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16. Januar 2016 Der Standard

Aus­tria sucht die Su­per­stadt

Graz 2003, Linz 2009 – was kommt als Näch­stes? Im Jahr 2024 wird Ös­ter­reich wie­der ei­ne Kul­tur­haupt­stadt stel­len. Ei­ne en­ga­gier­te Schar von Ar­chi­tek­ten, Ak­ti­vis­ten und Stu­den­ten will die Aus­wahl nicht den Be­am­ten über­las­sen.

Vor ge­nau ei­nem Jahr knirsch­te es in ei­nem bel­gi­schen Ge­bälk. Aus der spek­ta­ku­lä­ren Wol­ke aus rot be­mal­ten Holz­lat­ten, die der hei­mi­sche Künst­ler Ar­ne Quin­ze im Stadt­zen­trum von Mons in­stal­liert hat­te, krach­ten An­fang Jän­ner 2015 meh­re­re Stü­cke zu Bo­den. Kurz da­rauf wur­de das ge­sam­te 400.000 Eu­ro teu­re Kunst­werk aus Si­cher­heits­grün­den ein­ge­stampft. Was ein fei­er­li­cher Auf­takt des Kul­tur­haupt­stadt­jahrs hät­te wer­den sol­len, wur­de ei­ne un­sanf­te Lan­dung noch vor dem Start. Da­bei hat­te man al­les auf­ge­bo­ten: ei­nen neu­en teu­ren Bahn­hof von Sta­rar­chi­tekt San­tia­go Ca­la­tra­va, der lei­der erst 2018 fer­tig wird, und ein Mu­se­um von Sta­rar­chi­tekt Da­ni­el Li­be­skind, das aus­sieht wie ein B-Klas­se-Li­be­skind-Mu­se­um aus der Se­rien­pro­duk­ti­on. Am En­de des Jah­res hat­te Mons den­noch die an­ge­peil­te Mar­ke von zwei Mil­lio­nen Be­su­chern über­trof­fen. Ob dies ein lang­fri­sti­ger Er­folgs­ga­rant ist und die In­ves­ti­ti­ons­kraft­ak­te die wal­lo­ni­sche In­dus­trie­re­gi­on auf Dau­er kul­tur­ell be­le­ben, wird sich erst noch zei­gen.

Gut mög­lich, dass die Me­ga­bau­ten in Mons die letz­ten Di­no­sau­ri­er ih­rer Art sind. Der Ver­such von klein­eren Groß­städ­ten und grö­ße­ren Klein­städ­ten, über Sig­na­tu­re-Build­ings den Auf­stieg in die er­ste Li­ga zu schaf­fen, glückt nicht im­mer, eben­so we­nig wie der Ver­such, ein Kul­tur­haupt­stadt­jahr als Start­ram­pe in ei­ne gold­ene Zu­kunft zu nut­zen. Denn pünkt­lich zum 1. Jän­ner des Folg­ejahrs ist die in­ter­na­tio­na­le Auf­merk­sam­keit schlag­ar­tig weg.

Dol­lar­zei­chen in den Au­gen

Die Zeit der Mo­nu­men­te scheint vor­bei. Im­mer mehr Kul­tur­haupt­städ­te ver­su­chen, auf dem Nähr­bo­den auf­zu­bau­en, den sie ha­ben, und re­gio­nal zu ko­ope­rie­ren, wie es et­wa das Ruhr­ge­biet 2010 ge­tan hat. In des­sen la­ko­nisch-hand­fes­tem Ar­bei­ter­mi­lieu sind ri­va­li­sie­ren­de Stadt­ei­tel­kei­ten (sieht man vom Fuß­ball ab) we­ni­ger aus­ge­prägt, au­ßer­dem hat man schon bei der er­folg­rei­chen In­ter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung (IBA) Em­scher Park die re­gio­na­le Ko­ope­ra­ti­on ge­übt.

Die Ge­schich­te der eu­ro­päi­schen Kul­tur­haupt­städ­te seit dem Auf­takt 1985 in At­hen ist ein eben­so wil­des Auf und Ab von Er­folg und Ka­ta­stro­phen wie die Ge­schich­te der Aus­tra­gungs­or­te der Olym­pi­schen Spie­le. Heh­re eu­ro­päi­sche Idea­le tra­fen auf Dol­lar­zei­chen in den Au­gen von Lo­kal­po­li­ti­kern, oft folg­te ei­nem Jahr vol­ler fei­er­fro­her Events ein vor al­lem fi­nanz­iel­ler Kopf­weh-Ka­ter. Man­che, wie Glas­gow 1990 oder eben das Ruhr­ge­biet 2010, gel­ten als Er­folg, an­de­re, vor al­lem klein­ere Städ­te wie Wei­mar und Ma­ri­bor ver­schul­de­ten sich auf Jah­re. Mar­seil­le und Aix-en-Pro­ven­ce strit­ten sich noch im Aus­tra­gungs­jahr 2013 über die kor­rek­te Na­mens­nen­nung. 2016 muss man sich um das quir­li­ge Wroc­ław eher we­nig Sor­gen ma­chen, wäh­rend die Vor­be­rei­tun­gen im bas­ki­schen San Se­bas­ti­an von jah­re­lan­gen Pro­tes­ten be­glei­tet wur­den.

In Ös­ter­reich gel­ten Graz 2003 und Linz 2009 als weit­ge­hend er­folg­reich, wenn auch Graz-2003-Ge­schäfts­füh­rer Ebe­rhard Schrempf zehn Jah­re spä­ter klag­te, man ha­be die da­mals auf­ge­bau­te Mar­ke in den Folg­ejah­ren ver­küm­mern las­sen. 15 Jah­re nach Linz wird Ös­ter­reich 2024 wie­der an der Rei­he sein. Graz und Linz wer­den wohl eben­so we­nig an­tre­ten wie die Haupt­stadt Wien, denn die Aus­wahl kon­zen­triert sich in­zwi­schen auf die oft über­se­he­nen und doch mit ganz ei­ge­ner Kul­tur ge­seg­ne­ten „Zwei­ten Städ­te“. Salz­burg wie­der­um ist in sei­ner ganz ei­ge­nen Kul­tur auf al­le Ewig­keit in Er­star­rung fest­ze­men­tiert. Auf wel­che der recht über­schau­ba­ren üb­rig­blei­ben­den Groß­städ­te soll al­so die Wahl fal­len?

Das hat sich auch Eli­sa­beth Leit­ner ge­fragt. Die Ar­chi­tek­tin und Do­zen­tin an der TU Wien hat über Eu­ro­pas Kul­tur­haupt­städ­te pro­mo­viert und wur­de na­tur­ge­mäß neu­gie­rig, als Ös­ter­reich den 2024-Slot be­kam. Beim zu­stän­di­gen Bun­des­kanz­ler­amt hieß es je­doch le­dig­lich, man be­ab­sich­ti­ge, nach Vor­schrift im Jahr 2018 aus­zu­schrei­ben. „Ich dach­te: Das kann es ja nicht sein!“, sagt Eli­sa­beth Leit­ner im Ge­spräch: „So ei­ne Ent­schei­dung muss viel frü­her dis­ku­tiert wer­den, und zwar in der Öf­fent­lich­keit!“ Dies, zu­mal sich ab 2020 das EU-Re­gel­werk än­dert. An­statt wie bis­her ei­ne aus na­tio­na­len und in­ter­na­tio­na­len Ver­tre­tern ge­misch­te Ju­ry wird zu­künf­tig ein Pa­nel aus 13 un­ab­hän­gi­gen Ex­per­ten ent­schei­den. Da­run­ter auch Ex­per­ten für Stadt­ent­wi­cklung.

