto!“

Der erste Aufschrei

„Ich denke an ein Retro-Hotel auf höchstem Niveau“, verriet der Wiener Investor Michael Tojner 2012 in einem Interview, als ihn DER STANDARD zu den Umbauplänen des Wiener Eislaufvereins befragte. Knapp zwei Jahre später war der internationale Wettbewerb entschieden: Mit seinem Entwurf für die Sanierung des Hotel Intercontinental sowie für ein ebenso modernistisch anmutendes Wohnhochhaus mit 22 Stockwerken und 73 Meter Gebäudehöhe konnte sich der brasilianische Architekt Isay Weinfeld gegen zwei Dutzend Konkurrenten aus aller Welt durchsetzen – darunter auch Hochkaräter wie etwa Snøhetta, Coop Himmelb(l)au und Neutelings Riedijk Architects. Aufgrund der Schreie und Beschimpfungen im Saal musste die Pressekonferenz damals abgebrochen werden.

Stadt als Meterware

In den Folgejahren entwickelte sich der „Tojner-Turm“ am Rande der Innenstadt zu einem Wiener Politikum, und schon bald mischten sich zwei externe Kräfte in die Diskussion mit ein – einerseits die Unesco, die damit droht, Wien im Falle einer Realisierung den Welterbe-Status abzuerkennen, andererseits der venezianische Vedutenmaler Bernardo Bellotto, besser bekannt als Canaletto, der während seines zweijährigen Wien-Aufenthalts im Auftrag von Maria Theresia ein paar Stadtansichten malte – darunter auch Wien, vom Belvedere aus gesehen, entstanden 1761. Und so musste das geplante Turmprojekt am Heumarkt immer wieder gestaucht und zusammengestutzt werden. Nach heutigem Stand – und noch weit entfernt von einem realisierungsfähigen Konsens – misst er 49,95 Höhenmeter.

Barocke Messlatte

„Wien hat sich seit dem Barock dramatisch weiterentwickelt, und Canaletto ist seit 245 Jahren tot“, sagt Christoph Steinbrener, der mit seinen beiden Partnern Rainer Dempf und Martin Huber das Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber leitet. „Wie kann es also sein, dass ein solches Auftragswerk, das in seinen Größen und Proportionen erwiesenermaßen verzerrt und beschönigt wurde, heute immer noch als qualitative Referenz herangezogen wird? Will man Stadtplanung im 21. Jahrhundert ernsthaft an den subjektiven Kennwerten einer absolutistischen Monarchie abarbeiten?“ Der Canaletto-Blick, so Steinbrener, sei damals schon ein Fake gewesen, daher habe er auch überhaupt keine Skrupel, in der Tradition des falschen Abbilds weiterzuarbeiten.

Narrativ der Rechten

„Genau so arbeitet die rechte Politik“, sagt er. „Sie lässt die Kommunikation eskalieren und erreicht damit große Erfolge. Also dachten wir uns: Wir werden die plakative, leicht verständliche und wohl auch erfolgreiche Herangehensweise nicht allein den Rechten überlassen. Das können wir auch!“ Und so eröffneten Steinbrener/Dempf & Huber dieser Tage eine Ausstellung unter dem provokanten Titel Tötet Canaletto!. Die Schau in der Wiener Galerie rauminhalt harald bichler zeigt unter anderem verfremdete Canaletto-Blicke, die zu ganz neuen Arrangements collagiert werden – mit Knochen, Baseballschlägern, kiloschweren Vorschlaghämmern, aggressiv durchschneidenden Stadtautobahnen und himmelhohen Isay-Weinfeld-Hochhäusern, die wie im Hollywood-Film Inception zu einer surrealen Traumwelt zusammenwachsen.

59 Stockwerke

Und plötzlich gibt es in einem Viertelkilometer Höhe ein zweites, gespiegeltes Wien, das mit der echten oder angeblich echten Stadt da unten über Pflanzendarstellungen aus alten Lehrbüchern sowie über insgesamt 14 Tojner-Türme, jeder einzelne davon 59 Stockwerke hoch, verbunden ist. „Wir finden den Turm eigentlich ein bissl fad und vor allem auch sehr kurz nach all den Verkleinerungen“, sagt Künstler Martin Dempf, der in seinem Zweitberuf selbst als Architekt tätig ist. „Also haben wir ihn nach eigenem Ermessen wieder ein bisschen höher gemacht, denn der absolutistisch angelegte Schlossgarten Belvedere, aus dem die Öffentlichkeit einst aktiv ausgeschlossen wurde, kann in Zeiten der Wohnungsnot und der stadtplanerischen Stagnation ruhig einen zeitgenössischen Impuls vertragen.“

Wie tot ist das Tote?

Die am Dienstag eröffnete Ausstellung in der Schleifmühlgasse zeigt neben Collagen, Dioramen und Installationen, die allesamt mit dem vielzitierten Canaletto-Blick arbeiten, auch eine Handvoll schräg inszenierter Tierpräparate – ob das nun halbe Rehe sind oder kopflose Raben mit einem kopfsubstituierenden Objektiv von P. Angénieux, Paris. „In der Tierpräparation ist man stets darum bemüht, das tote Tier so darzustellen, dass es möglichst lebendig und möglichst wenig tot erscheint“, sagt Dempf. „Es ist eine Verzerrung zwischen Original und Kopie. So ähnlich ist das auch beim Canaletto.“ Mit dem ständigen Referenzieren auf einen barocken Zustand, der ohnehin nicht die Realität abgebildet habe, töte man jeden Gedanken einer künftigen Entwicklung.

Urbane Konfliktliebe

„Wir lieben die Stadt“, sagen Steinbrener/Dempf & Huber, die sich schon seit 20 Jahren mit dem Thema Stadt und öffentlicher Raum beschäftigen, im Interview mit dem ΔTANDARD. „In der Dichte der vielen, vielen Konflikte, die es hier Tag für Tag auszutragen gilt, ist die Großstadt das wahrscheinlich komplexeste und faszinierendste soziale Biotop, in dem wir Menschen koexistieren. Umso wichtiger ist es, für die Zukunft Kriterien zu finden und Qualitätsstandards zu definieren, die keinen toten Barockmenschen instrumentalisieren, sondern die aus heutiger Sicht heraus, mit dem heutigen Wissen im Talon eine gesunde Stadtentwicklung und Stadtverdichtung ermöglichen. Als Künstler nehmen wir uns die Freiheit, diesen Missstand zu kommentieren. Canaletto gehört endlich begraben.“

[ Die Ausstellung „Tötet Canaletto!“ ist noch bis 4. Oktober 2025 zu sehen. Galerie rauminhalt_harald bichler. ]

16. August 2025 Der Standard

Lernen von der Platte

In Berlin hat FAR Frohn & Rojas kürzlich ein Wohnhaus fertiggestellt – mit serieller Bauweise, unverputztem Sichtbeton und ziemlich rougher Ausstattung. Der Bau könnte ein Exempel für billiges Bauen und Wohnen sein.

Nackte Betonwände in den Zimmern, unverspachtelte Betonunterzüge an der Decke, spartanisch gestaltete Betonlaubengänge mit einer flankierenden Bauteildämmung aus Hornbach-Heraklith, als hätte die Baufirma das Gerüst abgebaut, bevor sie die Außenseite des Hauses überhaupt noch streichen und verputzen konnte. „Nein, das ist Absicht“, sagt Marc Frohn, „und nicht nur, weil wir als Architekten darin eine gewisse Ästhetik erkennen, sondern vor allem auch, weil wir mit diesem Wohnhaus ein Exempel für intelligenten seriellen Wohnbau statuieren wollten.“

Kaulsdorf im tiefsten Osten von Berlin ist so etwas wie das Harter Plateau in Linz oder die Rennbahnsiedlung in Wien. Kaulsdorf Nord 1 im Speziellen, eine wenig charmante Namensgebung der damaligen DDR-Stadtplanung, zählt mit seinen Hochhäusern aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu den größten Plattenbausiedlungen Europas – mit viel Grün zwischen den Häusern, aber auch mit Hartz IV, Netto-Diskontern und verrosteten Teppichklopfstangen im Innenhof.

„Im Sinne der städtischen Nachverdichtung eignen sich diese luftig bebauten Quartiere bestens für Neubauten und Lückenschließungen“, so Frohn. „Und nachdem wir hier von jahrzehntelanger Expertise in serieller Vorfertigung umgeben sind, mit Waschbetonfassaden und Plattenbauten aus der Serie WBS70, wollten wir uns auf genau diesem Grundstück mit der Zukunft des seriellen Bauens beschäftigen – und uns die Frage stellen, wie wir Vorfabrikation im besten Einvernehmen mit architektonischer Kreativität technisch effizient und wirtschaftlich attraktiv weiterdenken können.“

Es ist nicht das erste Mal, dass sich Marc Frohn – der gemeinsam mit Mario Rojas und Wendy Gilmartin das trinationale Architekturbüro FAR Frohn & Rojas leitet, mit Niederlassungen in Berlin, Los Angeles und Santiago de Chile – mit seriellem Wohnbau beschäftigt. Bereits 2019 entwickelte er das vielfach preisgekrönte Wohnregal im Berliner Bezirk Moabit, damals noch mit bloß zehn Wohnungen und einem Büro im Erdgeschoß, in das er selbst eingezogen ist.

Spiegelgleiche Wohnriegel

„Doch nun wollten wir noch einen Schritt weiter gehen und die Idee des Seriellen mit all seinen räumlichen und materiellen Reizen auf einen größeren Maßstab ausweiten.“ Das Resultat ist eine Wohnhausanlage mit zwei spiegelgleichen Wohnriegeln mit insgesamt 124 Wohnungen. Der Bausatz umfasst an die 8300 Fertigteile – darunter nicht nur Säulen, Platten und Unterzüge, sondern auch 124 vorfabrizierte und in einem Stück auf die Baustelle gelieferte Badezimmerboxen.

„Wir stellen das serielle Bauen bewusst und ungeschminkt zur Schau“, sagt Frohn, „ohne Farbe und ohne Verkleidung – und gerne mit all den fleckigen Marmorierungen in der Betonoberfläche.“ Sowohl drinnen in den Wohnungen als auch draußen auf den netzbespannten Laubengängen mit ihren hyperbelförmigen Balkonausweitungen sind die Unterzüge als konstruktive Maßnahme deutlich ablesbar. Bei einer Raumhöhe von 2,85 Metern, die im Neubau mittlerweile als Rarität erachtet werden kann, erscheint dies nicht wirklich störend. Mehr noch ergeben sich in den Schnittpunkten von Säule, Konsole und Querträger spannende Details. Schalter, Steckdosen und Verkabelungen sind auf Putz geführt. Why not?

Doch die Einsparungen liegen nicht nur in der radikalen Reduktion der Materialien, sondern auch in der cleveren Anordnung und Funktionsüberlagerung der Flächen: Der halböffentliche Laubengang dient zugleich als Balkon, auf Vorzimmer wurde komplett verzichtet, die unorthodox geschnittenen Räume mit ihren deckenhohen, teils doppelflügeligen Türen lassen unterschiedliche Nutzungen zu. Hinzu kommt der vom Berliner Landschaftsarchitekturbüro Topotek 1 gestaltete Innenhof – mit knallrotem Sportbelag und ebenso rot lackierten Sitzmöbeln und Spielgeräten.

„Ja, dieses Wohnhaus ist wohl Geschmackssache“, sagt ein junger Herr im Erdgeschoß, der erste, bereits eingezogene Mieter, nachdem die Vermarktung des Projekts im Mai startete und das Haus vor wenigen Wochen erst fertiggestellt wurde. „Ich habe mit meiner Familie davor in einem klassischen Gründerzeithaus gewohnt, und das hier ist jetzt so ziemlich das Gegenteil davon. Aber die Architektur ist in ihrer Fremdheit irgendwie ansprechend. Ich bin schon gespannt, wie sich dieser Wohnriegel mit der Zeit mit Leben füllen wird.“

Mit rund 15 bis 20 Prozent Ersparnis in den Baukosten ergeben sich hier gute Möglichkeiten, die mittlerweile exorbitant hohen Wohnkosten in deutschen Städten ein wenig zu senken. Beim ersten Projekt in Moabit ist dies gelungen, rechnet der Architekt vor, und auch das nun geplante Folgeprojekt in Köln, ein Wohnhaus mit günstigen Wohnungen für Bedienstete der Kölner Stadtwerke, ist bereits in Entwicklung, doch ausgerechnet beim Wohnregal in Kaulsdorf ist die Rechnung leider nicht aufgegangen.

Der Auftraggeber und Investor Euroboden, der lange Zeit innovative High-End-Bauten mit namhaften Architekten wie etwa David Adjaye, David Chipperfield und Arno Brandlhuber realisiert hat, ist seit Ende 2023 insolvent. Eine attraktive Bewertung und Verwertung des Objekts scheint in dieser Situation für einen potenziellen Abverkauf allerhöchste Priorität zu haben – und das schlägt sich auch in der Miete nieder. Auf diversen Immobilienplattformen tauchen die letzten noch verfügbaren Mietwohnungen für 20 Euro und mehr pro Quadratmeter auf. Das ist selbst für Berliner Verhältnisse jenseits von Gut und Böse.

Wirtschaftlich reizvoll

„Mit den beiden Fertigteilhäusern in Moabit und Köln haben wir bewiesen, dass eine serielle Fertigung architektonisch attraktiv und wirtschaftlich reizvoll sein kann und dass wir die Wohnkosten auf diese Weise spürbar reduzieren können“, sagt Marc Frohn, „aber auch, wie viel Freiheit und Gestaltungsmöglichkeiten wir in einem seriellen System haben – und das genau hier, in Kaulsdorf, umgeben von Plattenbauten, quasi von unseren architektonischen Großeltern. Wir können von der Platte lernen.“

In einer Zeit, in der die Wohnkosten ungebremst nach oben klettern, auch in Österreich, mit all den Normen, Vorschriften und baurechtlichen Anforderungen, stellt sich die Frage, ob der Verzicht auf teure Baustoffe, hochwertige Ausstattungen und komplexe technische Schnittstellen nicht eine Möglichkeit wäre, das Wohnen endlich ein Äutzerl billiger zu machen. Sicher keine Lösung für die breite Masse, aber für einige.

9. August 2025 Der Standard

Rückwärtsgang in Stahlbeton

Die Budapester Burg ist eine Großbaustelle. Viktor Orbáns Fidesz rekonstruiert hier die Kaiserzeit und schiebt andere historische Schichten zur Seite. Eine kritische Bergbesteigung mit dem Künstler Andreas Fogarasi.

Eine breite Baulücke klafft am Nordrand des Várhegy, des schmalen Bergrückens parallel zur Donau, auf dem die Budapester Burg thront. Rechts von der Lücke: Das wuchtige Gebäude des ungarischen Staatsarchivs, ein historistischer Bau aus dem Jahr 1923. Links davon: ein schmales Stiegenhaus aus Beton und Glas, dem das dazugehörige Haus fehlt. Es gehörte zum Archiv-Erweiterungsbau aus den 1970er-Jahren, der inzwischen abgerissen wurde.

Gefüllt werden soll die Baulücke mit einer Art neuem Altbau. Der im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigte und später abgerissene Turm soll wieder errichtet werden, ergänzt um einen Gebäudeflügel, der 1923 geplant, aber nie ausgeführt wurde. Eigentlich sollte mit den Bauarbeiten schon 2022 begonnen werden, passiert ist bisher nichts. Der unerwünschte Bau aus sozialistischer Zeit wurde vorsichtshalber schon beseitigt.

Die Moderne tilgen

Es ist nicht der einzige neue Altbau auf dem Várhegy im Rahmen der großen Rekonstruktions-Initiative namens Nationales Hauszmann-Projekt. Benannt ist es nach Hofbaumeister Alajos Hauszmann, der zwischen 1890 und 1905 die Burg in großem Stil ausbaute, um auf imperialer Augenhöhe mit Wien zu sein – eine Ära, die jetzt wiedererstehen soll, wenn es nach Viktor Orbáns Fidesz-Partei geht, die das Programm maßgeblich vorantreibt. Davon erzählen die vielen Bauzäune, bedruckt mit Fotos, Zeichnungen und Porträts früherer Könige in stattlich-bärtiger Männlichkeit.

Nicht alle sind begeistert von diesem Großvorhaben. „Eine wesentliche Motivation des Hauszmann-Projekts und der aktuellen Regierung ist es, die Moderne aus dem Stadtbild zu tilgen“, sagt Andreas Fogarasi, vor dem Bauzaun des Nationalarchivs stehend. „Ihre Verwerfungen und Wunden und die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts sollen unsichtbar gemacht werden.“ Der in Wien lebende Künstler mit ungarischen Wurzeln kennt die Bausubstanzen von Budapest, denn sie sind Kern seiner Arbeit. Er kombiniert Elemente von abrissbedrohten Bauten zu Materialpaketen, komprimierter Architektur-Archäologie. Seine besondere Liebe gilt der Architektur der Nachkriegszeit. Den Abbruch des Archivgebäudes bedauert er sehr.

Dass den Befürwortern des Hauszmann-Projekts die Bauten der 1950er- bis 1980er-Jahre ein Graus sind, wird keineswegs verhohlen. Denn die Kommunisten, sagen sie, hätten die Zeugen der imperialen Zeit, die der Krieg übrigließ, aus „ideologischen Gründen“ zerstört. Die simple Gleichung: Kommunismus gleich Moderne gleich Internationalität, ohne Rücksicht auf das typisch Ungarische, was immer es sein mag. Spaziert man mit Andreas Fogarasi durch den Várhegy, wird klar, dass das nicht ganz stimmt. Denn die Kommunisten machten hier keineswegs Tabula rasa. Im Altstadt-Gefüge entdeckt man zahlreiche Wohnbauten jener Zeit, die eine unaufgeregte Moderne mit historischen Elementen kombinieren und tadellos gealtert sind.