Selbst­lo­se Ei­gen­ini­tia­ti­ve

„Der Er­folg der Kul­tur­haupt­städ­te wird im Nach­hi­nein im­mer an Näch­ti­gungs­zah­len und rea­li­sier­ten spek­ta­ku­lä­ren Bau­pro­jek­ten ge­mes­sen“, sagt Leit­ner. „Aber es geht um Stadt­ent­wi­cklung, und da­rin steckt so viel mehr.“ Nach­dem sich beim Bun­des­kanz­ler­amt we­nig Be­we­gung zeig­te, schrieb sie kur­zer­hand al­le ös­ter­rei­chi­schen Hoch­schu­len an, und be­kam von al­len prompt ei­ne Ant­wort. Schon zwei Mo­na­te spä­ter wa­ren die Ini­tia­ti­ve „Kul­tur­haupt­stadt 2024“ und ei­ne bun­des­wei­te Lehr­ver­an­stal­tung auf die Bei­ne ge­stellt. Mehr als 100 Stu­den­ten der Ar­chi­tek­tur und Stadt­pla­nung von acht Uni­ver­si­tä­ten ver­netz­ten sich un­ter­ein­an­der, reis­ten im gan­zen Land um­her und mach­ten sich Ge­dan­ken über kul­tu­rel­le Räu­me. Im Herbst 2015 war dank selbst­los-stu­den­ti­scher Ei­gen­ini­tia­ti­ve ei­ne Wan­der­aus­stel­lung mit be­glei­ten­den Dis­kuss­io­nen auf die Bei­ne ge­stellt.

Die aus­ge­stell­ten Kon­zep­te sind nicht we­ni­ger als ei­ne um­fas­sen­de und gren­zü­ber­schrei­ten­de Ös­ter­reich-Ana­ly­se im Schnell­durch­lauf: ei­ne bis in die Schweiz rei­chen­de Kul­tur­re­gi­on Rhein­tal, ei­ne Li­nie ent­lang der Drau von Ost­ti­rol über Kärn­ten bis Slo­we­nien, die tri­na­tio­na­le pan­no­ni­sche Tief­ebe­ne, Adre­na­lin­sprit­zen für dar­ben­de In­dus­trie­re­gio­nen wie das Mur­tal und Ei­sen­erz oder die „Un­sicht­ba­re Kul­tur­haupt­stadt Trans­kir­chen“. An­de­re ana­ly­sie­ren und kri­ti­sie­ren das Sys­tem Kul­tur­haupt­stadt selbst und lie­fern Vor­schlä­ge zu ei­nem de­mo­kra­ti­schen Ab­stim­mungs­ver­fah­ren.

Vo­ri­gen Mitt­woch wur­de die Aus­stel­lung nach Sta­tio­nen in Graz, Bre­genz und Inns­bruck im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (Az W) er­öff­net, und ein dicht be­setz­tes Po­di­um warf Fra­gen über Fra­gen auf: Wel­che kri­ti­sche Mas­se braucht ei­ne Kul­tur­haupt­stadt, um er­folg­reich zu sein? Und wie viel Geld? Funk­tio­nie­ren gren­zü­berg­rei­fen­de Kul­tur­haupt­städ­te? Soll man das The­ma Flücht­lin­ge und Mig­ra­ti­on mit­ein­be­zie­hen? Wel­che Rol­le spie­len Bau­kul­tur und Tou­ris­mus? Braucht Eu­ro­pa wirk­lich ei­ne Kul­tur­haupt­stadt Mis­tel­bach oder Bad Ischl? Muss es über­haupt ei­ne Stadt sein? Zu­sam­men­fas­send könn­te man fra­gen: Wie ur­ban ist Ös­ter­reich ei­gent­lich, und wie ur­ban will es über­haupt sein? Hat die in­zwi­schen fast be­ses­se­ne Fi­xie­rung auf das Re­gio­na­le, vom Wald­viert­ler Bio­würstl bis zu bur­gen­län­di­schen Mu­sik­fes­ti­vals, ein al­pin-kul­tu­rel­les Po­ten­zi­al jen­seits von Mu­si­kan­ten­stadl und Win­ter­sport­mar­ke­ting?

Min­der­hei­ten ein­be­zie­hen

„Ei­ne Kul­tur­haupt­stadt auf die Bei­ne zu stel­len, be­deu­tet sechs Jah­re Kno­chen­ar­beit. Man braucht cha­ris­ma­ti­sche Per­so­nen und muss von an­de­ren Städ­ten ler­nen“, sagt Eli­sa­beth Vi­touch, Mit­glied der EU-Kul­tur­haupt­stadt-Ju­ry. 60 Mil­lio­nen Eu­ro müs­se man auf je­den Fall in die Hand neh­men. Die Schwer­punk­te än­der­ten sich je­doch per­ma­nent. „Die Zeit der Groß­pro­jek­te ist vor­bei, heu­te geht es um die Bür­ger. Das ita­lie­ni­sche Ma­te­ra, Kul­tur­haupt­stadt 2019, ist zwar mit 60.000 Ein­woh­nern ei­gent­lich zu klein, aber die Be­woh­ner wol­len das un­be­dingt.“ Wich­tig sei es, Min­der­hei­ten mit­ein­zu­be­zie­hen. Das slo­wa­ki­sche Ko­ši­ce, das just im Aus­tra­gungs­jahr 2013 Mau­ern um Ro­ma-Sied­lun­gen er­rich­te­te, gilt als ab­schre­cken­des Bei­spiel.

„Die Zeit der Sig­na­tu­re-Build­ings ist vor­bei, es geht um Pro­zes­se“, ist auch Eli­sa­beth Leit­ner über­zeugt. Von mil­lio­nen­schwe­ren Min­dest­bud­gets sol­le man sich je­doch nicht ab­schre­cken las­sen, sagt sie. „Kul­tur­haupt­stadt muss ein bissl weh­tun. Das scha­det nicht! Aber ich bin ab­so­lut über­zeugt: Es gibt ein Re­gel­werk, aber es gibt auch viel Spiel­raum, um Stadt an­ders zu den­ken. Wir soll­ten nicht zu­rück­schau­en, son­dern nach vor­ne und uns fra­gen: Was ist Kul­tur im Jah­re 2030? Spä­tes­tens 2018 wird fests­te­hen, wel­che Stadt oder Re­gi­on für Ös­ter­reich in den Ring steigt. Die Dis­kuss­ion ist jetzt schon er­öff­net.

19. Dezember 2015 Wojciech Czaja
Der Standard

Kons­truk­ti­ve Her­bergs­su­che

Ös­ter­reich stellt sich auf der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 dem The­ma Flücht­lin­ge. Doch Ge­dan­ken da­rü­ber ha­ben sich die Ar­chi­tek­ten schon län­ger ge­macht. Da­bei geht es nicht um Hoch­glanz-Meis­ter­wer­ke, son­dern um ganz ein­fa­che Din­ge.

Manch­mal hilft es, sich aufs We­sent­li­che zu be­sin­nen, auch wenn die­ses We­sent­li­che auf den er­sten Blick ba­nal er­scheint. „Or­te für Men­schen“, der Ti­tel des Ös­ter­reich-Bei­trags für die Ar­chi­tek­tur-Bien­na­le 2016 ist so ein Fall. Or­te für Men­schen – das ist im Grun­de ei­ne Tä­tig­keits­be­schrei­bung für das, was Ar­chi­tek­ten tun.

Doch das All­ge­mei­ne re­sul­tier­te aus dem Aku­ten: „Im Som­mer, als wir beim Brains­tor­ming zum Bien­na­le-Bei­trag sa­ßen, hat uns das The­ma Flücht­lin­ge stark be­wegt“, er­klär­te Bien­na­le-Kom­mis­sä­rin El­ke De­lu­gan-Meissl bei der Prä­sen­ta­ti­on des Kon­zepts An­fang die­ser Wo­che. Die 2016 in Ve­ne­dig aus­ge­stell­ten Or­te für Men­schen wer­den da­her drei kon­kre­te Stand­or­te in Wien sein, an de­nen sich die Te­ams Ca­ra­mel Ar­chi­tek­ten, the Next Ent­er­pri­se und Eoos in den näch­sten Mo­na­ten zur neu­en Hei­mat für Flücht­lin­ge wer­den las­sen.

So om­ni­prä­sent war und ist das The­ma in die­sem Jahr, dass es kaum wun­dert, dass auch an­de­re Bien­na­le-Na­tio­nen sich sei­ner an­ge­nom­men ha­ben: Deutsch­lands Bei­trag steht un­ter dem be­wusst pro­vo­kan­ten Mot­to: „Ma­king Hei­mat. Ger­ma­ny, Ar­ri­val Coun­try.“ Ganz im Sin­ne des Mer­kel’schen „Wir schaf­fen das!“ sol­len da­bei deut­sche An­kunfts­städ­te un­ter­sucht und die Er­geb­nis­se ei­nes „Call for Pro­jects“ vor­ge­stellt wer­den, den das Deut­sche Ar­chi­tek­turm­useum Frank­furt (DAM) im No­vem­ber aus­sand­te, um Bau­ide­en für Flücht­lin­ge zu sam­meln.

Dass dies kei­ne Schau der Hoch­glanz­vi­sio­nen wird, ist ab­zu­se­hen, denn die Bei­trä­ge, die Ar­chi­tek­ten bis­her zur kons­truk­ti­ven Nots­tands­hil­fe ge­leis­tet ha­ben, sind be­wusst prag­ma­tisch. Schon 2014 fan­den sich in Wien die IG Ar­chi­tek­tur und die NGO „Ar­chi­tek­tur oh­ne Gren­zen“ zu­sam­men, um sich un­ter dem Mot­to „Kein Ort. Nir­gends“ in Ar­beits­grup­pen auf die Su­che nach Lö­sun­gen zu ma­chen. Ei­ne da­von ist die In­nen­ge­stal­tung der Asyl­be­wer­be­run­ter­kunft Haus Da­ria, das die Ca­ri­tas in Wien-Fa­vor­iten be­treibt. Der Be­darf, so die be­tei­lig­ten Ar­chi­tek­ten uni­so­no, sei eben vor al­lem die Mo­bi­li­sie­rung des Leers­tands. Ein schi­ckes De­sig­ner-Flücht­lings­heim auf dem Prä­sen­tier­tel­ler wür­de wohl bei al­len Be­tei­lig­ten für Ma­gen­grim­men sor­gen.

An­ge­sichts des sen­si­blen The­mas war Ös­ter­reichs Bien­na­le-Te­am be­müht, zu be­to­nen, es ge­he ge­ne­rell um Räu­me für Hilfs­be­dürf­ti­ge, ob Flücht­lin­ge oder nicht. Auch ein Sym­po­si­um un­ter dem Ti­tel „Ho­me not Shel­ter“ am vo­ri­gen Wo­che­nen­de fass­te den Rah­men wei­ter, bis hin zum leist­ba­ren Woh­nen. „Ho­me not Shel­ter“ ist ei­ne Ko­ope­ra­ti­on der TU Wien mit vier deut­schen Hoch­schu­len zum The­ma „Ge­mein­sam le­ben statt ge­trennt woh­nen.“ Die Er­geb­nis­se wer­den 2016 zu se­hen sein. „Es geht bei der Auf­ga­be da­rum, so pro­gram­ma­tisch zu den­ken, dass die Me­tho­de auch an­dern­orts an­ge­wen­det wer­den kann“, sagt Ale­xan­der Hag­ner von Gau­pen­raub Ar­chi­tek­ten, der die Wie­ner Stu­den­ten be­treut.

Eben­falls Teil des Te­ams ist die Leib­niz-Uni­ver­si­tät Han­no­ver, dort ent­war­fen Ar­chi­tek­turs­tu­den­ten schon im Rah­men ei­nes Wett­be­werbs Woh­nun­gen für Flücht­lin­ge. Der Ti­tel: „The Peo­ples Pro­ject“. Mit­te die­ser Wo­che wur­den die be­sten Pro­jek­te von ei­ner Ju­ry aus­ge­wählt. Bis Fe­bru­ar 2016 sol­len die Ent­wür­fe wei­ter­ent­wi­ckelt und an­schlie­ßend auf dem Ge­län­de vor der Fa­kul­tät für Ar­chi­tek­tur und Land­schaft in Han­no­ver-Her­ren­hau­sen ge­baut und be­wohnt wer­den.

Men­schen­wür­di­ger Wohn­raum

„Die schein­bar so gro­ßen Hin­der­nis­se wie die Ein­hal­tung tech­ni­scher und äs­the­ti­scher Stan­dards so­wie die Be­zahl­bar­keit durch die öf­fent­li­che Hand sind über­wind­bar, wie die Pra­xis un­miss­ver­ständ­lich zeigt“, sagt Mar­kus Gild­ner, Ini­ti­ator und Ent­wi­ckler des Pro­jekts. „Es ist mög­lich, Flücht­lin­gen ei­nen men­schen­wür­di­gen Wohn­raum in­mit­ten un­se­rer Ge­sell­schaft zu bie­ten. Es braucht nur ech­ten Wil­len, mu­ti­ge In­ves­to­ren, wil­li­ge Be­hör­den­lei­ter und ehr­gei­zi­ge Po­li­ti­ker.“

Und manch­mal auch die Pri­vat­ini­tia­ti­ve ei­ni­ger we­ni­ger Pro­ta­go­nis­ten. Im Inns­bru­cker Stadt­vier­tel Sag­gen, nur ei­nen Stein­wurf von der In­nens­tadt ent­fernt, wur­de En­de No­vem­ber die „HER­ber­ge“ fer­tig­ge­stellt. Das Pro­jekt um­fasst 45 Wohn­ein­hei­ten für ins­ge­samt 131 Flücht­lin­ge. Die Re­vi­ta­li­sie­rung des ehe­ma­li­gen Klos­ter­schu­len-Mäd­chen­wohn­heims, das 1960 er­rich­tet wur­de und seit 2008 leers­tand, geht auf ei­ne Ini­tia­ti­ve des Or­dens der Barm­her­zi­gen Schwes­tern zu­rück.