„Moderne Neuinterpretation“

Auch die Burg selbst wurde nach 1945 nicht als Symbol des unerwünschten Imperialismus gesprengt, sondern wieder aufgebaut – hier unterschied sich Ungarn von der DDR, die das Berliner Stadtschloss per Sprengladung beseitigte. „In Budapest wurde in einem jahrzehntelangen Prozess eine moderne Neuinterpretation geschaffen“, sagt Andreas Fogarasi. „Verschiedene Fassaden nahmen Bezug auf verschiedene Zeitalter, es wurden alternative Formen für die wiederaufgebaute Kuppel diskutiert. Aber heute treffen sich Berlin und Budapest im Rekonstruktionswahn der Gegenwart.“

Nähert man sich dem Burgkomplex, der die südliche Hälfte des Várhegy einnimmt, zeigt das Hauszmann-Projekt sein ganzes Gewicht. Hier werden derzeit das Gebäude des Oberkommandos der ungarischen Streitkräfte und das Erzherzog-Joseph-Palais von Grund auf neu errichtet. Allein diese beiden Bauten dürften mehr Beton aufbieten als die gesamte sozialistische Moderne auf dem Burgberg. Verkleidet in Styropor, darauf ein dünner Firnis aus historischem Dekor.

Das Spiel aus alt und neu wird nicht weniger verwirrend, je weiter man spaziert. Ein Flügel der Burg aus der Rekonstruktion der Nachkriegszeit ist bis auf die Fassade demoliert, daneben baut man an einer alternativen Rekonstruktion. Zwar ist die acht Jahrhunderte umfassende Baugeschichte der Budapester Burg eine des permanenten Umbaus, doch während die Wieder-Aufbauer des Sozialismus noch sorgfältige Archäologie betrieben hatten, ist für das Hauszmann-Projekt nur ein einziges historisches Kapitel interessant – jenes, das mit Ungarns größter territorialer Ausdehnung assoziiert wird. Auch hier ist also reichlich Ideologie im Spiel. Die Architekturtheoretikerin Maitri Dore weist in ihrer Forschungsarbeit Nation-building through architecture in post-socialist Budapest auf diesen selektiven Umgang mit der Geschichte hin: Alles vor dem ungarischen Schlüsseljahr 1867 wird beiseitegeschoben, alles nach 1945 sowieso.

Für sie ist der Fokus auf den Várhegy auch ein Zeichen, dass sich Fidesz nicht mit der Stadt auseinandersetzen und lieber über ihr thronen will. Während hier in Buda dreistellige Millionenbeträge ausgeschüttet werden, bröselt die Bausubstanz in Pest an vielen Stellen vor sich hin. Das ärgert auch Andreas Fogarasi: „Es macht mich unglaublich wütend, dass ein Staat, der die Bildung, die Gesundheitsversorgung, die unabhängige Presse und Kultur finanziell aushungert, sich mit einem enormen Aufwand dieses Denkmal errichtet und dafür historisch und architektonisch wertvolle Substanz zerstört.“

Feingliedrige Glaselemente

Endpunkt des Spaziergangs: die Kuppel des Palastes, wiedererrichtet 1961. Das Tageslicht flutet durch einen Vorhang feingliedriger Glaselemente in die Räume der Nationalgalerie. Auch hier hat das Hauszmann-Projekt große Pläne. Die Galerie wird in einen Neubau in Pest abgesiedelt, entworfen vom japanischen Büro SANAA. Die Kuppel soll durch eine Kopie der neobarocken Hauszmann-Kuppel ersetzt werden. Andreas Fogarasi, der Materialsammler, schaut zu den Glaselementen und seufzt: „Im schlimmsten Fall bekomme ich ein Dutzend davon. Im besseren Fall gar nichts – und die Kuppel bleibt bestehen.“

30. Juli 2025 Der Standard

Coop-Himmelb(l)au-Mitgründer Helmut Swiczinsky 81-jährig gestorben

Der dekonstruktivistische Architekt hat die internationale Baukultur der letzten Jahrzehnte mitgeprägt und hinterlässt ein wichtiges Stück Architekturgeschichte

„Es gibt keine Wände mehr. Unsere Räume sind pulsierende Ballons. Unser Herzschlag wird zum Raum, unser Gesicht ist Hausfassade.“ Mit Provokationen wie diesen zählten Helmut Swiczinsky und sein Kompagnon Wolf D. Prix in den 1960er-Jahren zu den Jüngsten und Wildesten der Wiener Architekturszene. Mit ihren weißen Anzügen, aufblasbaren Herzräumen und riesigen pneumatischen Wohneinheiten haben die beiden Architekturstudenten in der Aula und in den Zeichensälen der Technischen Hochschule, der heutigen TU Wien, Geschichte geschrieben.

Geboren wird Helmut Swiczinsky 1944 im polnischen Poznań. Er wächst in Wien auf und studiert Architektur in Wien und an der Architectural Association in London. Auf einer Flugreise von Spanien nach Wien beschließt er, gemeinsam mit Wolf D. Prix eine Architekturgruppe zu bilden. „Ich habe damals gerade Hamlet gesehen“, wird sich Prix später erinnern und aus ebendiesem Stück zitieren: „Seht Ihr die Wolke dort, beinah in Gestalt eines Kamels? Mich dünkt, sie sieht aus wie ein Wiesel. Oder wie ein Walfisch?“ Mit dem Blick aus dem Flugzeug wird schließlich der Name des Büros geboren: Coop Himmelblau. „Himmelblau ist keine Farbe“, schreiben die beiden bald in manifestartigen Worten nieder, „sondern die Idee, Architektur mit Fantasie leicht und veränderbar wie Wolken zu machen.“

Zu den ersten Projekten zählen Villa Rosa, The Cloud, Herzraum Astroballon, Herzstadt Weißer Anzug, Gesichtsraum Soul Flipper, Haus mit fliegendem Dach und Flammenflügel im Innenhof der TU Graz („Architektur muß brennen“). Die Prototypen aus Gummi, Latex, Kunststoff, Metallgittern und aufblasbaren Membranen ernennen Luft und Feuer zum Baustoff und erklären der Schwerkraft die Absage. Die Wolken, Fernsehhelme und kugelförmigen Konstruktionen gelten als neue Medien, Körperverlängerungen und dematerialisierte Wohnorganismen.

Berühmt über Nacht
„Unsere Architektur hat keinen physischen Grundriß, sondern einen psychischen“, lautet einer der Texte zu den frühen Projekten, die im architekturtheoretischen Kontext dem Dekonstruktivismus zugeordnet werden und schon bald im Museum of Modern Art (MoMA) in New York zu sehen sind. Oder, noch präziser, in Anspielung an den westdeutschen Aktivisten Rudi Dutschke: „Nicht wir haben uns zu verändern, um in Architektur zu leben, sondern die Architektur hat so auf unsere Bewegung, unser Gefühl, unsere Stimmung, unsere Emotion reagieren, daß wir in ihr leben wollen.“

1983 entsteht das erste dauerhaft realisierte Hochbauprojekt, der Dachausbau Falkestraße in der Wiener Innenstadt. Das mittlerweile denkmalgeschützte Projekt für eine Wiener Rechtsanwaltskanzlei macht die beiden über Nacht international berühmt. Es folgen das Fundermax-Werk in St. Veit an der Glan (1989), der UFA-Kinopalast in Dresden (1998), das Wohnprojekt Gasometer Wien (2001), das Akron Art Museum in Ohio (2007), die BMW-Welt in München (2007), das Musée des Confluences in Lyon (2009) und die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main (2011).

Bruch der Buddys
In den Jahren der EZB-Planung zieht sich Helmut Swiczinsky, der stille und philosophische Innenminister von Coop Himmelb(l)au, das im Zuge der zunehmenden Bautätigkeit das „l“ in Klammern setzt, allmählich aus dem operativen Geschäft zurück. Mit dem Aufkommen der großen Projekte für Baku, Istanbul, Seoul, Dalian und die Halbinsel Krim kommt es zum Bruch der einstigen Buddys, die einst so stark zusammengeschweißt waren wie die Beatles oder die Rolling Stones, deren Song Gimme Shelter viele lange Jahre in der Warteschleife erklingt, wenn man bei Coop Himmelb(l)au anruft.

Helmut Swiczinsky löst die Büropartnerschaft auf und bricht den Kontakt zu Wolf Prix ab. In den letzten zehn Jahren lebt er ohne aktive Erwerbstätigkeit im Kreise seiner Familie und widmet sich der Malerei und der Philosophie. Am Dienstag ist er nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. „Er war einmal mein größter Freund“, sagt Prix auf Anfrage des STANDARD. „Wenn Menschen aus dem Leben gehen, werden die Geschichten, die man mit ihnen erlebt hat, Vergangenheit. Das macht mich sprachlos.“

19. Juli 2025 Der Standard

Ein Wohnzimmer für die Wuchtel

Heute Nachmittag wird das neue Reichshofstadion in Lustenau eröffnet. Das „Fußball-Wohnzimmer“ ist ein spannendes Match zwischen Holzbau, Anrainer-Interessen und cleverer Verkehrsplanung.

Heute, Samstag, 16 Uhr, werden die Grün-weiß-Gestreiften aus Lustenau gegen die Augsburger im knallroten Auswärtstrikot antreten und das neue Reichshofstadion mit einem Freundschaftsspiel eröffnen. „Der FC Augsburg spielt in der deutschen Bundesliga, das ist ein Klassenunterschied, das kann man nicht leugnen, die sind schon echt gut“, sagt Bernd Bösch, Vorstandssprecher des SC Austria Lustenau, zweite Bundesliga in Österreich. „Aber wir haben dennoch ganz gute Chancen auf den Sieg. Abgesehen davon: Darum geht es nicht! Wir freuen uns einfach riesig auf das Match. Und wir freuen uns, dass wir nun endlich ein Stadion haben, das dem Namen auch wirklich gerecht wird.“

Schon seit den 1950er-Jahren wird auf dem Areal des ehemaligen Reichshofs – die Bezeichnung geht auf das 9. Jahrhundert zurück, als der Reichshof Lustenoua zwischen mehreren Geschlechtern und Grafschaften hin und her geschenkt wurde – Fußball gespielt. Der Sportplatz wurde immer wieder erweitert, mit einer Rasenheizung ausgestattet und mit mal fixen, mal temporären Tribünen eingefasst, doch die Summe der provisorischen Maßnahmen sollte bald ein Ende haben. 2018 wurde ein offener Wettbewerb mit vorgeschaltetem Bewerbungsverfahren ausgeschrieben.

Vier Pflöcke in den Boden rammen

„Ich glaube, wir haben vor allem aus zwei Gründen gewonnen“, sagt Matthias Kastl, Projektleiter im siegreichen Architekturbüro Bernardo Bader, das den Wettbewerb in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Architekten Walter Angonese und dem Dornbirner Ingenieursbüro GBD Group für sich entscheiden konnte. „Erstens wollten wir eine warme, hölzerne Gemütlichkeit schaffen, eine Art Wohnzimmer für den Fußball bauen, und zweitens haben wir es geschafft, dass das eigentlich kleine, niedrige Stadion dank den vier Eckpylonen, die nun 40 Meter hoch in den Himmel reichen, als hätte jemand vier Pflöcke in den Erdboden gerammt, nun eine gewisse Größe und Sichtbarkeit bekommt.“
Ein Sockel für 90 Minuten Emotionen

Der Haupteingang befindet sich in der Schützengartenstraße 21, keine 200 Meter vom Rhein und somit von der Schweizer Staatsgrenze entfernt. Im Norden des Stadions gibt es ein Klubhaus in Holzbauweise sowie das sogenannte Austria-Dorf, eine Art Ganzjahres-Christkindlmarkt für die Wuchtel, mit Bier und Bosna, mit Fanartikeln und Fußball-Devotionalien – zusammengezimmert in Holzbauweise, niederschwellig in der Anmutung, durchaus ansprechend in seiner architektonischen Gestaltung. Von hier aus gelangt man zur VIP-Lounge sowie – durch breite Publikumstore, durch massiv betonierte „Münder“, wie der Architekt dies ausdrückt – zu den einzelnen Tribünen.

„Der erste Eindruck ist ein sehr archaischer, mit schwerem Sichtbeton, verzinkten Stahltoren und geböschten Wandscheiben, die wir so richtig plakativ in Szene setzen“, sagt Kastl. „Auf diese Weise wollten wir das Fundament zelebrieren und seine tragende Rolle veranschaulichen, schließlich sprechen wir hier von einem Publikum, das aus tausenden Menschen besteht, mit starken Emotionen, mit Schreien, Stampfen und Applaudieren, zweimal 45 Minuten lang und oft auch viel, viel länger.“

Doch kaum hat man die betonierten Münder passiert und die acht Betontreppen überwunden, eröffnet sich plötzlich ein fast 120 mal 80 Meter großes Wohnzimmer mit grünem Teppichboden und ohne Plafond, mit hölzernen Tribünen, hölzernen Stützen, hölzernen Seitenwänden und ebenso hölzernen Tribünendächern, die zehn Meter weit ins Nichts hinausragen und den insgesamt 5000 Zuschauerinnen und Zuschauern ein Dach über dem Kopf bieten. Die bestehende Westtribüne blieb erhalten und wurde dem neuen Konzept miteinverleibt. Spätestens hier versteht man, was die neunköpfige Wettbewerbsjury unter Vorsitz von Hemma Fasch meinte, als sie im Juryprotokoll die außergewöhnliche Atmosphäre des Projekts hervorhob.

Die tragenden Bauteile wie die 60 mal 26 Zentimeter dicken Stützen und das bis zu 85 Zentimeter hohe, jedoch geschickt kaschierte, superschlank erscheinende Tribünendach bestehen aus industriell vorgefertigten BSH-Leimbindern. Ergänzt wird der Holzbau von Bodenbrettern und abgehängten Lamellen aus Vorarlberger Fichte, direkt aus der Region. Bei der fast fünf Meter hohen Glasfassade im Hintergrund handelt es sich um satinierte Scheiben mit einer speziellen Sonnenschutz-Bedampfung, damit die Lichtemissionen, wenn das Spielfeld von oben mit tausenden Lux ausgeleuchtet wird, zu einem Teil absorbiert und die Bewohner in den angrenzenden Wohnhäusern nicht gestört werden.

Das neue, 15 Millionen Euro teure Reichshofstadion, das der Lustenauer Bürgermeister Patrick Wiedl in politischen Worten als „sportliches Highlight“ und „emotionalen Meilenstein“ bezeichnet, kann aber mehr als nur schön sein. Mit seiner gemütlichen Wohnzimmerhaftigkeit und einem vergleichsweise gut durchmischten Publikum – der Anteil der weiblichen Gäste im Reichshofstadion betrug schon bisher 30 bis 40 Prozent, während er in der Bundesliga bei nur 20 Prozent liegt – rückt es den Fußball weg von Gewalt und Rowdytum zwischen den Fanblöcken hin zu einer familiären Freizeit-Chose mit Kind und Kegel.

Die ganze Stadt als Parkplatz

Vor allem aber ist das Stadion Zeugnis einer selten cleveren Zusammenarbeit zwischen sämtlichen Disziplinen, zwischen Holzbauern und Betonierern, zwischen Architekten und Bauingenieuren, zwischen Stadtplanung, Privatwirtschaft und Verkehrsbetrieben. Der Anteil der Pkw-Stellplätze im Stadionbereich ist auf ein absolutes Minimum reduziert, auf 66 Stück, um genau zu sein, davon 20 Prozent barrierefrei. Der Löwenanteil der Pkw-Anreisenden wird auf den bestehenden Firmenparkplätzen und in den unzähligen Gewerbebetrieben abgefangen.

„Lustenau hat einen hohen Anteil an Firmen und Gewerbeparks“, sagt Architekt Matthias Kastl. „Die dazugehörigen Parkplätze stehen an den Abenden und Wochenenden komplett leer. Also haben wir ein Modell entwickelt, wo die Leute ihr Auto auf den bereits bestehenden Parkplätzen abstellen und dann mittels Shuttle zum Stadion gebracht werden.“ Hinzu kommt, dass direkt neben dem Stadion für die Aktivmobilen rund 700 Fahrrad-Stellplätze errichtet wurden. Besser kann ein Freundschaftsspiel zwischen Sport, Politik und Umweltverträglichkeit nicht angepfiffen werden. Die Besten haben schon gewonnen.

14. Juli 2025 Der Standard

Die Freude am Fragwürdigen

Seit zehn Jahren betreibt der „rebellische Optimist“ Eugene Quinn seine Vienna Ugly Tours. Zeit für ein Spaziergangsgespräch darüber, wie wir Städte lesen, was immer hässlich sein wird und worüber sich heiter streiten lässt.

Die Route rückwärts gehen? Das habe er in zehn Jahren noch nie gemacht, sagt Eugene Quinn. Jene Pointen, die sich in der gewohnten Dramaturgie auf vorher Gesagtes beziehen, müsse er jetzt leider weglassen. Aber heute geht es um einen Rückblick, also passt die Retourkutsche. Der in Wien lebende Engländer mit irischen Wurzeln trägt schwarzes T-Shirt und MA-48-orange Hose. Wie immer, wenn er seine Vienna Ugly Tour leitet, die 2015 erstmals stattfand und deren Name sich von selbst erklärt: in der Stadt der Unesco-zertifizierten Schönheit das Hässliche suchen und finden.