„Tat­sa­che ist, dass die Kir­che über ei­ni­ge leers­te­hen­de Bau­ten ver­fügt“, sagt Schwes­ter Pia Re­gi­na im Ge­spräch mit dem Stan­dard . Die 71-Jäh­ri­ge ist Pro­vinz­vi­ka­rin der Barm­her­zi­gen Schwes­tern und war in das Pro­jekt stark in­vol­viert. „Nach­dem es un­se­re Auf­ga­be als Or­den ist, Men­schen in der Not zu hel­fen, war für uns klar, dass wir die Zur­ver­fü­gungs­tel­lung des ehe­ma­li­gen Wohn­heims auf un­se­rem Grund­stück als Auf­trag se­hen müs­sen. Wir sind zwar schon alt, und ei­ni­ge von uns kön­nen nicht mehr rich­tig zu­pa­cken, aber das war der Bei­trag, den wir leis­ten kön­nen.“

Das Ge­bäu­de wur­de ge­dämmt, mit neu­en Sa­ni­tär- und Elek­tro­ins­tal­la­tio­nen aus­ge­stat­tet so­wie mit ei­ner neu­en Hei­zung ver­se­hen. Pro Ge­schoß gibt es nun ein bis zwei Bal­ko­ne, die als Frei­raum, Wä­sches­tän­der und Open-Air-Rauch­kam­merl die­nen. Da­rü­ber hin­aus wur­de das ge­sam­te Haus mö­bliert und mit Son­der­räu­men wie et­wa Spiel­zim­mer, Näh­zim­mer und Fit­ness­raum aus­ge­stat­tet. Zu den Be­wohn­ern zäh­len Fa­mi­li­en und jun­ge Män­ner aus Sy­rien, Af­gha­nis­tan, Irak, Aser­baid­schan, So­ma­lia und Ni­ge­ria.

Güns­ti­ge Bau­stof­fe

„Der Um­bau zur Her­ber­ge war ein ab­so­lu­tes Low-Bud­get-Pro­jekt“, sagt die zu­stän­di­ge Ar­chi­tek­tin Bar­ba­ra Po­ber­schnigg, Part­ne­rin im Inns­bru­cker Bü­ro Stu­dio Lo­is. „Vor dem Pro­jekt­start ha­ben wir zu­nächst ein­mal ei­ne Um­fra­ge ge­star­tet, wel­che Un­ter­neh­men Aus­lauf­mo­del­le und Fehl­be­stel­lun­gen ab­zu­ge­ben ha­ben. Auf Ba­sis die­ses Ka­ta­logs an güns­tig zu­kauf­ba­ren Bau­stof­fen ha­ben wir dann erst mit der ei­gent­li­chen Pla­nung be­gon­nen.“ Man­che Fir­men, so Po­ber­schnigg, hät­ten ih­re Pro­duk­te und Ma­te­ria­li­en so­gar kos­ten­los oder zum Ein­kaufs­preis wei­ter­ge­ge­ben.

Das Ge­samt­bud­get für Um­bau und Sa­nie­rung be­läuft sich auf 2,5 Mil­lio­nen Eu­ro. Zu­sätz­lich da­zu schlägt die Mö­blie­rung mit 1700 Eu­ro pro Zim­mer zu Bu­che. „Die Ein­rich­tung der pri­va­ten Wohn- und Schlaf­räu­me be­steht zu ei­nem gro­ßen Teil aus Fer­tig­mö­beln, die wir vor Ort mit rund 200 frei­wil­li­gen Hel­fern zwei Ta­ge lang zu­sam­men­ge­schraubt ha­ben“, er­klärt die Ar­chi­tek­tin. Die Mö­bel für die ge­mein­schaft­li­chen Wohn­be­rei­che ha­be man aus di­ver­sen Alt­be­stän­den und Woh­nungs­auf­lö­sun­gen zu­sam­men­ge­tra­gen. Ein Teil der Vin­ta­ge-Ein­rich­tung stam­me von di­ver­sen Dach­bö­den der Barm­her­zi­gen Schwes­tern.

„Wis­sen Sie, ei­ni­ge der Schwes­tern hat­ten Angst, als wir das Pro­jekt ge­star­tet ha­ben“, er­in­nert sich Schwes­ter Pia Re­gi­na. „Aber ich den­ke, die Men­schen brau­chen sich nicht zu fürch­ten. Die Er­fah­rung zeigt, dass es al­len bes­ser geht, so­bald sie nicht mehr hung­rig und hei­mat­los sind. Und wir ha­ben die­sen Men­schen ei­ne Her­ber­ge ge­ge­ben. Ei­ne Her­ber­ge, die kei­ne Hal­le ist und auch kein Zelt.“

Ein Ort für Men­schen eben. Ei­ne neue Hei­mat für die Hei­mat­lo­sen und ei­ne Frisch­zel­len­kur für die Ar­chi­tek­tur, die sich ein­mal mehr ih­rer ur­ei­ge­nen Auf­ga­be ver­ge­wiss­ern kann.

15. Dezember 2015 Der Standard

For­men des Mit­ein­an­der­le­bens

Ös­ter­reichs Bei­trag zur Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2016 wird kon­kre­te Lö­sun­gen für die Un­ter­brin­gung von Flücht­lin­gen prä­sen­tie­ren

Wien – Or­te für Men­schen – un­ter die­sem Ti­tel wird der ös­ter­rei­chi­sche Bei­trag zur 15. In­ter­na­tio­na­len Ar­chi­tek­tur­bien­na­le in Ve­ne­dig 2016 (28. 5. bis 27. 11.) ste­hen. Dies ga­ben der Bun­des­mi­nis­ter für Kunst und Kul­tur Jo­sef Os­ter­may­er, die Bien­na­le-Kom­mis­sä­rin El­ke De­lu­gan-Meissl (DMAA De­lu­gan Meissl Ar­chi­tek­ten) und die Ko­ku­ra­to­rin Sa­bi­ne Dre­her vom Bü­ro Li­quid Fron­tiers am Mon­tag be­kannt.

Ähn­lich wie der deut­sche Pa­vil­lon, der un­ter dem Ti­tel Ma­king Hei­mat ste­hen wird, nimmt sich Ös­ter­reichs Bei­trag des aku­ten The­mas der Un­ter­brin­gung von Flücht­lin­gen an. Zu die­sem Ziel wur­den drei Stand­or­te in Wien aus­ge­wählt, an de­nen in den näch­sten Mo­na­ten kon­kre­te Kon­zep­te für Flücht­lin­ge ent­wi­ckelt wer­den sol­len. Die Er­geb­nis­se wer­den dann im Hoff­mann-Pa­vil­lon in den Gi­ar­di­ni aus­ge­stellt.

„Über den An­lass­fall hin­aus wol­len wir über Leers­tän­de und tem­po­rä­re Nut­zun­gen nach­den­ken und For­men des Mit­ein­an­der­le­bens ent­wi­ckeln,“ er­klär­te El­ke De­lu­gan-Meissl. „Die Ar­chi­tek­tur se­hen wir als prä­de­sti­nier­te Dis­zi­plin für die­se Auf­ga­be. Sie bie­tet seit je­her Schutz und er­mög­licht so­zia­le In­ter­ak­tio­nen.“

„Das The­ma Flücht­lin­ge be­schäf­tigt uns der­zeit in al­len Be­rei­chen, so­wohl po­li­tisch als auch kul­tur­ell,“ er­gänz­te Os­ter­may­er. „Die gro­ße Her­aus­for­de­rung ist, Ord­nung und Mensch­lich­keit si­cher­zu­stel­len und für die­se Men­schen Quar­tie­re zu schaf­fen.“

Drei Te­ams wer­den sich ge­mein­sam mit NGOs je­weils ei­nes Stand­orts an­neh­men: Die Ar­chi­tek­tur­bü­ros Ca­ra­mel und the next ent­er­pri­se so­wie die De­sig­ner Eoos. „Ich ha­be die­se Te­ams aus­ge­wählt, weil ih­re Ar­beit ei­ne star­ke Hal­tung auf­weist und weil sie schnell auf ei­ne Auf­ga­be rea­gie­ren kön­nen“, so El­ke De­lu­gan-Meissl.