Tour-Endpunkt und heutiger Startpunkt: das Bundesamtsgebäude an der Radetzkystraße, auch bekannt als „Tintenburg“. Ein Monument der Postmoderne mit fragwürdiger Ästhetik. „Die blaugrün gemusterten Platten sind angeblich eine Hommage an Gustav Klimt, aber für mich sehen sie aus, als hätte jemand aus dem Fenster gespieben“, sagt Quinn, dem man keinen Mangel an plakativen Meinungen nachsagen kann. Drinnen wird es auch nicht besser. „Der Eingang ist zu eng, das Haus ist zu hermetisch, es gibt keinen Dialog mit der Außenwelt, und in den Gängen verliert man sofort die Orientierung. Kein Ort zum Wohlfühlen!“

Das derart gescholtene Ministerium war von Anfang an Teil der Vienna Ugly Tour. Die Beamtinnen und Beamten, sagt Quinn, nähmen es gelassen. „Sie haben sich sogar gefreut, dass überhaupt Besucher vorbeikamen.“ Der von Peter Czernin entworfene und 1986 fertiggestellte achteckige Sozialpartnerschafts-Prunkbau gehört zweifellos nicht zu den Top Ten der Wiener Architekturschönheiten. Als er letztes Jahr unter Denkmalschutz gestellt wurde, reagierten viele irritiert. Doch mit der zeitlichen Distanz wandelt sich unser Blick auf das Gebaute, wird sanfter und gnädiger. Was hat sich in zehn Jahren Vienna Ugly geändert? Haben Quinn und seine Tourengeher manche hässlichen Entlein inzwischen lieb gewonnen?

Verschwitzte Unterleibsesoterik

Manche Stationen, sagt Quinn, seien tatsächlich entfallen, etwa der Nordturm des Stephansdoms („sieht aus wie ein abgebrochener Zahn“) oder die Skulpturen vor dem Michaelertrakt der Hofburg („unangenehm aggressiv“), weil die Teilnehmerinnen seiner Tour protestierten. Andere nahmen sich selbst aus dem Spiel, wie die bizarre Fassadenmalerei am „Haus der Zeit“ am Karmelitermarkt, deren Motive aus dem Bereich verschwitzter Unterleibsesoterik nach dem Verkauf des Hauses mit neutralem Beige übertüncht wurden. Wieder andere waren wenig erfreut über die Aufmerksamkeit und drohten mit Klagen. Um ein Hotel an der Ringstraße muss Quinn heute einen Bogen machen.

Wir verlassen das Ministerium also in die entgegengesetzte Richtung. In einer Stadt, die zunehmend vom Overtourism kolonialisiert wird, mag es erstaunen, dass die Mehrzahl der Teilnehmer bei der Vienna Ugly Tour Einheimische sind. Doch genau darum geht es. Das Aus-dem-Haus-Gehen und Hinschauen ist für den leidenschaftlichen Fußgänger Quinn mindestens so wichtig wie das betrachtete Objekt. Damit steht er in der Tradition des Schweizer Spaziergangswissenschafters Lucius Burckhardt und der Pariser Situationisten der 1960er-Jahre, und er ist nicht allein. Eine Renaissance von themenspezifischen Städtetouren jenseits von langweiligem Baedekerwissen-Herunterbeten ist weltweit zu beobachten. Bei der Vienna Walking Week Ende Juli, die von Quinn und seinem Team von Whoosh organisiert wird, gibt es Touren zu Kunst am Bau im Wiener Gemeindebau und zu Wiens Rolle als Welthauptstadt der Spionage. Dort zieht die Route eine logische Linie von der russischen Botschaft zur FPÖ-Zentrale.

Trotz der hohen Einheimischenquote ist Vienna Ugly keine Suderantenrunde für zeternde Wutbürger an der „Gründerzeit gut, Moderne böse“-Frontlinie, sondern eine heitere Angelegenheit. Schließlich bezeichnet sich Quinn als „rebellischer Optimist“. Er will andere Blickwinkel auf das Gewohnte eröffnen und nebenbei ernste Themen verhandeln. Sein Motto: „fun meets politics“.

Schon bei der nächsten Station, dem News-Tower am Schwedenplatz, sind erste Meinungsverschiedenheiten zu vermelden. Für den Rezensenten ist die locker komponierte Collage aus geraden und schiefen Bauteilen einer der besten Bauten von Hans Hollein, da der Architekt hier ausnahmsweise seine Liebe zu barocker Überladenheit zähmte. Nein, sagt Quinn. Für ihn ist der Turm ein Fixpunkt auf der Tabelle der Tristesse. „Es ist störend und viel zu grau. Niemand mag Grau – außer die Wiener Architekten! Wenigstens ist das riesige Display auf dem Dach kaputt, und wir müssen keine Werbung für die Autorevue mehr sehen.“ Wir sind uns einig, dass wir uns nicht einig sein müssen.

Schönheit und Langeweile

Ganz anders beim Collegium Hungaricum in der Hollandstraße. Das ist zwar nicht grau, sondern rot und weiß, aber seine willkürlich verteilten Diagonalen und Stabwerke versuchen hilflos, avantgardistisch zu wirken. Nicht gerade eine Werbung für ungarische Kultur. „Es wirkt alles andere als einladend“, sagt Quinn. „Wenn man daran vorbeigeht, fühlt man sich sehr unsicher – es sieht aus, als ob es gleich auseinanderfällt.“

An dieser Stelle der Tour, sagt er, folge in der Regel ein Exkurs darüber, dass Schönheit auch langweilig sein kann und weniger in Erinnerung bleibt als das Seltsame und Schiefe. Auch Architektinnen und Designer sprechen erfahrungsgemäß lieber über Harmonie und Proportion als über den nicht zu greifenden Begriff Schönheit. Jene, die von der Existenz einer „objektiven Schönheit“ überzeugt sind, bringen meist die Symmetrie ins Spiel. Doch Symmetrie ist so etwas wie das Glutamat der Ästhetik: ein Geschmacksverstärker, aber kein Rezept. Auch der Berliner Dom, zweifellos eines der hässlichsten Bauwerke der Menschheitsgeschichte, ist symmetrisch.

Das Wohnhaus in der Großen Schiffgasse 9 ist es auch, aber deswegen ist es nicht auf der Ugly-Liste. Seine kunterbunte Fassadengrafik erinnert Quinn an eine unbeholfene Kinderzeichnungsversion von Joan Miró und die Modetorheiten der 1980er-Jahre. Schiefe Haarschnitte, Schulterpolster. „Damals sahen auch schöne Menschen hässlich aus!“ Aber ist diese etwas unbeholfene Heiterkeit wirklich hässlich? Die Frage bleibt offen, wir müssen zum Endpunkt der Tour, Pardon, zurück zum Anfang: dem Flakturm im Augarten. „Den finden die meisten sowohl hässlich als auch schön, er lässt sich nicht kategorisieren“, sagt Quinn, verabschiedet sich und begrüßt die Schweizer Touristinnen, die seine Tour gebucht haben. Und sofort geht es dieselbe Strecke retour, in die richtige Richtung.

[ Die Vienna Walking Week 2025 findet von 19. bis 25. Juli statt. ]

21. Juni 2025 Der Standard

Von der Überheblichkeit malerischer Bilder

Der Sommer ist nicht nur Urlaubszeit, sondern auch Hochsaison von Villen, Chalets und luxuriösen Kleinoden in unberührter Natur. Doch was reizt uns bloß so daran, Monumente in die Landschaft zu setzen? Ein innerer Dialog mit Adolf Loos.

Baue nicht malerisch. Überlasse solche Wirkung den Mauern, den Bergen und der Sonne. „Das Wesentliche an diesem Projekt ist die Verschiebung von Horizonten, was den Betrachter in Erstaunen versetzt“, heißt es auf der Website des Südtiroler Büros Network of Architecture, kurz NOA. „Ein Gefühl der Fremdheit, es fühlt sich an wie ein Abstieg ins Erdinnere, bei umgekehrten Polen.“ Mit dem Projekt „Hub of Huts. The Village Upside Down“ mit drei Satteldachhäuschen nach oben und fünf, die kopfüber hängen, hat das Hotel Hubertus in Olang einen neuen Spa-Bereich mit Pool und Sauna dazubekommen – und eine Instagram-Ikone noch dazu. Das Bild ging tausendfach um die Welt.

Achte auf die Formen, in denen der Bauer baut. Denn sie sind Urväterweisheit, geronnene Substanz. „Der Bauherr meinte, wir sollen uns so richtig was trauen und gerne was ganz Verrücktes vorlegen“, erinnert sich Barbara Runggatscher, Partnerin bei NOA. „Und das tun wir gerne, denn wir wollen mit jedem neuen Projekt eine Geschichte erzählen. Das Weiterdenken und Weitererfinden von Traditionen, das Ausreizen von Grenzen ist die DNA von uns Architektinnen, das ist unser Job. Gerade in einer Welt, die voll von jederzeit konsumierbaren Bildern ist, braucht es Wahrzeichen mit Wiedererkennungswert.“

Baue so gut als du kannst. Nicht besser. Überhebe dich nicht. Die Natur zu überbieten, sich mit ihr zu messen, dramatische Sehenswürdigkeiten in die unberührte Landschaft hineinzusetzen oder zumindest auf jene letzten Grundstücksreserven, die auf Fotos und Renderings im gezeigten Blickwinkel unangetastet scheinen, ist zum jüngsten Wettbewerb innerhalb der planenden Zunft geworden. Sehr oft – so wie im Fall des Hotels Hubertus in Südtirol – auf dezidierten Wunsch der Bauherrschaft.

Der Mensch, der sich malerisch kleidet, ist nicht malerisch, sondern ein Hanswurst. Neben dem Steirereck am Pogusch hat das Salzburger Büro Studio Precht unter dem Titel Bert schicke, schindelverkleidete Baumhäuser in den Wald hineingebaut. Im Hotel Krallerhof in Leogang hat der Hamburger Architekt Hadi Teherani ein Wellness-Resort namens Atmosphere errichtet, das sich wie eine schwangere Auster aus der Topografie herauswölbt. Und in Kitzbühel plant der Mailänder Architekt Peter Pichler echt schöne, wenngleich viele Fragen aufwerfende Vertical Chalets, die sich auf Fachwerk-Stümpfen über die Baumwipfel erheben.

Menschenwerk darf nicht mit Gotteswerk in Wettbewerb treten. „Die Bergwelt ist so groß und so mächtig, dass es lächerlich wäre, sich mit welcher Architektur auch immer dagegenzustellen“, sagt Peter Pichler im Gespräch mit dem ΔTANDARD und schlussfolgert: „Man muss sich unterordnen. Doch die richtige Balance zu finden, irgendwo zwischen Anpassung und Neuinterpretation, das ist eine Gratwanderung. Wenn das gelingt, dann gelingt uns auch eine Evolution der Tradition.“

Die Ebene verlangt eine vertikale Baugliederung; das Gebirge eine horizontale. Dass eine nicht überschwängliche Weiterentwicklung der lokalen Bautradition bestens gelingen kann, beweist die von ihm geplante Oberholz-Berghütte in Obereggen in den Dolomiten. Von innen eine hölzerne Kathedrale, die sich Richtung Tal dreischiffig auseinandergabelt und schließlich über die Hangkante hinausschießt, von außen eine großteils unterirdische Struktur, die zwischen Stein und Geröll als flacher, blechverkleideter Dachfirst in Erscheinung tritt.

Fürchte nicht, unmodern gescholten zu werden. Hoch oben auf der Hungerburg wiederum, mit einem imposanten Ausblick auf Innsbruck, haben Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) ein futuristisches Wohnhaus entworfen, das sich in den Hang hineinduckt und mit seinen kantigen, geböschten, steinverkleideten Flächen an eine kalifornische John-Lautner-Villa aus den Siebzigerjahren erinnert. Die Studie im Auftrag eines lokalen Projektentwicklers ist kein Bauen auf der grünen Wiese, sondern ein Ersatzneubau anstelle eines bereits bestehenden Hauses.

Veränderungen der alten Bauweise sind nur dann erlaubt, wenn sie eine Verbesserung bedeuten. „Und wir finden, dass wir mit diesem Projekt die Landschaft nicht zerstören, sondern eigentlich sogar reparieren“, sagt Martin Josst, Partner bei DMAA. „Die Kubatur ist gering, das Haus verschwindet in der Topografie, von der Entfernung aus betrachtet wird es sich unsichtbar in die Vegetation hineinschmiegen.“ Im Internet wartet das Projekt Elysion als „Insel der Seligen“, als „Ort der Glückseligkeit“, wie es auf der Homepage des Developers heißt, schon seit 2021 auf finanziell potente Bau- und Wohnwillige.

Die Wahrheit, und sei sie Hunderte von Jahren alt, hat mit uns mehr innere Zusammenhänge als die Lüge, die neben uns schreitet. „Im alpinen Raum hat sich über lange Zeit eine Typologie spezifischer Bergbauten entwickelt, die heute unter neuen Vorzeichen fortgeschrieben wird“, sagt Anita Aigner, Assistenzprofessorin für Gestaltung an der TU Wien. „Standen früher Erschließung und alpine Infrastruktur im Vordergrund, so geht es heute um Exklusivität, um das Privileg am unverbauten Ausblick, um die Kapitalisierung der wenigen noch unverbauten Landreserven.“

Sei wahr! Die Natur hält es nur mit der Wahrheit. „Interessant bei alledem ist, wie das alpine Bauen heute an die fotografische Praxis geknüpft ist“, so Aigner. „Nicht mehr die Landschaft, sondern die aufmerksamkeitsheischende Architektur selbst wird zum Motiv. Auch das Naming ist wichtiger denn je. Global Luxury Language soll den Wunsch nach Veraußeralltäglichung befeuern, frei nach Max Weber, man soll sich nach dem Himmel, nach dem Elysium, nach der Insel der Seligen sehnen.“ Die 2024 errichtete Villa Cloud P am Faaker See, namentlich geadelt nach den Initialen von dessen Erbauer Peter Pichler, wartet auf Willhaben.at immer noch auf Käufer. Drei Wohnungen sind noch zu haben, die billigste für 1,97 Millionen Euro, die größte für knapp 4,4 Millionen Euro.

[ Die Zitate von Adolf Loos stammen aus dem Text „Regeln für den, der in den Bergen baut“, erschienen 1913. ]

7. Juni 2025 Der Standard

Wie ein Stapel aus 112 Fotos

Vor wenigen Tagen wurde das Photography Seoul Museum of Art eröffnet. Die skulpturale Black Box des Wiener Architekten Mladen Jadrić steht am äußersten Stadtrand. Man fragt sich, warum.

Ein Schuhmacher am Straßenrand, Bauarbeiter auf einer filigranen Stahlkonstruktion balancierend, ein Fischhändler, der in den frühen, noch eiskalten Morgenstunden seine Ware vom Truck ablädt. Wer diese ikonografischen Fotos von Lee Hyungrok, Alltagsszenen in einem noch jungen Land kurz nach dem Koreakrieg, als Originalabzug zu Gesicht bekommen möchte, muss am Hauptbahnhof in die Subway Nummer 4 einsteigen und 15 Stationen lang Richtung Nordosten fahren. In der Schlafstadt Dobong-gu, fernab vom Zentrum, nur drei Kilometer von der Stadtgrenze entfernt, ist Hyungroks Œuvre derzeit in der Ausstellung Breath of the Streets. Beginnings of Korean Art Photography zu sehen.

„Fotografie spielt in Südkorea eine wichtige Rolle“, sagt Jung Hee Han, Direktorin im neuen, erst kürzlich eröffneten Photography Seoul Museum of Art, auch besser bekannt als Photo SeMA, „sowohl im persönlichen, künstlerischen Ausdruck als auch in der Dokumentation des Alltags. Zudem ist es eines der demokratischsten Medien, das jedem die Teilnahme ermöglicht. In den Stammhäusern des SeMA gab es bislang nur wenig Platz dafür. Nun haben wir die Möglichkeit und die räumlichen Gegebenheiten, eine fundierte fotografische Sammlung aufzubauen – von der Geschichte bis zur Gegenwart.“

Verdrehter Würfel

Neu ist nicht nur die Sammlung, sondern auch das dafür errichtete Haus. 2017 wurde für den Neubau der SeMA-Dependance ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. Aus insgesamt 73 Einreichungen ging der Wiener Architekt Mladen Jadrić in Kooperation mit dem südkoreanischen Büro 1990uao als Sieger hervor – und zwar mit einem verdrehten Würfel, mit einer Stadtskulptur aus horizontalen Lamellen, die den Eindruck erweckt, als hätte ein Riese einen Stapel Diapositiva, eingeklemmt in schwarze Plastikrahmen, 112 Stück an der Zahl, neben die Straße gestellt und im Moment des Loslassens zwischen Daumen und Zeigefinger leicht verdreht.

„Fotos, Prints, Polaroids, Positive oder auch Negative sind etwas Flaches, Flächiges, Zweidimensionales“, sagt Jadrić. „Das Sammeln und Archivieren, das ja zu von Natur aus zu den zentralen Tätigkeiten eines Museums gehört, ist immer auch mit einer höhenmäßigen Addition, mit Schlichten und Stapeln verbunden.“ Hinter der poetischen Metapher verbirgt sich eine Lamellenfassade aus recyceltem Faserbeton, eine standardisierte Stangenware, sechs Zentimeter in der Stärke, die nicht zuletzt die Aufgabe hat, sich selbst zu verschatten und den Hitzeeintrag ins Gebäude auf ein Minimum zu reduzieren.

Geplant war außerdem, die Verdrehung der unteren Höhenschichtlinien dazu zu nutzen, dem Platz eine Tribüne mit teils verschatteten Sitzstufen zu geben. „Die Grundstücksausnutzung ist enorm“, so Jadrić. „Mit der Schaffung einer Stufenlandschaft wollten wir den ohnehin geringen öffentlichen Raum auf diese Weise maximieren.“ Obwohl die geplante Platzerweiterung ein ausschlaggebender Faktor für den Wettbewerbssieg war, musste aus Sicherheitsgründen am Ende eine Absperrung vorgesehen werden. Nicht nur die österreichischen, auch die südkoreanischen Behörden, so scheint es, sind Meister der Angst, Haftung und Bürokratie.