Um wel­che Stand­or­te es sich han­delt, soll noch ei­ne Über­ra­schung blei­ben. Die­se stün­den je­doch prak­tisch fest und un­ter­schie­den sich so­wohl in ih­rer Grö­ße als auch in ih­rer La­ge in Wien. „Es soll da­bei ex­pli­zit nicht nur um Lö­sun­gen für Flücht­lin­ge ge­hen, son­dern ge­ne­rell um Men­schen, die in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen le­ben“, so Ku­ra­to­rin Sa­bi­ne Dre­her.

Wie die Aus­stel­lung kon­kret aus­se­hen soll, wird zur­zeit er­ar­bei­tet. Hei­mo Zo­ber­nigs In­stal­la­ti­on für die ver­gan­ge­ne Kunst­bien­na­le soll aber auf je­den Fall er­hal­ten blei­ben, so die Ku­ra­to­ren. Das vom Mi­nis­te­ri­um jähr­lich zur Ver­fü­gung ge­stell­te Bien­na­le-Bud­get von 400.000 Eu­ro wur­de durch pri­va­te Spon­so­ren auf­ge­stockt.

Die Ar­chi­tek­tur­bien­na­le, die 2016 vom chi­le­ni­schen Ar­chi­tek­ten Ale­jan­dro Ara­ve­na ge­lei­tet wird, steht un­ter dem dra­ma­tisch auf­ge­la­de­nen Mot­to „Re­por­ting from the Front“ und soll, im be­wuss­ten Ge­gen­satz zu Rem Ko­ol­haas’ kühl-ana­ly­ti­scher „Fun­da­men­tals“-Bien­na­le 2014, kon­kre­te ar­chi­tek­to­ni­sche Lö­sun­gen für aku­te Her­aus­for­de­run­gen zei­gen.

5. Dezember 2015 Wojciech Czaja
Der Standard

Ein neu­es al­tes Haus am Platz

Vor kur­zem wur­de der Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“ ent­schie­den. Da­mit ge­hen jah­re­lan­ge Stand­ort­fra­gen und Denk­mal­schutz-Dis­kuss­io­nen zu En­de. Das Sie­ger­pro­jekt von Čer­tov, Wink­ler+Ruck lie­fert er­freu­li­che Ant­wor­ten.

Der Karl­splatz, so das be­kann­te und noch gül­ti­ge Bon­mot von Ot­to Wag­ner, ist we­ni­ger ein Platz als ei­ne Ge­gend. Ein Durch­ein­an­der von We­gen und In­seln, um­stellt von bau­li­chen Schwer­ge­wich­ten. Vie­le ha­ben ver­sucht, die­se Ge­gend in den Griff zu be­kom­men. Ge­wor­den ist da­raus ei­ne Grab­stät­te un­ge­bau­ter Ide­en – auch je­ner von Ot­to Wag­ner selbst, der mit sei­nem Ent­wurf für ein neu­es Stadt­mu­se­um 1902 der Lö­sung schon sehr na­he kam. Sei­nem Bau wä­re es im­mer­hin ge­lun­gen, der do­mi­nie­ren­den Karl­skir­che kei­ne Kon­kur­renz zu ma­chen und trotz­dem selbst­be­wuss­ter Stadt­bau­stein zu sein. Kei­ne leich­te Auf­ga­be.

Dem jet­zi­gen Wien-Mu­se­um von Os­wald Ha­erdtl, er­öff­net 1959, ist das nicht ge­lun­gen – trotz al­ler Fif­ties-Ele­ganz im De­tail. Zu nie­drig, zu un­ent­schlos­sen, zu ver­huscht gibt es sich nach au­ßen, eher den An­schein des Ver­wal­tungs­baus ei­ner un­gla­mou­rö­sen Ge­werk­schaft er­we­ckend als den ei­nes stol­zen Mu­se­ums. Georg Lip­perts 1971 er­bau­tes Win­ter­thur-Haus, in un­be­hol­fe­ner Ver­mitt­lungs­ge­ste wie ein lang­ge­zo­ge­ner Kau­gum­mi zwi­schen Kir­che und Mu­se­um ge­klebt, mach­te die Sa­che auch nicht bes­ser.

Die Auf­ga­be für die Ar­chi­tek­ten beim Wett­be­werb „Wien-Mu­se­um neu“, der An­fang die­ses Jah­res aus­ge­lobt wur­de, war al­so nicht nur die Ent­wi­cklung neu­er Räu­me für das be­eng­te Mu­se­um, son­dern auch ein Sta­te­ment zum Ha­erdtl-Bau, zum Win­ter­thur-Haus, zur Karl­skir­che, zur Ge­gend Karl­splatz. Die 274 welt­wei­ten Ein­rei­chun­gen der er­sten Run­de und die da­raus aus­ge­wähl­ten 14 Pro­jek­te für die zwei­te Run­de zeig­ten dann auch die gan­ze Band­brei­te: Vie­le rück­ten den Ha­erdtl-Bau in die zwei­te Rei­he und stell­ten ei­nen neu­en So­li­tär auf den Karl­splatz, mal form­ver­liebt über­bor­dend, mal spie­le­risch, mal streng. Man­che spiegel­ten die Platz­kan­te des TU-Ge­bäu­des, um die Karl­skir­che sym­me­trisch zu rah­men. An­de­re zerr­ten und zupf­ten am Ha­erdtl-Bau he­rum oder mach­ten ihn zu ei­ner auf­ge­pump­ten XL-Ver­si­on sei­ner selbst – ei­ne Do­ping­sprit­ze fürs Selbst­be­wusst­sein. Die drit­te Grup­pe blieb mit dem Mu­se­ums­zu­bau ganz be­schei­den im Un­ter­grund und de­fi­nier­te die Er­wei­te­rung als Teil des Plat­zes.

Lo­gi­sche Auf­sto­ckung

Dass die Wahl der Ju­ry um den Vor­sit­zen­den Ema­nu­el Christ (Ba­sel) an die­sem Ort nicht auf ei­ne bom­bas­ti­sche Gug­gen­heim-Lö­sung fiel, die wild we­delnd vor der Karl­skir­che her­um­steht, ist zu be­grü­ßen. Mit dem Sie­ger­pro­jekt der Kärnt­ner Ar­chi­tek­ten Wink­ler+Ruck und des Gra­zer Ar­chi­tek­ten Fer­di­nand Čer­tov hat ei­ne lo­gisch und selbst­ver­ständ­lich wir­ken­de Auf­sto­ckung des be­ste­hen­den Mu­se­ums den Vor­zug be­kom­men.

Die ver­glas­te Fu­ge, in der der „Wien-Raum“ zu Hau­se sein wird, hält zum Ha­erdtl-Bau ei­nen re­spek­ta­blen Ab­stand und ver­leiht ihm so mehr stadt­räum­li­che Sub­stanz, oh­ne ihn da­bei kom­plett zu ver­frem­den. Vor den Bau setz­ten Čer­tov, Wink­ler+Ruck ei­nen schma­len Tor­bau – halb Bau­werk, halb Pa­vil­lon – als ein­la­den­des Sig­nal, dass es sich hier um ein Mu­se­um han­delt. Ein Mu­se­um, für das die „Ge­gend“ Karlsplatz ge­nau der rich­ti­ge Ort ist und das an die­sem Platz endlich an­ge­kom­men ist und da­ran teil­neh­men kann.