Entmaterialisierung

Kaum hat man den Eingangsbereich – der mit seinen Lüftungslamellen und matten Milchglasscheiben leider etwas Rückseitiges, Hinterhofartiges hat, ein ziemliches Autsch im ganzen Projekt – hinter sich gelassen, betritt man eine monochromatisch dunkelgrau ausgemalte Höhle. Kein Fenster weit und breit, lediglich über die Schiebetür gelangt ein einziger, schmaler Tageslichtstrahl in den Innenraum. Der Architekt selbst spricht von Entmaterialisierung, von einer Camera obscura, die im LED-Scheinwerferkegel die darin ausgestellten Fotos umso besser zur Geltung bringt. „Alles, bloß keine weitere generische, hunderttausendste White Box!“

Die unteren drei Etagen dienen für Ausstellungen und Veranstaltungen, im dritten Obergeschoß sind Büros, Workshop-Räume und eine kleine Bibliothek samt eingeschnittenem Atrium angesiedelt. Beheizt und gekühlt wird das Photo SeMA mit 40 geothermischen Tiefbohrungen und einer Wärmepumpe, die mit der auf dem Dach installierten PV-Anlage betrieben wird. So kann das Haus bis zu 85 Prozent seines Gesamtenergiebedarfs abdecken – in einem Land, in dem die Energiedebatte noch in den Kinderschuhen steckt, eine beachtliche Geste. Die Baukosten belaufen sich auf 30,8 Milliarden Won, rund 21,2 Millionen Euro.

Wichtiger Impuls

„Es ist spannend, dass das Photo SeMA der bereits vierte südkoreanische Kulturbau aus österreichischer Hand ist“, sagt der in Seoul stationierte österreichische Botschafter Wolfgang Angerholzer am Tag der Eröffnung – und verweist auf das Busan Cinema Center von Coop Himmelb(l)au (2012), den One Ocean Pavilion von Soma Architecture in Yeosu (2012) und das Hyundai Motor Studio von DMAA Delugan Meissl Associated Architects in Hoyang (2017). „Und auch dieses Haus ist mehr als nur ein Gebäude. Es ist ein Katalysator für Stadt- und Quartierentwicklung, der den Bezirk Dobong-gu nachhaltig stärken wird.“

In Zeiten von 15-Minuten-Stadt, Dezentralisierung und Bevölkerungsexplosion ist die Positionierung eines öffentlichen Museums am Stadtrand ein wichtiger Impuls. Paris, Berlin, London, Rotterdam oder New York haben diese Aufgabe bereits begriffen und sind dabei, ihre Städte mit politischen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Magneten zu dezentralisieren. Ein Schritt in die richtige Richtung. Der Schuhmacher von Lee Hyungrok könnte auch eine Einladung an die österreichische Stadtpolitik sein.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Seoul erfolgte auf Einladung des Photo SeMA.

10. Mai 2025 Der Standard

Wenn die Welt am seidenen Faden hängt

Am Freitag wurde die 19. Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Konstruktive Beiträge halten sich in Grenzen. Die meisten suchen Zuflucht im Gestern oder im dystopischen Übermorgen, dass es leider nur so wehtut.

Sie erinnern an Wolken, an Spinnennetze, an Omamas Esstischüberwurf. 140 maschinell und zum Teil sogar händisch, mit mütterlicher Hilfe gestrickte Stoffteile, 400 Quadratmeter in Summe, hängen in Bäuchen und Parabeln von der Decke, man muss unweigerlich hingreifen, hineinkneifen, das luftig Leichte mit sanften Griffen durchkneten – bis man plötzlich ein leises Summern und Rattern vernimmt. An den beiden Längsseiten des Pavillons sind 140 Holzspindeln montiert, diese wiederum sind an die auf dem Dach installierte PV-Anlage angeschlossen. Wenn die Sonne scheint, drehen sich die Spindeln und wickeln die weißen, beigen, cremefarbenen Fäden Millimeter für Millimeter auf.

„Am Ende der Biennale“, sagt Architektin Jelena Mitrović, die das Projekt gemeinsam mit Stevan Martinović und Slobodan Jović kuratiert hat, „wird sich die Installation komplett in Luft aufgelöst haben. Dann wird das alles hier Geschichte sein.“ Ob sie das traurig macht, perdu die ganze Schaffenskraft? „Nein, ganz im Gegenteil. Wir bauen und kreieren eh schon viel zu viel, die Welt ist voll davon, unser ökologischer Fußabdruck eine einzige Katastrophe. Jetzt geht es darum, Räume und Gedankenräume wieder zu dekonstruieren und zu demontieren. Wo etwas verschwindet, gibt es Platz für neue Perspektiven. Das müssen wir wohl erst noch lernen.“

Unraveling: New Spaces, so der Titel des serbischen Pavillons am Ende der Giardini, ist wahrscheinlich einer der schönsten, einer der stärksten Beiträge auf der diesjährigen 19. Architektur-Biennale, die gestern, Freitag, offiziell eröffnet wurde. Und er bringt – mit nichts als Stoff – auf den Punkt, wie sehr sich die Disziplin Architektur heuer negiert, verneint, in ihrem gesamten Wesen zutiefst infrage stellt. Und wie schwer sie sich mit dem Generalmotto des diesjährigen Generalkurators Carlo Ratti tut. Denn „Intelligens. Natural. Artificial. Collective“ ist ein ziemlich großes Ding, das in Bausch und Bogen so ziemlich alles einschließt und so ziemlich nichts auslässt.

„Es geht um die Zukunft“, sagt Ratti, der die Biennale wissenschaftlicher haben wollte denn je, im Gespräch mit dem ΔTANDARD, „und darum, wie wir mithilfe von natürlicher, künstlicher und kollektiver Intelligenz zu einer guten, nachhaltigen Lösung beitragen können. Architektur ist eben nicht nur das Erschaffen von Umwelten, sondern auch das Gegenteil davon, das Innehalten, Nachdenken und Umlernen bisheriger Traditionen.“ Ob das wirklich gelingen kann? „Wenn, dann hier auf dieser Biennale, die ich als eine Art vielzelligen Superorganismus begreife. Gemeinsam können wir viel in Bewegung setzen.“

Steinzeitliche Ästhetik

Na ja. Dafür sind die einzelnen Beiträge – ob das nun die Länderpavillons in den Giardini oder die Forschungsprojekte im Arsenale sind – zu polarisierend unterwegs. Die einen marschieren schnurstracks in die Vergangenheit zurück und präsentieren in steinzeitlicher Ästhetik neu interpretierte Archen aus Holz, Lehm und Schilf. Darunter etwa auch Peru, die Ukraine, Marokko, Australien, Saudi-Arabien oder – besonders perfide – Großbritannien, das sich unter dem Titel GBR: Geology of Britannic Repair seine ehemalige Kolonie Kenia wieder einverleibt und den Pavillon in einen Vorhang aus tausenden Kuhdung-Kugeln hüllt. Die Idee der kolonialen Reparatur geht nicht wirklich auf.

Die anderen wiederum flüchten sich ins Übermorgen und setzen alles auf Robotik, künstliche Intelligenz, Nuklearreaktoren „Designed by Pininfarina“ (sic) und die offenbar unaufhaltsame 3D-Bedruckung der Welt, ob das nun mit Lehm, Bioplastik oder Cyanobakterien ist. Bei all dieser naturwissenschaftlichen Komplexität, mit der man in Carlo Rattis vollgestopfter Ausstellung im Arsenale konfrontiert wird, ist es umso erstaunlicher, was man szenografisch und typografisch alles falsch machen kann. Die Texte sind so lang, so dicht, so klein, so kontrastlos und so tief über dem Boden hängend, dass es sich empfiehlt, Lesebrille, Taschenlampe und Knieschoner mitzubringen.

Urbane Überhitzung

Stark thematisiert wird heuer auch die Klimakrise in Verbindung mit urbaner Überhitzung. Bahrain stellt unter dem Titel Heatwave eine Installation vor, die im Stadtraum und auf Baustellen mithilfe von geothermischen Bohrungen und abgehängten Gitterrosten einen gekühlten, wenn auch etwas dystopischen Schattenraum schafft. Deutschland greift mit seinem Stresstest wie immer in die Pathoskiste und inszeniert – durchaus schweißtreibend überzeugend – eine überhitzte Urban-Heat-Hölle sowie ein mit Bäumen gekühltes Stadtparadies. Und das Büro Transsolar simuliert im Arsenale mit Wasserbecken und der Abluft von dutzenden Klimaanlagen die venezianische Sommertemperatur – 42 Grad Celsius – anno 2100. Blöd nur, dass aufgrund der enormen Luftfeuchtigkeit schon am ersten Tag der Biennale der Putz von den denkmalgeschützten Säulen abgeblättert und ins Wasser geplumpst ist.

Noch beängstigender sind die Beiträge von Polen und Lettland. Polen baut unter dem Titel Lares and Penates. On Building a Sense of Security in Architecture ein zynisches Emergency-Labor mit häuslichen Schutzmaßnahmen wie etwa Rauchmeldern, Herrgottswinkeln und als Marienstatue getarnten Feuerlöschern auf – vor dem Hintergrund, dass ab 1. Jänner 2026 alle Neubauten in Polen aufgrund der globalpolitischen Situation mit Luftschutzräumen ausgestattet werden müssen.

Neue Aufgaben meistern

Und Lettland analysiert in Landscape of Defence seine 450 Kilometer lange Nato-Außengrenze zu Russland und Belarus. Oder, wie Kuratorin Liene Jākobsone dies ausdrückt: „Die Welt ist nun mal leider, wie sie ist, aber auch politische und militärische Grenzen können gebaut und gestaltet werden, anstatt sie nur mit Stacheldraht, Panzerkreuzen und Wachtürmen zu verstellen und tausenden Menschen, die hier wohnen, das Leben kaputtzumachen.“

In einer Welt, die auf der Kippe steht, muss Architektur lernen, neue Aufgaben zu meistern. Vielleicht nicht nur mit 3D-Druckern, designten Atomreaktoren und ach so intelligenten Robotern, wie Carlo Ratti meint, sondern auch mit Demut, Hoffnung und Empathie.

Bis 23. November 2025

8. Mai 2025 Der Standard

Eine Agentur für ein besseres Leben

Am Freitag wird die Architektur-Biennale in Venedig eröffnet. Österreich nutzt den Event, um die Wohnpolitik von Wien und Rom miteinander zu vergleichen.

Eine Rakete aus Holz und Metall, mit offenen Waschmaschinen-Bullaugen als Fenstern, als Spitze ein rotierender Kaminaufsatz, ein sogenannter Fumaiolo. Das 2012 gebaute Fernverkehrsmittel in der Via Prenestina 913 am östlichen Stadtrand von Rom ist ein zynisches Symbol, eine irrwitzige Einladung an all jene, die sich aufgrund der zunehmenden Wohnungsnot und der dramatisch davongaloppierenden Grundstückskosten auf der Erde keine Wohnung mehr leisten können. Es gibt Lösungen anderswo.

Die Kunstinstallation in der 1978 stillgelegten Wurstfabrik Fiorucci ist kein Zufall. 2003 wurde das Gelände verkauft, mit der Absicht, hier einen lukrativen Neubau zu realisieren. Nachdem die Planungen des Investors Webuild Group jedoch jahrelang auf eine Baugenehmigung warten mussten, wurde die ehemalige Fabrik 2009 von Menschen in prekären Lebenssituationen besetzt – darunter Roma, Sinti sowie Migranten aus dem Sudan, dem Maghreb und Lateinamerika.

Das Bottom-up-Wohnprojekt „Metropoliz“, das heute rund 200 Bewohnern und Aktivistinnen ein Dach über dem Kopf bietet, ist eines von vielen Best-Practice-Beispielen, die man im Österreich-Pavillon in den Gardini studieren kann.

Enorme Wohnungsnot

„Die Wohnsituation in Rom ist mit jener in Wien kaum vergleichbar“, sagt Michael Obrist, der den Pavillon gemeinsam mit Sabine Pollak und Lorenzo Romito kuratiert hat. „Hier eine enorme Wohnungsnot, die die Stadt kaum im Griff hat und die dazu geführt hat, dass sich nun Interessengruppen formieren, um leerstehende Häuser zu besetzen und in Eigenregie Wohnrechte zu erkämpfen, dort eine Stadt, die mit 220.000 verwalteten Mietwohnungen der größte Wohnungsgeber Europas ist und die weltweit als leistbares Idealmodell zitiert wird. Und doch haben wir es gewagt, Wien und Rom miteinander zu vergleichen.“

Agency for a Better Living nennt sich der diesjährige Beitrag auf der Architektur-Biennale in Venedig, die am Freitag ihre Pforten öffnet. Zur offiziellen Eröffnung des Österreich-Pavillons werden neben dem Kuratorenteam auch der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig sowie Wohn-, Kunst- und Kulturminister Andreas Babler anreisen. Und beide dürften sich darüber freuen, dass im direkten Vergleich Wien mit seiner strukturellen Top-down-Planung und seinen günstigen Gemeinde- und geförderten Bauträgerwohnungen die Nase vorn hat.

„Das stimmt so nicht unbedingt“, meint Sabine Pollak. „Denn obwohl die Wiener Wohnpolitik vieles richtig macht, gibt es auch hier viele Probleme, die bis heute nicht gelöst sind. Die Anforderungen an das Bauen sind enorm, die Prozesse dauern ewig lange, viele Innovationen werden verhindert. Gute Architektur ist ein Kampf geworden. In diesen Punkten kann Wien durchaus von Rom lernen. Ganz abgesehen davon, dass Wien auch etwas mehr römische Zivilcourage vertragen könnte.“

Filme und Ausstellungen

Der österreichische Pavillon mit seinen zwei Filmen und zwei getrennten Ausstellungswelten zählt ohne jeden Zweifel zu den substanzvollsten Länderpavillons in der Lagunenstadt. Und zu den wenigen Beiträgen, die sich ernsthaft mit Stadt, Architektur und Lebensräumen beschäftigen.

Und doch handelt es sich – ein österreichisches Dauerphänomen, mit Ausnahme des aktivistischen Beitrags 2023 von Hermann Czech und dem mittlerweile aufgelösten Architekturkollektiv AKT – um eine klassisch formatierte Ausstellung mit Fotos, Grafiken und Erläuterungstexten, für die man auf dieser venezianischen Tour de Force mit Steinchen in den Sportschuhen viel Zeit und Energie mitbringen muss. Etwas weniger Pluralismus und etwas mehr sinnliche Unmittelbarkeit hätten einem so nahen, intimen Thema wie Wohnen sicher gutgetan.

Viele andere Länder haben sich vom sperrigen und viel zu umfassenden Generalmotto des diesjährigen Biennale-Kurators Carlo Ratti – „Intelligens. Natural. Artificial. Collective“ – allzu sehr in die Versuchung und Verwirrung führen lassen. Die einen setzen auf die Karte „Back to the roots“ und verrennen sich in vorzeitlich anmutenden Holz- und Lehmskulpturen, die aussehen, als wären hier eben noch die Ewoks am Werk gewesen, die anderen sehen in neuen Technologien wie 3D-Druck, Robotik und Künstlicher Intelligenz die Lösung aller klimatischen und globalpolitischen Probleme. Mit Architektur hat das alles hier nicht viel zu tun. Die unfassbare Polarität dieser Biennale ist wie ein Abbild der Welt, in der wir gerade leben.

Klima und Städte

Deutschland, Belgien, Kosovo, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate beschäftigen sich mit den steigenden Temperaturen in unseren Städten und legen mal konstruktive, mal eher beängstigende Lösungen zum urbanen Überleben und zur nationalen Nahrungsmittelsicherheit vor.

Polen und Lettland präsentieren sich als Emergency-Labore und stellen sich die Frage, welche Auswirkungen drohende Kriege auf die gebaute Umwelt haben.

Und die USA analysieren in ihrem Beitrag Porch. An Architecture of Generosity in einem Spagat aus Zynismus und politischer Unterwerfung die gute, alte Veranda als bautypologisches Element und zelebrieren ihr Willkommenskultur. So als gäbe es die Trump’sche Gegenwart gar nicht.

26. April 2025 Der Standard

Die Frauen von Westafrika

In Togo, Ghana, Benin, Nigeria und im Senegal sind viele Baudenkmäler der Moderne dem Verfall preisgegeben. Eine Gruppe von Architektinnen hat sich nun zum Ziel gesetzt, die Bauten zu dokumentieren und den Verlust zu stoppen.

Die Farbe abgeblättert, die Fenster rausgerissen, die Zimmereinrichtung ausgehöhlt und längst verscherbelt. Wo sich einst, in den Siebzigern und Achtzigern und damit in der Hochblüte des Phosphathandels, unter der fast im Zenit stehenden Tropensonne Promis, Politiker und Flugbegleiterinnen von Sabena, Air France und Air Afrique am Pool tummelten, mit guter Laune und Schirmchen-Cocktails in der Hand, klafft heute ein ausgetrocknetes Betonloch im Boden.

Aus einem der halbovalen Fenster in der Fassade, umgeben von bunten Mosaiken mit Wölkchen und Pfeilen, ein Summen und Surren: Plötzlich schießt eine Drohne aus dem menschenleeren Haus. Der Pilot, hoch konzentriert, steht vor dem Hotel, das Steuerungsmodul fest im Griff, die Schweißperlen auf der Stirn, bitte nicht stören, nicht jetzt, hinter ihm die Auftraggeberin, eine junge Architektin und Dokumentaristin aus New York, die sich mit ihrem Büro Limbo Accra einer ganz besonderen Form von Architekturarbeit verschrieben hat.