Ein neu­es al­tes Haus am Platz, 2. Teil
(Interview: Woj­ciech Cza­ja)

Den Bau­ten der ös­ter­rei­chi­schen Nach­kriegs­mo­der­ne man­gelt es an Fröh­lich­keit und Freu­de, sagt Ar­chi­tekt Ro­land Wink­ler von der AR­GE Čer­tov, Wink­ler+Ruck. Beim Wien-Mu­se­um kom­me nun im­mer­hin so et­was wie all­ego­ri­scher Spaß ins Spiel.

Stan­dard: Der Wie­ner Kul­tur­stadt­rat An­dre­as Mai­lath-Po­kor­ny hat Sie bei der Pres­se­kon­fe­renz vor kur­zem als jun­ges Kärnt­ner Te­am be­zeich­net. Ist das ein Kom­pli­ment?

Wink­ler: Ich bin froh, dass er das ge­tan hat, und froh, dass das nicht stimmt. Wir sind Mit­glied der Grup­pe „Jun­ge Ar­chi­tek­tur Kärn­ten“. Die Grup­pe ha­ben wir vor 20 Jah­ren ge­grün­det. Wir fei­ern ge­ra­de Ju­bi­lä­um.

Stan­dard: Ihr Ent­wurf ist ei­ne sehr stil­le, be­hut­sa­me Er­gän­zung zum Ha­erdtl-Bau. War die­ser zu­rück­hal­ten­der An­satz von An­fang an klar?

Wink­ler: In der Aus­schrei­bung war es ver­bo­ten, den Ha­erdtl-Bau auf­zu­sto­cken. Wir ha­ben es trotz­dem ge­macht, und zwar um zwei Ge­scho­ße bzw. um knapp zehn Me­ter, weil wir der Mei­nung sind, dass die Karl­skir­che da­mals – viel­leicht war es vor­aus­ei­len­der Ge­hor­sam – ei­nen zu schwa­chen Nach­barn be­kom­men hat. In ge­wis­ser Wei­se hat der Bau jetzt je­ne Ra­di­ka­li­tät, die dem Karl­splatz bis­lang ge­fehlt hat.

Stan­dard: Vie­le an­de­re Bü­ros ha­ben auf die Pau­ke ge­haut und ein auf­fäl­li­ges Denk­mal à la Gug­gen­heim vor­ge­schla­gen.

Wink­ler: Und das ha­ben wir zu Be­ginn auch! Da wa­ren vie­le, auch sehr wil­de Ent­wurfs­sta­dien da­run­ter. Doch die ha­ben wir al­le wie­der fal­len­ge­las­sen. Denn wenn man be­ginnt, die Schwä­che des Ha­erdtl-Baus aus­zu­glei­chen, in­dem man ihm ei­nen star­ken Bru­der da­ne­ben­stellt, dann er­zeugt man da­mit wo­mög­lich ei­nen Be­lei­dig­ten, der es ei­nem aus der zwei­ten Rei­he her­aus übel­neh­men kann. Das woll­ten wir nicht. Wir ha­ben den Ha­erdtl stark ge­macht.

Stan­dard: Ganz all­ge­mein scheint es, dass der Bau­sub­stanz aus den Nach­kriegs­jah­ren in Ös­ter­reich we­nig Lie­be ent­ge­gen­ge­bracht wird. Das Wien-Mu­se­um ist da ei­ne gro­ße Aus­nah­me. Wo­ran liegt das?

Wink­ler: Es gibt die­se ganz spe­ziel­le Qua­li­tät der 1959/60er, die wir heu­te so sehr lie­ben. Das ist das Bun­te, Lus­ti­ge, Frisch-Fröh­li­che. Das gibt es über­all auf der Welt, nur nicht bei uns. Bei der Nach­kriegs­mo­der­ne in Ös­ter­reich schwingt et­was Trau­ri­ges, et­was Schmerz­vol­les mit. Nur we­ni­ge Bau­ten aus der Wie­der­auf­bau­zeit ma­chen Spaß.

Stan­dard: Kommt jetzt ein biss­chen Spaß mit dem Wien-Mu­se­um neu?

Wink­ler: Na hof­fent­lich! Am stärk­sten wird sich das wohl an der Vor­platz­ge­stal­tung mit dem Ent­ree, dem Kaf­fee­haus und den Sitz­ge­le­gen­hei­ten vor dem Mu­se­um äu­ßern. Mein per­sön­li­cher Fa­vo­rit ist das ver­glas­te Zwi­schen­ge­schoß rund um den Wien-Raum, von dem aus man auf den Karl­splatz wird hin­aus­schau­en kön­nen. In all­ego­ri­schem Sin­ne ist das ei­ne ähn­li­che Raum­fu­ge, wie sie der Karl­splatz für Wien ist.

Stan­dard: Wie wird sich der Karl­splatz ab 2019/2020 mit dem Wien-Mu­se­um neu wei­ter­ent­wi­ckeln? Gibt es ei­ne Zu­kunfts­vi­si­on?

Wink­ler: Ich bin schon froh, wenn ich es schaf­fe, die näch­sten fünf Jah­re zu vi­sio­nie­ren! Nein, ich ha­be kei­ne Ah­nung, wie sich der Karl­splatz wei­ter­ent­wi­ckeln wird. Die­se Un­vor­her­seh­bar­keit ist mei­nes Er­ach­tens ei­ne gro­ße Qua­li­tät die­ses Or­tes – noch nie wuss­te man im Vor­hin­ein, was ei­nem der Karl­splatz als Näch­stes auf­tischt. Aber ich bin froh, dass wir mit un­se­rem Pro­jekt ei­nen klei­nen Bei­trag zum Dia­log mit un­ge­wis­sem Aus­gang lie­fern dür­fen.

14. November 2015 Der Standard

Brutalismus: Monster funken SOS

Das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt startet eine Kampagne zur Rettung des vielgeschmähten Brutalismus der 1970er-Jahre. Denn dieser erfährt gerade neue Wertschätzung. So auch das akut vom Abriss bedrohte Kulturzentrum in Mattersburg

40 Jahre: Das Alter, in dem Humanoide gerade ihren ersten Lamborghini kaufen, berufsjugendlich aufs Longboard klettern, den Agenturjob hinwerfen und sich Jungwinzer-Visitenkarten drucken lassen, ist für Gebäude des gefährlichste überhaupt. Wenn sich die ersten Zipperlein zeigen, stehen Bauwerke am Scheideweg zwischen Abriss, Neuentdeckung und Denkmalwürdigkeit. Besonders gefährdet sind diejenigen, die ihr kritisches Alter zum Höhepunkt der Vollwärmeschutz-Euphorie erleben (nämlich genau jetzt) und entweder im bauphysikalischen Rausch komplett abgerissen werden oder unter einem Einheitsplastikpullover verschwinden.

Genau dieses Schicksal erleiden zurzeit die hassgeliebten Bauten aus der Zeit des Brutalismus: die wuchtigen, aus Sichtbeton zu skulpturalen Gebirgen geformten Kirchen, Schulen, Krankenhäuser und Universitätsbauten, die in den 60er- und 70er-Jahren vor allem in der Schweiz, den USA und Großbritannien entstanden. Oft als „Betonmonster“ geschmäht, waren sie nicht selten progressive baukünstlerische Statements, bautechnisch solide ausgeführt, und funktionell durchdacht. Andere waren als Teil des technokratischen „Bauwirtschaftsfunktionalismus“ vor der Ölkrise 1973 tatsächlich vor allem auf maximale Masse aus.

Trotzdem werden auch die Besten unter ihnen nicht von der Abrissbirne verschont. Gleichzeitig wächst das Interesse an dieser rauen, charakterstarken Architektur. Handeln ist also geboten, solange die „Monster“ noch zu retten sind.

Aus diesem Grunde startete das Deutsche Architekturmuseum (DAM) Frankfurt Anfang November gemeinsam mit der Wüstenrot-Stiftung und dem Online-Architekturmagazin uncube die Kampagne SOS Brutalism. Auf der gleichnamigen Website werden herausragende Bauten aus aller Welt gesammelt, wie Tierarten katalogisiert als gerettet, gefährdet, oder ausgestorben.

Warum genau jetzt diese Rettungsaktion? „Neben dem kritischen Alter gibt es auch andere Gründe“, sagt Oliver Elser, Kurator am DAM. „Etwa einen Generationswechsel in der Denkmalpflege: Die leidenschaftlichen Gegner vieler Betonmonster erleben heute, dass ihre Nachfolger die Dinge mit unverstelltem Blick sehen. Und schließlich leben wir in populistischen Retrozeiten: Wenn allerorts Schlösser wiederaufgebaut werden, sehnt man sich doch nach Bauten mit einer gewissen Härte, die für eine andere gesellschaftliche Vision standen!“

Eine große Ausstellung zum Thema ist für Anfang 2017 am DAM geplant. Bis dahin können von Fachleuten und Laien unbekannte Schätze gehoben und veröffentlicht werden. So sind unter anderem betonraue Prachtstücke aus Argentinien und Costa Rica, Futuristisches aus Israel, Monströses aus Moskau und Riesenmaschinen aus Japan zu entdecken.

Doch auch direkt unter der eigenen Nase schlummern bauhistorische Schätze. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das Burgenland ein Reservat des Brutalismus ist? Einer der jüngsten Einträge bei SOS Brutalism ist das 1976 eröffnete Kulturzentrum (KUZ) in Mattersburg. Der von Architekt Herwig Graf entworfene Bau ist mit Rot wie „gefährdet“ gekennzeichnet.
Paradebeispiel für die Ära

Er ist in jeder Hinsicht ein Paradebeispiel für diese Ära. Als Teil eines sozialdemokratisch volksbildenden Programms des damaligen Unterrichtsministers Fred Sinowatz und des Kulturlandesrats Gerald Mader war es das erste von fünf Kulturzentren im damals noch vorm Eisernen Vorhang dahindämmernden Burgenland und somit wie viele seiner internationalen Geschwister Resultat einer aufgeklärten Beamtenschaft. „Kultur für alle“ hieß das Motto. Vom Literaturhaus über die Volkshochschule bis hin zu Jugendklub und Ballsaison fand alles unter einem Dach statt. Sinowatz sprach damals von einem „Modell für ganz Österreich“. Die architektonischen Definitionen des Brutalismus erfüllt es spielend: Der Sichtbeton formt meterhohe, doppelwulstige Dachkränze, runde Ausbuchtungen und prachtvoll überdimensionierte Wasserspeier; ein Entlüftungskamin wird zum gedrungenen Campanile. Junge burgenländische Architekten wie Graf und vor allem Matthias Szauer durften damals in der Folge den internationalen Stil in die pannonischen Kleinstädte importieren. Einige dieser Bauten wurden in den letzten Jahren abgerissen oder verschwanden unter Styropor.

Pünktlich zum kritischen 40. Geburtstag wurde auch dem KUZ die Rute ins Fenster gestellt: Eine Sanierung käme teurer als ein Neubau, befand das Land im Mai 2014 und verwies auf die schlechte Energiebilanz. Doch dann regte sich überraschender Widerstand. Die Plattform „Rettet das Kulturzentrum Mattersburg“ wurde gegründet, über 2000 Unterschriften gesammelt – bei einer Stadt mit 7000 Einwohnern eine beachtliche Zahl. Ein Zeichen, dass die vielgeschmähten „Betonmonster“ doch gar nicht so unbeliebt sind?

Also lenkte das Land ein bisschen ein, in einem Positionspapier wurde 2015 festgelegt, dass „wesentliche Merkmale“ des Baus erhalten bleiben sollten. Zurzeit läuft ein zweistufiger (von der Architektenkammer nicht anerkannter) Wettbewerb. Was die „wesentlichen Merkmale“ sind, bleibt den beteiligten Architekten überlassen.

Wenig verwunderlich, dass der Architekt selbst dies kritisch sieht: „Das Gebäude muss erhalten bleiben, weil es ein Zeitzeuge der burgenländischen Kulturoffensive ist!“, sagt der heute 75-jährige Herwig Graf zum Standard. Bautechnische Einwände will er nicht gelten lassen. „Das Gebäude hat 40 Jahre bestens funktioniert und wurde mehrmals auf Stand gebracht. Der Beton ist hervorragend ausgeführt. Außerdem bringt es bauphysikalisch nichts, einen Veranstaltungsaal, der einmal pro Woche genutzt wird, in Styropor einzupacken. Man kann ein Gebäude doch nicht nur nach dem Dämmwert beurteilen!“

Vom Zuspruch der Rettungskampagne ist Graf selbst überrascht. Vielleicht verhilft die Zuneigung, die die „Betonmonster“ jetzt vielerorts erfahren, auch dem Kulturzentrum Mattersburg zu einem zweiten Frühling.

30. Oktober 2015 Der Standard

Auf den drit­ten Blick

Zwi­schen Eye­cat­cher-Zwang und über­ra­schen­den Blick­win­keln, Kunst­form und PR, Kom­pli­zen­schaft und Kri­tik: Das Ver­hält­nis von Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie und Ar­chi­tek­tur ist so un­trenn­bar wie kom­plex. Ei­ne Buch­pu­bli­ka­ti­on bringt jetzt Klar­heit.

Die Fo­to­gra­fie ist heu­te kei­ne ein­sa­me Pro­fes­si­on mehr. Was sich einst mit iko­ni­schen Ein­zel­stü­cken be­haup­te­te, muss sich heu­te ge­gen die welt­wei­te On­li­ne-Bil­der­flut stem­men. 2003 ta­ten sich ei­ni­ge ös­ter­rei­chi­sche Fo­to­gra­fen zu­sam­men und grün­de­ten die In­te­res­sen­ge­mein­schaft IG Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie. Was aus wirt­schaft­li­cher Not­wen­dig­keit ent­stand, ist gleich­zei­tig ein Ab­bild ei­ner selbst­be­wuss­ten, auf ho­hem Ni­veau ope­rie­ren­den Sze­ne. In der jetzt er­schei­nen­den Buch­pu­bli­ka­ti­on Vom Nut­zen der Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie wird das ei­ge­ne Tun mit reich­hal­ti­gen Bild­be­wei­sen un­ter­sucht.

Im Round-Ta­ble-Ge­spräch mit dem Stan­dard er­klä­ren die Fo­to­gra­fen Pez Hej­duk, Her­tha Hur­naus und Ste­fan Oláh und die Buch­ma­che­rin­nen An­ge­li­ka Fitz und Ga­bri­e­le Lenz, wa­rum wir Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie brau­chen, in wel­chem Ver­hält­nis sie zur Ar­chi­tek­tur steht und ob Men­schen und Tie­re nun ins Bild ge­hö­ren oder nicht.