„Das Hôtel de la Paix in der togolesischen Hauptstadt Lomé“, sagt Dominique Petit-Frère, „ist eines der tollsten Baudenkmäler der westafrikanischen Moderne. Schau dir nur mal diese Kontur, diese Details, diesen Fantasiereichtum an!“ Seitdem der Hotelbetrieb 2005 eingestellt wurde, verfällt das Gebäude zusehends. Bis heute gibt es keine umfassende Dokumentation, die das Haus korrekt, repräsentativ und aussagekräftig einfängt. „Und wer weiß, ob das Friedenshotel nicht eines Tages abgerissen wird. Also habe ich mich entschieden, zu dokumentieren, was noch da ist.“

Symbol für Unabhängigkeit

Errichtet wurde das Hôtel de la Paix in den Jahren 1972 bis 1974 nach Plänen des französischen Architekten Daniel Chenut, einem Wegbegleiter Le Corbusiers. Neben Projekten in seiner Heimat Bourgogne widmete er sich vor allem der tropischen Architektur Westafrikas, und hier vor allem dem Aufbau der neuen unabhängigen Republiken Niger, Benin, Togo und Burkina Faso. Das von ihm geplante Hôtel de la Paix mit 216 Zimmern, 16 Bungalows, Restaurant, Nachtclub, Festsaal, Sonnendeck und unverwechselbarer expressionistischer Mosaikfassade gilt bis heute als Chenuts Schlüsselbauwerk – und ist nicht zuletzt ein Symbol für die aufstrebende politische Unabhängigkeit Togos nach 1960.

„Doch ich mache das nicht aus Nostalgiegründen“, sagt Petit-Frère, „sondern eher, weil ich eine Art Hoffnung verspüre, dass ich als Vertreterin einer jungen Generation mit neuen Technologien einen sachlichen Blick auf die gebaute Materie werfen und auf diese Weise einen Beitrag zur Pflege und Dokumentation leisten kann.“ Die Daten des Drohnenflugs werden, sobald sie bereinigt und in verwertbaren 3D-Modellen aufbereitet sind, online als Open-Access-Daten zur Verfügung gestellt.

Limbo-Land

Und Petit-Frère ist bei weitem nicht die einzige Architektin, Stadtplanerin, Historikerin, Forscherin, Kuratorin, die sich am 3500 Kilometer langen Küstenstreifen zwischen dem Senegal und Nigeria, in diesem zwölf Staaten umfassenden Limbo-Land fehlender Gelder und fehlender politischer Entscheidungen, der Care-Arbeit verschrieben hat. Ein ganzes Dutzend an Initiatorinnen, allesamt Frauen wohlgemerkt, ist hier bereits zugange und nimmt den baulichen Bestand mit Drohnen, Kameras und Laserscannern, mittels Kunst, Fotografie, Interventionen, Rauminstallationen und interdisziplinären Konferenzen unter die Lupe.

Mit dabei Fabiola Büchele und Jeanne Autran-Edorh, die eine Kuratorin aus Vorarlberg, die andere Architektin mit französisch-togolesischen Wurzeln. Früher waren die beiden im Büro des Pritzker-Preisträgers Diébédo Francis Kéré tätig. Mit ihrem 2023 gegründeten Studio Neida mit Sitz in Berlin und Lomé bemühen sie sich nun darum, die westafrikanische Architektur per se und die zunehmende Care- und Dokumentationsarbeit der hier involvierten Frauen zu dokumentieren – ob das nun Sonia Lawson, Nana Biamah-Ofosu, Olufemi Hinson Yovo, Nzinga Biegueng Mboup oder die New Yorker Kuratorin Mallory Cohen ist, die gerade an einer umfassenden Ausstellung über Westafrika arbeitet, die 2026 im MoMA zu sehen sein wird.

„Als ich zwölf Jahre alt war, sind meine Eltern berufsbedingt nach Uganda gezogen“, erzählt Büchele, die später auch in Äthiopien und Tunesien gelebt hat. „Die Ignoranz und strukturelle Diskriminierung Afrikas aus europäischer Perspektive heraus habe ich also schon als Kind beobachtet, und der Umgang mit den wirklich vielfältigen Kulturen am afrikanischen Kontinent hat sich im Wesentlichen bis heute nicht verändert. Der Postkolonialismus ist nach wie vor vorherrschend.“

Umso wichtiger sei es, so Büchele, die Kulturarbeit dieser Länder sichtbar zu machen, die stereotypen Narrative abzulegen und dabei zu helfen, dass die gebauten Schätze aus den 1970er- und 1980er-Jahren unter den Zahnrädern der kapitalistischen Immobilienwirtschaft und der chinesischen Baukonzerne nicht irgendwann abgerissen werden. Im Rahmen der dreitägigen Konferenz Rencontres Architecturales Africaines de Lomé, die kürzlich im Palais de Lomé stattfand, wurden die einzelnen SOS-Maßnahmen, die in der Regel aus eigenen Mitteln, selten nur mit Förderungen und Kunststipendien finanziert werden, erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt.

Zerstörung eindämmen

Olufemi Hinson Yovo beispielsweise, Architektin und Unidozentin mit Büros in Cotonou, Abidjan und Paris, dokumentiert auf ihrem Instagram-Account @Cotonou.Architecture verschwindende (und bereits verschwundene) Baudenkmäler und engagiert sich dafür, die Zerstörung einzudämmen. Ihre Arbeit bezeichnet sie als Archiving the Loss. Und die britisch-ghanaische Architekturwissenschafterin Nana Biamah-Ofosu beschäftigt sich in ihrem Londoner Büro YAA Projects mit der Unabhängigkeit der ehemaligen europäischen Kolonien in den Jahren zwischen 1957 und 1961. Ihre Arbeit war bereits im Victoria & Albert Museum in London zu sehen, ganz neu ist ihr Dokumentarfilm Tropical Modernism. Architecture and Power in West Africa.

Das Vergessen findet nun endlich Erinnerung: Auf der kommenden Architektur-Biennale in Venedig, die in Kürze eröffnet wird, präsentiert Togo erstmals einen eigenen Länderpavillon, kuratiert von Sonia Lawson, Fabiola Büchele und Jeanne Autran-Edorh. Denn: „Das bauliche Erbe – mal genial, mal exzentrisch – ist ein Leitfaden für künftige, kontext- und klimaverträgliche Ansätze. Das Kaputtmachen muss gestoppt werden.“

Compliance-Hinweis: Der Autor hat die Architekturkonferenz in Lomé im Rahmen einer Pressereise besucht.

12. April 2025 Der Standard

„Jedes Gesicht ist Architektur“

Der Chicagoer Künstler Chris Ware gilt als einer der einflussreichsten Comic-Zeichner der Gegenwart. Das CCCB in Barcelona widmet ihm nun eine riesige Ausstellung. Ein Gespräch über Charlie Brown, Mies van der Rohe und Häuser mit Sprechblasen.

Er hat die Cover des Magazins The New Yorker gestaltet. Seine Figuren wie etwa Rusty Brown, Jimmy Corrigan, Quimby the Mouse oder die Building Stories, in denen Gebäude zum Leben erwachen und ihre Erinnerungen in Sprech- und Denkblasen anschaulich gemacht werden, wurden bereits vielfach ausgezeichnet. Vor wenigen Tagen hat seine europäische Wanderausstellung – nach Paris, Basel, Leipzig, Haarlem und Pordenone – die sechste und letzte Station erreicht: Mit Chris Ware. Dibuixar és pensar („Zeichnen ist Denken“), kuratiert von Jordi Costa, macht das Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) nun erstmals seinen historischen Keller zugänglich – und offenbart darin riesige Comic-Collagen und kleine, skulpturale Schätze.

STANDARD: Ihren Eintritt in die Welt der Comics, haben Sie einmal im Interview gesagt, verdanken Sie Charlie Brown. Warum ausgerechnet ihm?

Ware: Charlie Brown ist die allererste Figur in der Geschichte des Comics, die so etwas wie Empathie mitbringt – mit Traurigkeit und Nachdenklichkeit, stets am Grübeln über den Sinn des Lebens. In einer Folge, ich war damals noch ein Kind, erzählt Charlie Brown, dass er noch nie eine Valentinskarte bekommen hat. Also habe ich mich hingesetzt, eine Valentinskarte geschrieben und sie an den Verlag geschickt.

STANDARD: Sind Sie auch ein Charlie Brown? Für Ihre Fans sind Sie eher Superman!

Ware: Das schmeichelt mir sehr, danke! Aber ich war Außenseiter in der Schule, und das bin ich bis heute. Ich kann mich mit Charlie Brown sehr gut identifizieren.

STANDARD: In der Ausstellung im CCCB sieht man, dass die Architektur schon in Ihren frühen Arbeiten einen großen Stellenwert einnimmt. Raum und Hintergrund werden mit der gleichen Liebe behandelt wie die Figuren selbst.

Ware: Ein Leben ohne Raum ist undenkbar. Sobald wir als Baby damit anfangen, unsere Welt zu erfassen, besteht sie aus einer x-, y- und z-Achse. Bis zum Tod sind wir permanent von Architektur umgeben. Ich kann gar nicht anders, als den Raum mitzuzeichnen.

STANDARD: Mit wenigen Strichen schaffen Sie es, die Essenz eines Chrysler Building oder eines Wrigley Building einzufangen. Woher nehmen Sie Ihre Expertise?

Ware: Als Kind wollte ich immer Architekt werden. Und nun lebe ich seit fast schon 40 Jahren in Oak Park, Chicago, und bin umgeben von Genies wie Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright, Bertrand Goldberg oder Ludwig Mies van der Rohe.

STANDARD: Sogar Ihre Figuren haben etwas Konstruiertes und erinnern an Bauhaus und Postmoderne!

Ware: Ein einzelnes Comic-Bild, muss man wissen, ist keine Zeichnung, die nach den Prinzipien eines singulären Kunstwerks funktioniert, sondern eher eine Art Hieroglyphe. Figur, Körpersprache und Gesichtsausdruck sind so etwas wie konstruierte Architektur – damit man sie wie eine Schrift erfassen und schnell zum nächsten Bild weiterlesen kann.

STANDARD: Mit den „Buildings Stories“ erwachen Ihre Gebäude nun selbst zum Leben und fangen an, mit Sprech- und Denkblasen mit uns zu kommunizieren.

Ware: Mein Freund Tim Samuelson, seines Zeichens Kulturhistoriker, sagt immer: „Die Seele eines Hauses fängt am Türknauf an.“ Hier findet der erste physische Kontakt statt, hier macht sich die Geschichte von hunderten und abertausenden Händen manifest. Gute Architekten verstehen es, diesen Erstkontakt mit Liebe zu gestalten. Seitdem glaube ich, dass diese Häuser viel zu erzählen haben.

STANDARD: Was erzählen sie uns?

Ware: Sie erzählen, wer sie gebaut und wer in ihnen schon mal gewohnt hat, wer darin geliebt, geweint, geschrien, gestritten und gefeiert hat und wie die Frau im dritten Stock als alleinstehende Mutter ihr schwieriges Leben managt, wie sie kämpft und flucht und dennoch nicht verzweifelt.

STANDARD: Es fällt auf, dass in Ihren Comics nur ältere Häuser nachdenklich und redselig sind. Die Moderne und die Gegenwart schweigen. Warum?

Ware: Die schönste und reichste Zeit, was Architektur betrifft, war für mich zwischen 1895 und 1915. In dieser Zeit sind Bauwerke von einer unfassbaren Schönheit entstanden. Und ja, diesen Häusern gebe ich am liebsten eine Stimme.

STANDARD: 2004 haben Sie gemeinsam mit Tim Samuelson einen Film gemacht. In „Lost Buildings“ geht es um die Zerstörung von historischen Bauten, die Platz machen für ein Hochhaus von Mies van der Rohe.

Ware: Das ist ein autobiografischer Comic-Film, in dem der Abbruch von ein paar wirklich schönen Bauwerken dokumentiert wird – ob das nun das Old Federal Building, die Chicago Stock Exchange oder das Kaufhaus Rothschild & Brothers ist. Und Tim, Jahrgang 1951, der damals an die zehn Jahre alt gewesen sein muss, offenbart im Film seine Gefühle und Beobachtungen.

STANDARD: In einer Szene sieht man, wie der kleine Tim in den Gelben Seiten das Büro von Mies van der Rohe ausfindig macht und den Meister höchstpersönlich aufsucht.

Ware: Eine wahre Begebenheit! Tim ist damals direkt in Mies van der Rohes Büro hineinspaziert und hat ihm gesagt, er wolle nicht, dass das Old Federal Building abgerissen werde, weil das so ein schönes Haus sei.

STANDARD: Was hat Mies van der Rohe darauf geantwortet?

Ware: „Lieber Junge, das ist der Lauf der Dinge. Und ich hoffe, dass du eines Tages auf das neue Gebäude schauen wirst und darin die gleiche Art von Schönheit entdecken wirst, der du heute nachtrauerst.“

STANDARD: Und? Hat Tim die Schönheit wiedergefunden?

Ware: Nein, ich fürchte nicht wirklich.

STANDARD: Und Sie, der Zeichner?

Ware: Ach, was soll ich Ihnen sagen! Ich tue mir schwer mit der Architektur ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Vom kulturellen Untergang zeitgenössischen Bauens traue ich mich gar nicht erst zu sprechen. Natürlich gibt es tolle Architekten wie Rem Koolhaas, Renzo Piano oder von mir aus auch Santiago Calatrava, die es verstehen, Schönheit zu erschaffen. Aber die 99 Prozent des Gebauten, die seelenlos in der Gegend herumstehen, die machen mich nur traurig und aggressiv.

STANDARD: Findet man diese 99-Prozent-Gebäude in Ihren Comics?

Ware: Nein.

STANDARD: Wenn dem so wäre, was würden sich die Neubauten denken?

Ware: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie angesichts ihrer mangelnden Empathie überhaupt irgendwas denken.

STANDARD: Angenommen, Charlie Brown wäre Architekt: Wie würde ein Haus aus seiner Feder aussehen?

Ware: Was für ein schöner Gedanke! Es wäre ein Haus, das aus einer Handskizze heraus geboren ist. Es wäre ein Haus, das Wärme ausstrahlt, ohne nostalgisch zu sein. Und es wäre eine Architektur, die dem Menschen endlich wieder Würde und Freude schenkt – anstatt sie ihm immer nur zu rauben.

Compliance-Hinweis: Die Reise nach Barcelona erfolgte auf Einladung des CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona. Die Ausstellung „Chris Ware. Dibuixar és pensar“ ist noch bis 9. November 2025 zu sehen. cccb.org

7. April 2025 Bauwelt

Ein Archiv namens Afrika

In Togo, Ghana und Benin hat sich eine Gruppe von Architektinnen, Stadtplanerinnen und Forscherinnen formiert. Ihr Ziel ist die Konservierung und Dokumentation des baulichen Erbes Westafrikas, bevor dieses zwischen den Zahnrädern des Postkolonialismus endgültig verloren geht.

Zum vollständigen Artikel im „Bauwelt“ Archiv ↗

29. März 2025 Der Standard

Kistenspiel zwischen Containern

Auf dem letzten Landzipfel des Hafens von Rotterdam wurde vor wenigen Tagen das Portlantis eröffnet. Das neue Besucherzentrum und Museum gewährt neugierige Einblicke in die Welt der Frachtenschiffe.

Die Kinder stehen mit plattgedrückten Nasen an der Fensterscheibe. Im Prinses-Amalia-Hafen – keine zehn Gehminuten entfernt, wenn nicht die internationale Zollgrenze dazwischenläge – wird gerade die 400 Meter lange Hamburg Express, das Flaggschiff der Reederei Hapag-Lloyd, beladen. Rund 9000 Container werden per Kran bis zu zwölf Stock hoch aufs Deck gestapelt. Die Aussicht ist gigantisch, und wer von den bunten, über dem Wasser schwebenden Stahlkisten von HMM, Maersk und Yang Ming nicht genug kriegt, der kann sich mit dem großen Monitor, verbunden über eine Livekamera auf der Dachterrasse, noch näher heranzoomen.

„Wenn man ein Museum im größten Hafen Europas baut“, sagt Winy Maas, Partner im Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, „dann darf man nicht außer Acht lassen, dass das größte und wichtigste Exponat der gesamten Ausstellung der Hafen selbst ist. Also wollten wir in jedem Geschoß das Geschehen über ein breites Panoramafenster in den Raum hereinholen.“ Je nach Etage blickt man mal auf die Hafenbecken, mal auf die Sanddünen, mal aufs weite Meer hinaus, wo die Hamburg Express in wenigen Stunden, sobald sie abgelegt hat, hinter dem Horizont verschwunden sein wird.

Das Besucherzentrum Portlantis, das letzte Woche feierlich eröffnet wurde, ist die jüngste und vielleicht sogar ungewöhnlichste Sehenswürdigkeit Rotterdams. Die im Zweiten Weltkrieg fast flächendeckend zerstörte Großstadt hat sich nach den Bombardierungen der deutschen Luftwaffe zum Ziel gesetzt, nicht dem Alten nachzuweinen wie viele andere Städte mit ähnlichem Schicksal, sondern nach dem Neuen zu streben und sich von da an kontinuierlich neu zu erfinden – mit neuen Museen, neuen Hochhäusern und neuen Experimenten wie etwa Markthallen, Recyclingarchitektur oder schwimmenden Bauernhöfen.

Das wichtigste Bau- und Infrastrukturprojekt jedoch ist die Erweiterung des Hafens, der mit einem jährlichen Umschlag von 13,5 Millionen Tonnen längst an die Grenzen seiner Belastbarkeit gestoßen ist. Unter dem Titel Maasvlakte 2 wurden in den letzten 15 Jahren 2000 Hektar Land angeschüttet und auf diese Weise neue Anlegestellen, Logistikhallen und Öl- und Gasspeicher geschaffen. Um Besuchern einen Blick hinter die Kulissen des Hafenalltags zu bieten, hat sich die Hafenbehörde dazu entschieden, auf dem neu geschaffenen Landzipfel, 45 Kilometer von der Rotterdamer Innenstadt entfernt, ein Museum und Infozentrum zu errichten.

„Mit dem neuen Portlantis ermöglichen wir, den Rotterdamer Hafen aus allernächster Nähe kennenzulernen“, sagt Boudewijn Siemons, CEO der Port of Rotterdam Authority. „Wir schauen uns den Hafen aus unterschiedlichen Perspektiven an und werfen in der Ausstellung einen Blick auf Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Letzteres ist essenziell, denn der globale Schiffsverkehr verursacht enorme Emissionen – und die müssen wir dringend reduzieren.“ Nicht zuletzt verstehe sich das Besucherzentrum mit seinen lustigen, interaktiven, überaus informativen Stationen, so Siemons, als Recruitingmaschine für die Hafenarbeiter von morgen.

Architektonische Wow-Effekte

Noch plastischer formuliert es der Architekt selbst. Er bezeichnet das 29 Meter hohe Portlantis mit seinen fünf geschoßweise verdrehten Kisten als „Blickfang, als Leuchtturm der Logistik, aber auch als eine Art Wachturm, der dazu aufrufen soll, das eigene Konsumverhalten zu hinterfragen und sich die Frage zu stellen, wie der individuelle Lebenskomfort den internationalen Warenverkehr beeinflusst. Wenn man in einer Handelsmetropole wie Rotterdam lebt, an so einem wichtigen Tor zur Welt“, so Maas, „dann darf man die Augen nicht verschließen.“

Dass selbige ganz groß bleiben, voll mit Staunen und architektonischen Wow-Effekten, dafür hat MVRDV – ganz in der Tradition des Büros – natürlich entsprechend vorgesorgt. Im Kontrast zu den matten, patinierten, oftmals angerosteten Schiffscontainern rundherum handelt es sich beim Portlantis um einen Stahlbau mit glattem, poliertem, hochglänzendem Aluminium. Ein knallrotes, weithin sichtbares Erschließungsband mit Treppen und Podesten, die sich bis auf die öffentlich begehbare Dachterrasse hochziehen, verleiht dem Gebäude eine surreale Erscheinung. Je nach Himmel, Wetter und Sonnenstand scheint man in manchen Momenten vor einem Rendering zu stehen.

Im Inneren des Hauses dann die große Überraschung: Bei rund 40 Prozent der Primär- und Sekundärkonstruktion handelt es sich um Recycling, genauer gesagt um wiederverwendete Stahlbauteile, die innerhalb des Rotterdamer Hafens bislang anderweitig im Einsatz waren – als Kran, als Lagerhalle, als temporäres Nebengebäude. Um diese inneren Werte zu zelebrieren, wurde die gesamte Stahlkonstruktion aus Rundstützen und Flanschträgern sichtbar belassen und in unterschiedlichen Grautönen gestrichen.

Umso besser kommt die Szenografie und Ausstellungsarchitektur von Kossmann Dejong zur Geltung. Die Labore, Infoscreens und interaktiven Rauminstallationen sind in fröhlichen, lebensbunten Farben gestaltet und animieren zur Benützung, bei der auch Mütter, Väter, Lehrerinnen, Architekten und Journalistinnen zum Kind werden. Highlight sind die 13 knallgelben Skulpturen, metaphorische Objekte für Hafen und Schifffahrt, die sich im fünfstöckigen Atrium an durchsichtigen Nylonschnüren auf und ab bewegen.

Das Portlantis (Investitionskosten 30 Millionen Euro) ist ein schönes, nachahmenswertes Beispiel dafür, dass sich städtischer Tourismus nicht immer nur auf Kirchen, Konzerte und alte Meister beschränken muss. Mit einem Blick hinter die Kulissen urbaner Infrastruktur können auch ganz andere Neugierden befriedigt werden. Erwartet werden 150.000 Besucher pro Jahr.

Compliance-Hinweis: Die Besichtigung des Portlantis erfolgte im Rahmen einer Pressereise. Der Autor war Gast von Rotterdam Partners.

15. März 2025 Der Standard

Eine Vorstadt namens Blue Velvet

Suburbia ist überall. Ihre Anfänge, zeigt eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien, hatten durchaus rühmliche Ziele, doch irgendwann hat sich das Wohnmodell pervertiert. Gibt es ein Entkommen?

340Millionen Menschen, 400 Millionen Schusswaffen: Die Gesamtzahl von Glocks, Schmeissers und Kalaschnikows in nichtmilitärischer Verwendung ist nirgendwo so hoch wie in den USA. Oder, anders gesagt: Die Hälfte aller weltweit registrierten Handfeuerwaffen in Privatbesitz wohnt genau hier, irgendwo zwischen A wie Alabama und W wie Wyoming. So wie zum Beispiel das stolze Arsenal der 33-jährigen Avery Skipalis in Tampa, Florida, die der italienische Fotograf Gabriele Galimberti 2021 mit seiner Kamera festgehalten hat.

„Ich wollte ein Porträt der amerikanischen Waffenkultur zeichnen und die weitverbreitete Liebe zu Schusswaffen darstellen“, sagt Galimberti im Interview. „Und es war durchaus leicht, Leute zu finden. Oft bin ich sogar auf welche gestoßen, die 60 Gewehre oder mehr besitzen.“ Für den toskanischen Fotografen ist das Phänomen kein Zufall, sondern eine Frage der Tradition, mehr noch eine logische Konsequenz des 1791 ratifizierten Zweiten Verfassungszusatzes, der den Bewohnern der damals neu eroberten Gebiete das Recht einräumte, Waffen zu tragen und sich damit bei Bedarf zu verteidigen.

Das Foto, Gänsehaut pur, ist eines von fünf Porträts aus der 2021 veröffentlichten Serie Ameriguns, die derzeit im Architekturzentrum Wien (Az W) zu sehen sind. Die Ausstellung Suburbia. Leben im amerikanischen Traum zeichnet die Geschichte eines suburbanen Lebensideals, das vor knapp 200 Jahren seinen Beginn nahm, und analysiert Widersprüche dieses Modells sowie auch dessen soziale, ökologische und lebenskulturelle Folgen. Entstanden ist die Wanderausstellung in Zusammenarbeit mit dem Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), hier in Wien wird sie nun um österreichische Aspekte und innovative Lösungsansätze ergänzt.

„Schon als Kind habe ich gesehen, dass in Kinofilmen und Sitcoms vor allem Suburbs und Einfamilienhäuser vorkommen“, sagt Philipp Engel, Kurator am CCCB, „und seit damals wundere ich mich, warum die Amerikaner so leben, wie sie leben, in diesen Donut-Städten ohne Infrastruktur und ohne öffentliche Verkehrsanbindung.“ Und tatsächlich, ob Alf, Golden Girls, Bezaubernde Jeannie, Der Prinz von Bel-Air, King of Queens, Two and a Half Men, Desperate Housewives, Happiness von Todd Solondz, American Beauty von Sam Mendes oder das abgeschnittene Ohr in David Lynchs Blue Velvet: „Hollywood“, so Engel, „hat auf unser heutiges Verständnis von Stadt einen enormen Einfluss genommen. Suburbia findet sich überall.“

Das war nicht immer so. Die ersten Ansätze einer damals noch subtilen, subkutanen Suburbanisierung hatten durchaus rühmliche Ziele und intakte Rahmenbedingungen. Mitte des 19. Jahrhunderts – in einem Zeitalter also von Bränden, Epidemien, Kriminalität, politischen Unruhen und einer zunehmenden Industrialisierung mit Ruß, Lärm und Gestank – entwickelten Großindustrielle wie etwa Llewellyn Solomon Haskell die ersten Gated Communities und parkähnlichen Stadtrandsiedlungen, um den Menschen ein Wohnen außerhalb der zehrenden Großstadt zu ermöglichen.

Straßenbahn in Los Angeles

Die frühen Suburbs in Illinois und New Jersey wurden von Eisenbahngesellschaften angefahren, viele Haltestellen, kurze Gehdistanzen, und auch der Großraum Los Angeles war damals bestens erschlossen. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte L.A. mit 1700 Kilometern und mehr als 900 Streetcar-Garnituren das größte Straßenbahnnetz der Welt. In den Nachkriegsjahren jedoch wurde die Straßenbahn – wie in 45 anderen US-Städten auch – systematisch zerstört. General Motors kaufte die Schienenunternehmen sukzessive auf und legte die Netze still – bloß um den öffentlichen Verkehr mit Fahrzeugen und Verbrennungsmotoren aus eigener Produktion zu ersetzen.

Mit dem Aufstieg des Automobils, dem boomenden Markt mit exotisch benamsten Fertigteilhäusern, die in unterschiedlichsten Architekturstilen geliefert und montiert wurden, und der Heimkehr der Kriegsveteranen, die als Helden und Patrioten gefeiert wurden, während den Frauen die Mobilität genommen wurde, um sie mit allerhand praktischen Haushaltsgeräten in eine Dienerinnenrolle hineinzuquetschen, war der Siegeszug von Suburbia nicht mehr aufzuhalten. Die irreparablen Folgen der Ghettoisierung und jahrzehntelang praktizierten sozialen Derangierung und Pervertierung sind heute sichtbar – nicht nur in Galimbertis erdrückenden Waffenporträts.

„Ich würde das Phänomen aber nicht als irreparabel bezeichnen“, sagt Judit Carrera, Direktorin des CCCB. „Es gibt Ansätze und Bewegungen wie etwa New Urbanism, die sich um eine Verdichtung, Verbesserung und Wiederbelebung des Speckgürtels bemühen.“ Auch Angelika Fitz, Direktorin des Az W, sieht darin eine wichtige Reparaturaufgabe: „Viele Architekturbüros haben das Einfamilienhaus als Bauaufgabe lange Zeit vernachlässigt und abgelehnt. Aber nun wird der Umgang mit bestehenden Einfamilienhäusern zu einer wichtigen Aufgabe in der Transformation. Wir brauchen dringend neue Umbau- und Nutzungsmodelle, sonst werden wir irgendwann nur noch von toten Häusern umgeben sein.“

Allein in Österreich stehen 1,5 Millionen Einfamilienhäuser herum, und der Bau eines solchen ist – jeder Logik zum Trotz – immer noch der größte Wohntraum in diesem Land. Die Kritik daran ist nicht nur eine moralisch-ökologisch-versiegelungstechnische mit erhobenem Zeigefinger. Es reicht schon ein Blick in die Statistik, die in der Ausstellung mit satirischem Unterton inszeniert wird: Die durchschnittliche Haltbarkeit einer Ehe beträgt demnach 10,4 Jahre, die durchschnittliche Laufzeit von Wohnkrediten fast das Doppelte.

Der wertvolle Aha-Moment ist, dass die von Lene Benz, Katharina Ritter und Agnes Wyskitensky kuratierte Ausstellung nicht nur analysiert und sich nicht nur mit ökonomisch motivierten Fehlentwicklungen wie etwa der Blauen Lagune in der SCS, Frank Stronachs Wohnpark Fontana in Oberwaltersdorf oder Alfred Riedls kleinem Dubai in Grafenwörth beschäftigt, sondern dass sie aufzeigt, wie man aus dem suburbanen Albtraum auch wieder aufwachen kann. Ob Kindergarten, Coworking-Haus oder neue, innovative, solidarische Gemeinschaftswohnkonzepte wie etwa das Sauriassl-Syndikat in Oberbayern: Liebe Architekturzunft, hier liegt Arbeitskapital für die nächsten Jahrzehnte.

[ Die Ausstellung „Suburbia. Leben im amerikanischen Traum“ im Az W wird von einem umfassenden Rahmenprogramm mit Vorträgen, Exkursionen und Kinderworkshops begleitet. Zu sehen bis 4. August 2025: azw.at ]

8. März 2025 Der Standard

Die Krisenbewältigungsakquisiteure

Warten auf einen Auftrag? Das war gestern! Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder suchen sich ihre Projekte selbst und greifen dann zum Telefon: Hallo, Bürgermeister? Kommendes Wochenende halten die beiden einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

Früher einmal, als die Bäckerei Seidenschnur noch in Betrieb war, lagen in der Vitrine Brezen, Brötchen und Berliner. Heute sind darin Holz- und Kartonmodelle jener Projekte ausgestellt, an denen Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder gerade arbeiten. Und so wie dereinst ihre Vorgängerinnen in der Berliner Gotzkowskystraße 33, Bezirk Moabit, verstehen Jurek und Aimée, 31 Jahre alt, ihren Job in allererster Linie als Handwerk, als eine Sache, die man so richtig anpacken und durchkneten muss. „Es gibt mehr als genug zu tun da draußen“, sagen die beiden. „Aber die Projekte fliegen einem nicht zu. Es ist daher unsere Aufgabe als Planer, als Umweltgestalterinnen, die Welt zu beobachten und mitunter selbst die Initiative zu ergreifen.“

So wie damals vor ein paar Jahren, als in den späten Abendstunden der ICE plötzlich Halt machte und die Passagiere gezwungen waren, in Stendal, Sachsen-Anhalt, 100 Kilometer westlich von Berlin, auszusteigen und sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Am nächsten Morgen dann ein Spaziergang durch die Altstadt mit ihren hübschen Backstein- und Fachwerkhäuschen, aber auch durch die Neustadt mit ihren unzähligen DDR-Plattenbauten, Typ WBS 70. Einige davon waren längst schon abgerissen, an ihrer Stelle nun Einfamilienhäuser und grüne Blumenwiesen, andere hingegen standen zu Dutzenden noch leer, ungenutzte Geisterburgen mit toten Fenstern, so weit das Auge reicht. Und so kam den beiden eine Idee, die sie im Rahmen des Architekturfestivals Turn On im ORF-Radiokulturhaus kommendes Wochenende vorstellen werden.

Blick bis zum Horizont

„Während in Berlin massive Wohnungsnot herrscht, stehen hier, mit der Bahn gerade mal 34 Minuten von der Stadtgrenze und 49 Minuten vom Berliner Hauptbahnhof entfernt, hunderte, ja vielleicht sogar tausende Wohnungen leer“, sagen Jurek und Aimée, die erst kürzlich eine neue Büroplattform gegründet haben, Association for Ecological Architecture, kurz AFEA. „Also haben wir den Bürgermeister, den Stadtentwicklungsausschuss und die größten und wichtigsten Wohnbaugenossenschaften der Stadt kontaktiert und ihnen vorgeschlagen, die WBS-70-Platte umzubauen – in ein sogenanntes Einfamilienhaus-Haus.“

Das Konzept dahinter: Die Deckenplatten und aussteifenden Wandscheiben der standardisierten Wohnmaschine werden von oben nach unten so weit abgetragen, dass eine abwechslungsreiche Silhouette mit privaten Gärten und Dachterrassen entsteht. Die Betonfassade wird mit vorgefertigten Holzelementen gedämmt. Und was einst auf 2,50 Meter Raumhöhe beschränkt war, soll mit internen Treppen nun zu zwei- und dreigeschoßigen Wohneinheiten verbunden werden. „Am Ende soll man das Gefühl haben, in einem Einfamilienhaus im vierten, fünften, sechsten Stock zu wohnen, mit Blick bis zum Horizont – und noch dazu mit gutem ökologischem Gewissen.“

Der Wohnbauträger hat bereits sein Okay gegeben, im Sommer soll der kontrollierte Teilabbruch starten. „Wir wollen das Projekt im Rahmen eines geförderten Forschungsprojekts als Pilot umsetzen und die Wohnungen für unter zehn Euro pro Quadratmeter vermieten“, sagt Lars Schirmer, kaufmännischer Vorstand der WBGA Wohnungsbau-Genossenschaft Altmark, auf Anfrage des ΔTANDARD. „Es ist eine skalierbare, CO2 -intelligente und sozialpolitisch interessante Lösung, die in vielen Städten im Berliner Umraum Anwendung finden könnte. Wenn alles klappt, denke ich, könnte das Projekt Nachahmer finden und in die Breite ausgerollt werden.“

Für Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder ist es nicht das erste Mal, dass sie mit E-Mail, Anrufen und konsequenter Kaltakquise bei den Stadtobersten einen Auftrag an Land ziehen konnten. Auch in Werben an der Elbe, mit 400 Einwohnern offiziell die kleinste Hansestadt Deutschlands, waren es unzählige Anrufe beim Stadtrat und beim Bürgermeister, die schließlich dazu geführt haben, dass die ehemalige Komturei, ein denkmalgeschütztes Ensemble mitten in der Stadt, nun saniert und revitalisiert wird. Geplant ist ein ökologisches, postfossiles Modellprojekt mit Ferienwohnungen, betreutem Seniorenwohnhaus und Arbeitslofts für die Kreativwirtschaft. Ein Teil ist bereits in Bau, mit ökologischen Baustoffen und kreislauffähigen Produkten, und soll noch vor Jahresende fertiggestellt werden.

„Mittlerweile, fürchten wir, ist kein Bürgermeister mehr vor uns sicher“, sagen die beiden, die auch schon in Basel, Uzwil, Lichtenberg, Mühlberg an der Elbe und Werder an der Havel die Telefone läuten ließen. „Denn egal wohin es uns verschlägt, fällt uns sofort ein Projekt auf, mit dem wir in der Gemeinde vorstellig werden wollen. Wir wollen nicht warten, bis man an uns herantritt. Wir sind Teil einer Generation, die in der Krise nun selbst auf den Plan treten muss.“

Krisenmedizin: 20 Stunden Architektur

Die Chance in der Krise: Unter diesem brisanten Generalmotto steht die nunmehr 23. Ausgabe des Architekturfestivals Turn On, das unter der Schirmherrschaft von Margit Ulama Architektinnen, Bauherren, Bauträger, Fachplanerinnen und Politiker zusammentrommelt, um im Zeitalter prekären Jammerns über Potenziale und Best-Practice-Projekte aus ganz Europa zu sinnieren. Auf dem Programm stehen diesmal Holzbau, Kraftwerke, Bio-Gewerbebauten, nachhaltige Stadtentwicklung und smartes Weiterbauen im Bestand. Mit Vorträgen von AFEA, FAR frohn & rojas, Barkow Leibinger, B.K.P.Š. (Bratislava), Franz & Sue, Pichler & Traupmann, Innauer Matt, Henke Schreieck, Shibukawa Eder, Schenker Salvi Weber, Staab Architekten, Sam Jajob (Die Angewandte), der ehemaligen Berliner Staatssekretärin und Senatsbaudirektorin Regula Lüscher und vielen mehr.

Von Donnerstag, 13. März, 15.30 Uhr bis Samstag, 15. März, 22 Uhr. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien.

Eintritt frei.

5. März 2025 Der Standard

Ein Maler, Dichter und Stadtgestalter

Der chinesische Architekt Liu Jiakun erhält den Pritzker-Preis 2025.

Liu Jiakuns Mutter war Internistin, so wie die ganze Familie überwiegend aus Ärzten bestand. Den Großteil seiner Kindheit verbrachte er daher in den Gängen des Second People’s Hospital in Chengdu, wo er sich im Umfeld des christlichen Medizininstituts, wie er selbst sagt, eine soziale und lebenskulturelle Toleranz aneignete. Diese kommt ihm nun zugute, denn der Architekt von Museen, Wohnbauten, Kulturzentren, Bürokomplexen, Parkanlagen und öffentlichen urbanen Stadträumen wird nun, wie am Dienstag bekanntgegeben wurde, mit dem diesjährigen Pritzker-Preis ausgezeichnet.

Liu Jiakun wurde 1956 in Chengdu in der zentralchinesischen Provinz Sichuan geboren. Er erwies sich als künstlerisch begabt, erkundete seine Welt durch Zeichnen und Literatur und träumte davon, eines Tages Maler oder Dichter zu werden. Mit 17 Jahren nahm er am staatlichen Zhiqing-Programm für gebildete Jugendliche teil, fünf Jahre später wurde er zum Architekturstudium an der Chongqing University zugelassen. „Mein größtes Talent damals war wahrscheinlich, vor nichts Angst zu haben, und dazu noch natürlich meine Mal- und Schreibfähigkeiten“, blickt der heute 68-Jährige zurück. „Wie in einem Traum wurde mir plötzlich klar, dass mein eigenes Leben wichtig war.“

Nach dem Studium arbeitete er zunächst für die Chengdu Architectural Design Academy und zog dann nach Tibet und Xinjiang, Westchina, wo er sich zehn Jahre lang dem Malen, Schreiben und Meditieren widmete. 1999 gründete er sein eigenes Architekturbüro in Chengdu mit heute rund 20 Mitarbeitern. Er spezialisiert sich darauf, traditionelle chinesische Architektur weiterzudenken, Geschichte mit Innovation zu verschränken, vor allem aber öffentliche Räume in dicht bebauten Ballungsräumen zu schaffen. Sein „West Village“ in Chengdu (2015) ist eine fünfstöckige Platzstruktur, die sich mit Stiegen, Rampen und gedeckten Freiräumen über einen ganzen Block erstreckt.

„Ich strebe immer danach, wie Wasser zu sein, ohne eine feste Form zu haben, und die lokale Umgebung zu durchdringen“, sagt er. „Mit der Zeit verfestigt sich das Wasser, verwandelt sich in Architektur – und vielleicht sogar in die höchste Form menschlicher spiritueller Schöpfung.“ Liu Jiakun ist der erst zweite Chinese, der den seit 1979 vergebenen, mit 100.000 US-Dollar dotierten „Nobelpreis der Architektur“ entgegennehmen wird.

1. März 2025 Der Standard

Gute Nacht, Iana!

Hinter der roten Fassade im Norden Münchens verbirgt sich ein temporäres Obdach für obdachlose Menschen. Vorgestern, Donnerstag, wurde das Projekt von Hild und K beim BDA-Preis Bayern gewürdigt.

Iana ist 39 Jahre alt, stammt aus Gorj, Rumänien, und lebt seit einigen Jahren in München. Nach ihrer Scheidung wurden ihr die Papiere gestohlen, kurz danach hat sie ihren Job und schließlich auch die Wohnung verloren. Seitdem ist sie obdachlos. Sie ist eine von 13.000 Wohnungs- und Obdachlosen in München und einer der insgesamt 340 offiziell registrierten Härtefälle, die aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft und ihres rechtlichen Status in keinem sozialen Hilfssystem integriert sind. Wenn es kalt ist, fährt sie am Abend mit der U2 bis zum Frankfurter Ring und steigt dann, wie viele andere auch, in den Bus 178 um. Von dort sind es dann noch fünf Stopps, bis sie, wie sie sagt, für eine Nacht zu Hause ist.

„Früher haben wir Obdachlosen nicht weit von hier in einer ehemaligen Kaserne übernachtet“, erzählt Iana. „Was soll ich sagen? Es war eine Kaserne. Nun ist mein Leben, um ehrlich zu sein, auch nicht wirklich schöner, auch nicht wirklich leichter, ich bin immer noch obdachlos, und ich weiß noch immer nicht, wie es jobmäßig weitergehen soll. Aber für einen kurzen Moment, wenn ich am Abend hierherkomme, habe ich das Gefühl, ein bisschen Schönheit und Freundlichkeit zu erleben. Ich mag das rote Holz, die lustige Fassade, man fühlt sich irgendwie ein bisschen besser willkommen.“

Der sogenannte Übernachtungsschutz in der Lotte-Branz-Straße im Norden Münchens, ein Ersatzneubau für besagte Kaserne, die im Zuge der Stadterweiterung abgerissen wurde, um Platz zu machen für neuen Wohnbau, umfasst ein medizinisches Zentrum sowie 730 Betten für obdachlose Menschen – für Männer, Frauen und Familien, die auf der Flucht sind vor Wind und Wetter, aber auch für akute Notfälle in familiären Gewaltsituationen, bei Wohnungsbränden sowie für all jene, die kurzfristig in keinem anderen sozialen Auffangsystem ein Obdach finden konnten. Vorgestern, Donnerstag, wurde das Haus vom Bund Deutscher Architektinnen und Architekten beim BDA Preis Bayern 2025 mit einer Anerkennung gewürdigt.
Eine Heimat auf Zeit

„Und das freut uns sehr“, sagt Architekt Matthias Haber, Partner im zuständigen Architekturbüro Hild und K, „denn die Unterbringung einer so großen Zahl an Menschen in einer so schwierigen Lebenssituation und noch dazu in einer so unwirtlichen Gegend wie hier, mitten im Gewerbegebiet, umgeben von Lagerhallen und Logistikern, ist keine leichte Aufgabe. Dieses Projekt ist nicht nur eine Hilfe in äußersten Notlagen, sondern auch eine Heimat auf Zeit. Und nichts würde ich lieber, als das Haus für seine Nutzerinnen und Nutzer eines Tages in Wohnungen umzubauen.“

Auffälligstes Mittel ist die terracottafarbene Holzfassade mit ihren schlanken, vertikal verlegten Latten aus Weißtanne sowie die verspielte, rokokohafte Bordüre aus insgesamt 720 Opferbrettern, die sich ganz oben wie Omamas Häkeldeckchen um das Haus legt. Ab und zu schummelt sich ein rundes Bullauge dazwischen. Kenner der Architekturgeschichte werden darin leicht ein Zitat auf das 1927 errichtete Ledigenheim im Münchner Westend erkennen, das Architekt Theodor Fischer als Antwort auf die damals schon dramatische Wohnungsnot geplant hat. Während Fischers Ledigenheim bis heute ein Auffangbecken für all jene ist, die für eine reguläre Miete in München nicht genug verdienen, landen hier, im roten Haus in der Lotte-Branz-Straße, all die anderen, die durch alle sozialen und kommunalen Netze gefallen sind.

Bei aller Liebe zu diesem wunderschönen Haus, zu der kleinmaßstäblichen Sympathie, zu den freundlichen Farben im Inneren, zum Leitsystem von Herburg Weiland mit seinen gelben, fast schon knuffigen Waffen- und Drogenverbotslogos macht sich hier auch ein Loch für die größte Kritik an diesem Projekt auf: In keiner anderen deutschen Stadt sind die Wohnkosten so hoch wie hier, jeder fünfte Münchner muss mittlerweile mehr als 45 Prozent seines Einkommens für die Kaltmiete aufwenden. Die Tatsache, dass die Stadt München selbst keine ausreichend großen innerstädtischen Flächenreserven mehr besitzt und mit dieser Einrichtung an den Stadtrand ausweichen musste, macht das strukturelle Problem nur noch sichtbarer.

„Das Übernachtungsangebot wird, wie man sich vorstellen kann, sehr gut angenommen“, sagt Markus Blaszczyk, Bereichsleiter beim Evangelischen Hilfswerk München. „Im Schnitt haben wir rund 450 Nächtigungen pro Tag, und natürlich mussten wir das Haus in weiser Voraussicht auf die Zukunft leider etwas überdimensionieren.“ Die Anerkennung beim BDA-Preis Bayern darf – jenseits der Grenze wie auch diesseits – als nicht nur architektonische, sondern vor allem auch sozialpolitische Denkanregung verstanden werden.

22. Februar 2025 Der Standard

Abrissbirne kaputtmachen!

Sanierungen und Renovierungen sind für die Immobilienwirtschaft teuer, langwierig und viel zu kompliziert. Abbruch und Neubau stehen daher an der Tagesordnung. Die EU-Bürgerinitiative House Europe! will das ändern – und sammelt nun Unterschriften für ein Umdenken im EU-Parlament.

Das sind sensationelle Pilotprojekte“, sagt der Berliner Architekt Olaf Grawert, Partner bei B+ Architektur. „Aber der immobilienwirtschaftliche Alltag sieht leider anders aus. Sanierungen, Renovierungen und Weiterbauen im Bestand sind immer noch die Ausnahme, stattdessen ist die gesamte Branche auf Abbruch und Neubau fixiert – und das, obwohl wir längst wissen, was für katastrophale ökologische und klimatische Folgen das hat.“ 38 Prozent der globalen CO2 -Emissionen sind auf den Gebäudesektor zurückzuführen. Hinzu kommt, dass die Errichtung und Vernichtung von Bauwerken 36 Prozent des europäischen Mülls produzieren. Im Vergleich dazu: Der Haushaltsmüll macht lediglich acht Prozent der EU-Müllberge aus.

„Die Zahlen sind alarmierend, und wenn sich an der Gesetzeslage nichts ändert, dann wird auch die Immobilienwirtschaft nicht umdenken“, so Grawert. Denn: „Investoren, Projektentwicklerinnen und Finanzdienstleister denken nicht in Gebäuden, sondern einzig und allein in Grundstücken. Unser Ziel ist es, die kapitalistischen Rahmenbedingungen auf EU-Ebene neu zu programmieren und gesetzlich neu zu verankern. Wenn das bei Einwegplastik geht, dann sollte das auch bei Einweghäusern möglich sein!“

Die Welt verändern

Mit seinem Büro B+ und zahlreichen Kolleginnen, Unterstützern und Botschafterinnen aus allen EU-Ländern initiierte er unlängst die EU-Bürgerinitiative „House Europe!“. Innerhalb von zwölf Monaten – bis einschließlich 31. Jänner 2026 – will die Initiative eine Million Unterschriften sammeln und auf diese Weise erzwingen, dass der Themen- und Gesetzesvorschlag im EU-Parlament behandelt und entsprechend ausgearbeitet wird.

„In der Immobranche hat sogar die Sprache eine einseitige Tendenz“, sagt Verena Konrad, Direktorin des Vorarlberger Architekturinstituts (vai) und Österreich-Botschafterin für House Europe!. „Im Neubau werden Potenzialanalysen erstellt, im Altbau hingegen spricht man von Risikoanalysen. Dieses Narrativ ist in den Köpfen vieler Menschen fest einzementiert. Das müssen wir ändern. Wir wollen, dass die Politik und die Immobilienwirtschaft das Potenzial bereits errichteter Gebäude anerkennen.“ Zum Beispiel mit einer Steuerreduktion bei Sanierungen und Renovierungen, wie das fallweise schon in Brüssel praktiziert wird.

„Mit House Europe! können wir die Welt verändern“, sagt Botschafterin Saskia van Stein, Direktorin der International Architecture Biennale Rotterdam. „Wenn wir es schaffen, entsprechende Gesetze zu erlassen und der Immobilienwirtschaft Incentives anzubieten, damit die Sanierung und Renovierung von Altbauten auch wirtschaftlich attraktiver wird, dann wird der Markt dieser Einladung folgen.“ Wenn sich legistisch jedoch nichts ändert und wir so weitermachen wir bisher, prognostizieren Forscherinnen bis 2050 innerhalb der EU eine Bestandsvernichtung im Ausmaß von 1,5 Milliarden Quadratmetern. Das ist die vierfache Fläche von Wien.

Jede Stimme zählt: houseeurope.eu

Haus Schreber, Aachen Eine Arbeitersiedlung im Norden der Stadt, eingebettet in eine Landschaft aus Backstein, Satteldächern und glücklich gemähten Rasenflächen. Allein, den Käufern – Familie Winkel mit drei Kindern – war das Siedlungshäuschen aus den 1920er-Jahren zu klein, und so kontaktierte man das Aachener Architekturbüro Amunt mit der Bitte um 50 Quadratmeter Erweiterung. „Warum ein abgenutztes, unpraktisches Bauwerk mit viel Aufwand abreißen?“, fragte sich Architekt Björn Martenson. „Es ist doch viel besser, das Haus umzunutzen, anders zu organisieren und für eine neue Zeit fit zu machen.“ Und so kam es dann auch. Das Weiterbauen wurde mit großformatigen, unverputzten Bimssteinen bewusst zur Schau gestellt. Das Haus wurde mit dem Deutschen Architekturpreis ausgezeichnet.

San Gimignano Lichtenberg, Berlin Mitten im Gewerbegebiet Lichtenberg wurde 1987 – bloß zwei Jahre vor der Wende – eine Fabrik für die VEB Elektrokohle errichtet. Bis zur Weltfinanzkrise 2008 stand die Fabrikhalle leer, doch mit dem Zusammenbruch der Bauwirtschaft entpuppte sie sich als wertvolles Rohstofflager: Die Stahlkonstruktion wurde abgetragen und weiterverwertet, die beiden Treppen- und Silotürme jedoch – 42 Meter hoch, 199 Stufen bis ganz nach oben – wären im Abbruch zu kostspielig gewesen und blieben als betonierte Zeitzeugen erhalten. 2021 nahm sich das Architekturbüro B+ der geheimnisvollen DDR-Ruine an und baute sie zu einem Kreativcluster mit Studios und Werkstätten um. Very rough! In der Namensgebung orientierte man sich an den mittelalterlichen Geschlechtertürmen in der Toscana.

De Flat Kleiburg, Amsterdam „Wir haben nach günstigem Eigentum gesucht“, erzählt Dick in einer coolen Wohnung im neunten Stock – mit grünem Samtsofa und ziemlich viel Kunst an der Wand. „Und dann sind wir in der Zeitung auf diese Anzeige gestoßen.“ Der Bauträger Kondor Wessels Vastgoed erwarb – entgegen allen Empfehlungen seitens der Stadt und der Immobilienbranche – den 400 Meter langen Betonbau aus den 1960er-Jahren und sanierte in Zusammenarbeit mit NL Architects und XVW Architectuur lediglich Fassade, Haustechnik und Allgemeinbereiche. Die 498 Wohnungen selbst blieben unberührt und wurden als Edelrohbau und Do-it-yourself-Bastlerhit verkauft – um 1200 Euro pro Quadratmeter. „Und hinter der Wohnungstür“, sagt Jacqueline, zweiter Stock, „konntest du dich austoben und machen, was du willst.“

25. Januar 2025 Der Standard

Eine Welt voller Volt

Am 26. Jänner ist International Day of Clean Energy: Die Errichtung von Photovoltaik-Anlagen steigt in Österreich exponentiell an, und das ist gut so. Was heißt das im Kontext historischer Dörfer und schützenswerter Altstädte?

Hans Peter Weis versteht die Welt nicht mehr. Vor ein paar Jahren haben ihm die Baubehörde und der unabhängige Gestaltungsbeirat gesagt, er solle das neue Vordach über dem Balkon in einem satten Ziegelrot decken, so wie all die anderen Dachflächen auf dem Haus, und nun, wo er auf das bereits errichtete Vordach nachträglich eine Photovoltaik-Anlage mit fünf Modulen draufsetzen will, um sich von der EVN ein bisschen unabhängiger zu machen, soll er das Blechdach plötzlich dunkelgrau streichen.

„Und jetzt muss ich mit meinen 70 Jahren“, sagt der pensionierte, aber immer noch rüstige Bergsteiger und Bergführer, „bevor die Photovoltaik-Monteure kommen, aufs Dach raufkraxeln, 15 Meter über der Ybbs, und die Blechdeckung neu lackieren, bloß damit die PV-Paneele nicht so stark in Erscheinung treten. Ganz ehrlich? Ich bin sehr dafür, dass man die Altstadt von Waidhofen schützt und das Altehrwürdige bewahrt. Aber dieses ganze Theater für so eine kleine Anlage? Da fehlt mir echt das Verständnis.“

Das PV-Projekt von Hans Peter Weis ist kein Einzelfall. Seit der Corona-Pandemie und vor allem seit Russlands Angriff auf die Ukraine hat die sukzessive Umrüstung auf solare Stromproduktion – ob auf Fassaden oder in der Dachlandschaft – in Waidhofen an der Ybbs deutlich zugenommen. So sehr, dass die Stadt und der zuständige Gestaltungsbeirat, dem der Autor dieser Zeilen als Mitglied angehört, beschlossen haben, einen vorübergehenden Baustopp zu verhängen und in dieser Zeit Schutzzonen zu definieren und zonenabhängige Bebauungsbestimmungen festzuzurren.
Richtlinien benötigt

„Die Errichtung von PV-Anlagen und damit auch die Kollisionspunkte zwischen neuen Technologien und historischer Architektur haben im gesamten Bundesland spürbar zugenommen“, sagt Peter Aichinger-Rosenberger, Amtssachverständiger für Baukultur in der Niederösterreichischen Baudirektion. „Vor allem im Denkmalschutz, im Ortsbildschutz, in städtischen Schutzzonen und im Unesco-Welterbe benötigt diese neue Form von baulichen Fragestellungen rechtliche und gestalterische Grundlagen.“ Einige Gemeinden wie etwa Melk, Krems oder Baden, so der Experte, hätten bereits gute Lösungen, andere sind gerade dabei, entsprechende Richtlinien auszuarbeiten.

In Wien soll die Photovoltaik von derzeit 250 Megawatt Peak bis 2030 auf ein Gesamtleistungsvolumen von 800 Megawatt ausgebaut werden. Das werde nicht ohne dezentrale Großanlagen und ohne Aufrüstung bestehender Altgebäude gehen, meint der Wiener Stadtbaudirektor Bernhard Jarolim und verweist auf die geplante 500 Quadratmeter große PV-Anlage auf der Staatsoper und auf die kürzlich installierte PV-Landschaft am Wiener Rathaus, die rund 13 Prozent des Rathaus-Strombedarfs abdeckt.

Graz ist in mehrere Schutzzonen unterteilt, die Schutzzone eins ist aufgrund des historischen Stadtkerns und der intakten Dachlandschaft nahezu sakrosankt. Wer hier eine PV-Anlage errichten will, erklärt der Stadtbaudirektor und Welterbe-Beauftragte Bertram Werle, der brauche ein positives Gutachten der Altstadtsachverständigenkommission (ASVK). Die baulichen und gestalterischen Möglichkeiten sind stark limitiert und beschränken sich vor allem auf Innenhöfe und nicht öffentlich einsehbare Bauteile.

Rasante Entwicklung

Noch strenger ist Salzburg, wo innerhalb der barocken Altstadt bis heute keine PV-Nachrüstungen genehmigt wurden. „Die Dachlandschaft der Innenstadt findet Erwähnung im Welterbe und ist von allen Hausbergen gut einsehbar“, sagt Eva Hody, Landeskonservatorin für Salzburg im österreichischen Bundesdenkmalamt. „Daher müssen wir hier besonders streng sein. Aktuell haben wir blendfreie Klebepaneele in Begutachtung. Ich denke, das könnte bald eine gut integrierbare Lösung werden.“

Für besonders sensible Bereiche bietet der Markt außerdem sogenannte Dünnschichtpaneele, die matt, blendfrei und in unterschiedlichen Farben erhältlich sind. Deren Nachteil ist die geringe solare Ernte, die weit unter dem Output eines klassischen, vollkristallinen Hochleistungsmoduls liegt.

In den letzten Jahren hat der PV-Ausbau in Österreich exponentiell zugelegt. Allein 2023 wurden 2600 Megawatt Photovoltaik neu installiert – so viel wie in Summe in den fünf Jahren zuvor. Laut E-Control und Klimaschutzministerium verfügt Österreich heute über etwa 8700 Megawatt netzgekoppelter Photovoltaik. Hinzu kommt eine nicht erfassbare Dunkelziffer von nicht einspeisenden Insellösungen.

„Es wird immer mehr, und das ist gut so“, sagt Markus Bischofer, Bürgermeister des Tiroler Vorzeigedorfs Alpbach. „Aber wir sind eine schöne, touristisch attraktive Gemeinde, und deswegen brauchen wir auch restriktive Vorschriften.“ Vor zwei Jahren wurden neue Bebauungsbestimmungen erlassen: Erlaubt sind ausschließlich matte Paneele in dachparalleler Schräglage. Alles andere ist strengstens untersagt. Wer ein Veto kriegt und sich dadurch ökologisch benachteiligt fühlt, kann in eine Gemeinschaftsanlage investieren, die Albach zu genau diesem Zweck ein paar Kilometer außerhalb errichtet hat. Ein gangbarer Weg zum internationalen Tag der sauberen Energie.

18. Januar 2025 Der Standard

„Holzbau ist keine Religion“

In der Architektur wird das Bauen mit Holz zunehmend ideologisiert: Holzbau super, alles andere pfui. Warum eigentlich? Ein holziges Nachdenkgespräch mit dem Vorarlberger Tischlermeister Markus Faißt.

In der Nachhaltigkeitsdebatte der letzten Jahre hat kein Thema so viele Emotionen hervorgebracht wie die Frage nach dem Baustoff. Zwischen Massivbau-Lobby und Holz-Aficionados ist eine Art Glaubenskrieg entstanden. Fragt sich nur: Warum fällt uns das Differenzieren so schwer? Und ist diese Entweder-oder-Diskussion überhaupt zielführend? Wir haben uns auf den Weg in den Bregenzerwald begeben, auf nach Hittisau, wo seit über drei Jahrzehnten Markus Faißt mit genau diesem emotionalisierenden Baustoff arbeitet. Ein Gespräch über Holz.

STANDARD: Ihre Adresse könnte kaum schöner klingen: Nussbaum 361. Ein Omen?

Faißt: Die schönste Adresse der Welt! Über dieses kleine Glück habe ich mich stets gefreut. Tatsächlich gab es hier in der Gegend früher mal viele Nussbäume.

STANDARD: Haben Sie ein Lieblingsholz?

Faißt: Mein Lieblingsholz ist ohne jeden Zweifel die Ulme, die hier zwar heimisch ist, aber aufgrund des Ulmensterbens leider immer seltener anzutreffen ist.

STANDARD: Warum gerade die Ulme?

Faißt: Kein anderes Holz ist so charakterstark wie die Ulme – mit vielen Farben, von einem zarten Beige über ein nussiges Rehbraun bis hin zu einem kernigen Graubraun, sehr warmen Nuancen, einer vielschichtigen, dynamischen, unregelmäßigen Ringzeichnung, mit vielen schönen Einschlüssen, noch dazu hart, robust, resilient.

STANDARD: Sie arbeiten mit Holz aus der Region?

Faißt: Ich verwende ausschließlich Holz aus dem Bregenzerwald. Im Winter geschlagen, abhängig von den Mondphasen, nach dem Schneiden jahrelang getrocknet und dann erst im Werk weiterverarbeitet. Für hochwertiges Holz benötigt man ein Jahr Trocknungszeit pro Zentimeter Brettstärke. Holzverarbeitung ist ein sehr langsames, langwieriges Geschäft – wie guter Parmesan, wie guter Prosciutto.

STANDARD: Warum soll das Holz im Winter geschlagen werden?

Faißt: Eine Baumfällung ist ein sehr aggressiver Akt. Im Winter sind das Holz und auch der ganze Wald in einer Art Winterschlaf: Die Vegetationskurve ist auf null runtergefahren, die oberste Schicht des Waldbodens ist trocken und im Idealfall gefroren, die Säfte im Stamm haben sich zurückgezogen, die Kapillargefäße sind verschlossen, die Rinde ist hart und robust. Auf diese Weise fügt man dem Wald als Biotop und dem Holz als geerntetes Produkt den geringsten Schaden zu.

STANDARD: Sie schlagen nach Mondphasen?

Faißt: Der Mond ist für mich in einer ziemlichen langen Kette verschiedener Faktoren ein Anteil, den ich mir angeeignet habe zu beachten. Das ist kein esoterischer Hokuspokus, sondern belegbare Erfahrungswissenschaft.

STANDARD: Von den Medien werden Sie oft als Holzpapst bezeichnet. Gefällt Ihnen die Zuschreibung?

Faißt: Ich weiß zu schätzen, dass die Worterfindung wahrscheinlich als Kompliment gedacht war, aber mir geht sie mittlerweile auf die Nerven. Fakt ist: Ich denke, handle und arbeite im Sinne einer ökologischen Nachhaltigkeit und regionalen Wertschöpfungskette – und das mitunter konsequent und kompromisslos, in einer krassen Diametralität jedenfalls zur industriellen Holzverarbeitung. Wenn diese Wertehaltung als päpstlich wahrgenommen wird, soll’s mir recht sein.

STANDARD: Diese Ideologie, die Ihnen immer wieder zugeschrieben wird, findet sich nun auch in der Architektur: Zwischen den puristischen Holzarchitekten und jenen, die in Hybridbauweise bauen und den Holzbau mit Stahl, Beton oder Ziegel kombinieren, ist ein Glaubenskrieg entstanden. Woher kommt dieser fast schon religiöse Fanatismus?

Faißt: Ja, das deckt sich auch mit meiner Beobachtung. Ich freue mich zwar immer, wenn ich von neuen Superlativen im Holzbau höre: das höchste Holzhochhaus! Das erste Holzhaus ganz ohne Beton! Oder die schnellste Baustelle dank Vorfertigung und Modulbauweise! Aber Superlative sind nichts für die breite Masse.

STANDARD: Sondern?

Faißt: Das sind tolle Projekte zum Ausprobieren, zum Experimentieren, zum Ausreizen der technischen, logistischen und ökologischen Grenzen – gerne mit Fehlern, Lernkurven und Entwicklungspotenzialen! Wir brauchen solche Denklabore! Wichtig, wichtig, wichtig! Aber wie jede Entwicklung, die in den Kinderschuhen, später im jugendlichen Sturm und Drang und schließlich in einer euphorischen, immer noch leicht naiven Adoleszenz steckt, müssen diese Experimente früher oder später wieder auf den Boden gebracht werden.

STANDARD: Worin äußert sich diese naive Adoleszenz?

Faißt: In der Polemik, die so polemisch ist wie die aktuelle Politik: Holz gut, Beton böse. Und nicht zuletzt im absoluten Irrglauben, dass man alles in Holz bauen muss.

STANDARD: Geht sich das überhaupt aus?

Faißt: Nein! Pro Jahr werden in Österreich rund 26 Millionen Festmeter Holz geerntet. Und das bei einem jährlichen Zuwachs von 29 Millionen Festmetern. Damit haben wir also noch elf Prozent Spielraum. Dann ist Schluss.

STANDARD: Laut Pro Holz Austria wird bereits ein Viertel der Baukubatur in Holz errichtet. Damit hat sich der Anteil innerhalb von 20 Jahren mehr als verdoppelt.

Faißt: Das freut mich zu hören. Nun sollten wir noch evaluieren, wo der Einsatz sinnvoll ist – und wo bloß dumm und dogmatisch.

STANDARD: Wo ist Holz sinnvoll?

Faißt: Erstens: überall dort, wo es verfügbar ist, bitte lokal und regional denken! Und zweitens: überall dort, wo das Holz möglichst lange im Primäreinsatz und danach hoffentlich nochmal so lange im Sekundäreinsatz ist – also in der Wiederverwendung, im Upcycling oder im Downcycling.

STANDARD: Was bedeutet „lange“ im Holzjargon?

Faißt: Wissen Sie, wie lange ein Baum wachsen musste, bis er gefällt werden kann? 80, 90, 100 Jahre! Mindestens so lange muss das Holz im Einsatz sein, um eine positive Bilanz zu erzielen. Überall dort, wo das Holz so exponiert, so ungeschützt und so unintelligent eingesetzt ist, dass man es nach 20 oder 30 Jahren schon wieder rausreißen muss, ist dies eine verantwortungslose Zerstörung dieser kostbaren Ressource. Darf ich mir was wünschen?

STANDARD: Bitte!

Faißt: Wir müssen endlich wegkommen von diesem ideologischen Wunschdenken. Holzbau ist keine Religion und keine Glaubensfrage. Wir brauchen dringend eine ökonomische Betrachtung, eine langfristige Bilanzierung, eine exakte, ehrliche Evaluation. Das ist der einzig gangbare Weg in die Zukunft.

STANDARD: Welche Trends sehen Sie auf uns zukommen?

Faißt: Auf konstruktiver Ebene wurde in den letzten Jahren schon viel experimentiert. Mit Erfolg. Die Belastbarkeit und Einsatzfähigkeit von Holz hat sich bei gleichzeitiger Reduktion von Gewicht, Volumen und Materialeinsatz seitdem deutlich reduziert. Ich bin davon überzeugt, dass wir in Zukunft noch einige chemische Erfindungen und Optimierungen erleben werden. In Anbetracht eines intelligenten Ressourceneinsatzes kann ich das – selbst als traditioneller Tischlermeister – nur begrüßen.

STANDARD: Ich habe Sie zu Beginn nach Ihrem Lieblingsholz befragt. Gibt es denn auch ein Holz, das Sie ganz und gar nicht mögen?

Faißt: Lange Zeit hat Buche die Liste meine Antipathie angeführt. Ich habe immer gesagt: Buchenholz, das ist die Thujenhecke der Tischler.

STANDARD: Und jetzt?

Faißt: Buche ist bei Tischlern und Architektinnen seit Jahren schon so dermaßen uncool und unbeliebt, dass wir heute auf tausenden Tonnen unverkaufter Buche sitzen – und das, obwohl das Holz fest, robust, günstig und mit der entsprechenden Behandlung auch ästhetisch ist. Daher will ich an dieser Stelle eine Lanze für die Buche brechen. Ich will, dass wir die Buche wieder lieben lernen.

Markus Faißt (62) lebt und arbeitet in Hittisau im Bregenzerwald. Er machte eine Meisterausbildung zum Tischler und übernahm 1993 die Holzwerkstatt seines Vaters. Er verarbeitet ausschließlich unbehandeltes Vollholz aus den regionalen Wäldern. 2024 wurde er als Unternehmer des Jahres ausgezeichnet.

Publikationen

2024

Wien Museum Neu

Der Band ist eine visuelle und essayistische Reflexion über ein bedeutendes Kultur-Bauprojekt an einem der zentralen Orte Wiens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karlskirche, Künstlerhaus und Musikverein.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2022

mittendrin und rundherum
Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt Ein nonconform Lesebuch

Seit über 20 Jahren ist nonconform in Deutschland und Österreich in der räumlichen Transformation tätig. Architektur ist für das interdisziplinäre Kollektiv nie bloß ein fertiges, fotogenes Resultat, sondern immer auch ein lustvoller, horizonterweiternder Prozess, in den die Bürger:innen einer Gemeinde,
Hrsg: Wojciech Czaja, Barbara Feller
Verlag: JOVIS

2022

Brick 22
Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur

Vom handgemachten Ziegelstein zum hoch entwickelten modernen Produkt: Das Bauen mit gebrannten Tonblöcken schöpft heute aus einem Erbe von neun Jahrtausenden Baugeschichte und dank ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, ihrer konstruktiven Qualitäten und ihrer Nachhaltigkeit sind Ziegel bis heute
Hrsg: Wienerberger AG
Autor: Wojciech Czaja, Anneke Bokern, Christian Holl, Matevž Celik, Anna Cymer, Isabella Leber, Henrietta Palmer, Anders Krug
Verlag: JOVIS

2021

Frauen Bauen Stadt

Wie weiblich ist die Stadt von morgen? Im Jahr 2030 werden weltweit 2,5 Milliarden Frauen in Städten leben und arbeiten. Traditionell war die Arbeit am Lebenskonzept Polis in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung jedoch männlich dominiert. Frauen Bauen Stadt porträtiert 18 Städtebauerinnen aus
Hrsg: Wojciech Czaja, Katja Schechtner
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

Almost
100 Städte in Wien

Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 aus Frust auf die Vespa und begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden. Er fuhr in versteckte Gassen, unbekannte Grätzel und fernab liegende Adressen am Rande der Stadt
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2018

Hektopolis
Ein Reiseführer in hundert Städte

Jede Stadt ist anders. Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter, aber auch ihre ganz eigenen Geschichten. Der vielreisende Stadtliebhaber Wojciech Czaja widmet sich in seinem Buch Hektopolis genau diesen ortsspezifischen, feinstofflichen Beobachtungen, Erlebnissen und Anekdoten. Porträtiert werden hundert
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2017

Motion Mobility
Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien

In einem von der Grundstückssuche bis zur Fertigstellung interdisziplinären Prozess planten Pichler & Traupmann Architekten, FCP Fritsch, Chiari & Partner als Ingenieure und das Beratungsunternehmen M.O.O.CON in Zusammenarbeit mit der Agentur Nofrontiere Design und SIDE Studio für Information Design
Autor: Wojciech Czaja, Matthias Boeckl
Verlag: Park Books

2012

Wohnen in Wien
20 residential buildings by Albert Wimmer

Wie wohnen die Wienerinnen und Wiener? Inwiefern decken sich architektonisches Konzept und gelebter Alltag? Der Architekturjournalist Wojciech Czaja und die Fotografin Lisi Specht werfen gemeinsam einen Blick hinter die Fassaden des geförderten Wiener Wohnbaus und bitten die Mieter und Eigentümerinnen
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: SpringerWienNewYork

2012

Zum Beispiel Wohnen
80 ungewöhnliche Hausbesuche

Wohnen ist eine zutiefst persönliche Sache. Kein Raum in unserem Leben steht uns so nahe wie unsere eigene Wohnung, wie unser eigenes Haus. Die beiden Autoren Wojciech Czaja und Michael Hausenblas reisen quer durch Österreich und sind zu Besuch bei Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wirtschaft. Die
Autor: Wojciech Czaja, Michael Hausenblas
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

91° More than Architecture

Architektinnen und Architekten sind Arbeitstiere. Viele von ihnen arbeiten zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 50 Wochen im Jahr. Die wenige Zeit, die zwischen den dichten Arbeitsstunden noch übrig bleibt, ist wie ein Heiligtum und muss als solches respektiert werden. In diesem Sinne ist 91°
Hrsg: Wojciech Czaja, Eternit Österreich, Dansk Eternit Holding
Verlag: Birkhäuser Verlag

2007

Periscope Architecture
gerner°gerner plus

Vor zehn Jahren haben Andreas und Gerda Gerner mit einem Einfamilienhaus begonnen: „Für ein erstes Projekt ist das Haus Hinterberger sehr unkonventionell. Wir haben uns permanent gefragt: Trauen wir uns das? Seitdem hat man sich oft aus dem Fenster gelehnt“ Entstanden ist das schwebende Haus Südsee in
Hrsg: GERNER GERNER PLUS.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Verlag Holzhausen GmbH

2005

Wir spielen Architektur
Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit

Was ist eigentlich ein Kind? Der Jurist wird uns darauf eine andere Antwort geben als der Soziologe, der Pädagoge eine andere als der Philosoph. Und der Architekt? Wird er schweigen und weiterbauen?
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Sonderzahl Verlag