Stan­dard: Bü­cher mit Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fien sind üb­li­cher­wei­se auf pu­re Äs­the­tik set­zen­de Cof­fee-Ta­ble-Books. Auch die­ses ist vol­ler Bil­der, kommt aber eher da­her wie ei­ne Hand­rei­chung. Was für ei­ne Ab­sicht steckt da­hin­ter?

Fitz: Oh­ne Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie gibt es kei­ne Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te. Denn es geht ja um viel mehr, als nur ein Ge­bäu­de ab­zu­bil­den. Die Fo­to­gra­fie zeigt, was mit der Ar­chi­tek­tur pas­siert, un­ter wel­chen Be­din­gun­gen sie ent­steht. Sie ist kein pass­ives Me­di­um, son­dern ein ak­ti­ver Bei­trag zur Ar­chi­tek­tur­ge­schich­te. Der Be­griff des „Nut­zens“ hält das Buch zu­sam­men: Wie wird die ab­ge­bil­de­te Ar­chi­tek­tur ge­braucht, und wie wer­den die Bil­der selbst ge­nutzt. Un­ser An­spruch war al­so nicht we­ni­ger, als ein Stan­dard­werk zur Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie zu ma­chen. Denn er­staun­li­cher­wei­se gibt es so et­was noch nicht.

Lenz: Die Ver­bin­dung zwi­schen Fo­to­gra­fie, Ar­chi­tek­tur und Buch ist am Bau­haus ent­stan­den, mit Lá­szló Mo­ho­ly-Na­gy. Da­mals war es nicht üb­lich, Fo­to­gra­fien in Bü­chern zu zei­gen, weil das als et­was rein Jour­na­lis­ti­sches galt. Spä­ter hat sich Le Cor­bu­sier – ein gro­ßer Selbst­ver­mark­ter – in­ten­siv mit der In­sze­nie­rung durch Fo­to­gra­fie be­schäf­tigt.

Oláh: Es war uns auch als IG Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie wich­tig, et­was Mu­ti­ges zu ma­chen und nicht ei­ne Werks­chau, in der je­der sei­ne fünf be­sten Fo­tos bei­steu­ert.

Hej­duk: Es soll­te auch kein Best-of der Ar­chi­tek­tur sein. Dann wä­re es wirk­lich ein Couch­tisch-Buch ge­wor­den. Es geht ex­pli­zit um das un­ge­klär­te Ver­hält­nis zwi­schen Fo­to­gra­fie und Ar­chi­tek­tur.

Hur­naus: Da­durch las­sen sich wie­der­um die Gren­zen aus­lo­ten, an de­nen Ar­chi­tek­tur an­fängt. Des­halb ist im Buch die gan­ze Band­brei­te von an­ony­mer Ar­chi­tek­tur bis zu Bau­ten von Her­zog & de Meu­ron ent­hal­ten.

Stan­dard: Vor zwölf Jah­ren wur­de die IG Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie ge­grün­det. Was war der Im­puls da­für?

Hej­duk: Es ging vor al­lem um Rechts­fra­gen – lei­der, denn man kann sich sei­ne Zeit auch schö­ner ver­trei­ben. Es war da­mals so, dass Pu­bli­ka­ti­ons­ho­no­ra­re bei Ver­la­gen zu­se­hends ab­ge­schafft wur­den und das In­ter­net mit sei­ner Gra­tis­men­ta­li­tät im­mer stär­ker wur­de. Es gab sehr vie­le Un­klar­hei­ten. Heu­te hat sich die Sach­la­ge be­ru­higt, was gut ist, denn wir wol­len ein Mit­ein­an­der.

Oláh: Das Po­si­ti­ve ist: Weil es heu­te nie­man­den mehr gibt, der auf un­se­rem Ni­veau ar­bei­tet und zu­gleich sei­ne Bil­der und die Rech­te her­schenkt, eta­bliert sich auch ein Be­wusst­sein für Qua­li­tät.

Stan­dard: Die Auf­klä­rungs­kam­pag­ne hat ge­wirkt. Die Ar­chi­tek­ten be­nei­den heu­te die Fo­to­gra­fen um ih­re Durch­set­zungs­kraft.

Fitz: Und ge­nau weil die Fo­to­gra­fen das Be­wusst­sein für Nut­zungs­rech­te ge­schärft ha­ben, war es wich­tig, jetzt den näch­sten Schritt zu set­zen: die Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie als kul­tu­rel­le Pra­xis zu be­to­nen. Das ist „Nut­zen“ auf ei­ner an­de­ren Ebe­ne.

Hej­duk: Auf der ei­nen Sei­te wol­len die Ar­chi­tek­ten so viel wie mög­lich vi­su­ell prä­sent sein. Auf der an­de­ren Sei­te sind wir ein Lu­xus­seg­ment. Man kann auch bau­en, oh­ne es fo­to­gra­fisch zu do­ku­men­tie­ren.

Stan­dard: Trotz­dem wer­ben Ar­chi­tek­ten vor al­lem mit Bil­dern – und das, dank In­ter­net, mehr als je zu­vor.

Hej­duk: Schon. Aber wie vie­le Ar­chi­tek­tur­bü­ros wirk­lich pro­fes­sio­nell fo­to­gra­fie­ren las­sen, das steht in kei­ner Re­la­ti­on.

Fitz: Ich fin­de es er­staun­lich, wenn Ar­chi­tek­ten sich die Chan­ce auf den drit­ten Blick ent­ge­hen las­sen. Auch wenn es Auf­trags­fo­to­gra­fie ist, ist es nie Pro­pa­gan­da, son­dern ei­ne neue Sicht­wei­se. Die Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie war schon im­mer Kom­pli­zin und Kri­ti­ke­rin, und meis­tens ist sie im sel­ben Fo­to bei­des.

Stan­dard: Um auf den Buch­ti­tel zu­rück­zu­kom­men: Was ist der Nut­zen der Ar­chi­tek­tur­fo­to­gra­fie?

Hej­duk: Ganz ein­fach: Ich lie­be die­sen Be­ruf. Ei­gent­lich fo­to­gra­fie­re ich im­mer für mich selbst. Aber wir be­wah­ren in un­se­ren Ar­chi­ven auch Zeit­do­ku­men­te auf. Ein Ar­chiv zu füh­ren ist viel Ar­beit, das füllt Te­ra­by­tes und Ak­ten­schrän­ke voll mit ana­lo­gem Ma­te­ri­al. Wenn man dann zehn Jah­re spä­ter hin­ein­schaut, hat man ei­nen an­de­ren Blick und ent­deckt Sa­chen wie­der neu.

Oláh: Für mich zählt der Wil­le zum Su­chen und Ent­de­cken. Das Spü­ren ist ne­ben dem Se­hen das Wich­tigs­te – die Fra­ge, wie gern man sich in ei­nem Raum auf­hält. Den ge­sell­schaft­li­chen Mehr­wert be­kom­men Bil­der oft erst, wenn die Ge­bäu­de, die sie dar­stel­len, nicht mehr exis­tie­ren. Da­rü­ber denkt man aber bei der Ar­beit nicht nach.

Fitz: Für mich als Nutz­erin liegt der Wert da­rin, dass ich auf den Fo­tos et­was se­he, das ich nicht wahr­neh­me, wenn ich selbst hin­ge­he.

Stan­dard: Was macht man, wenn man ein Ge­bäu­de fo­to­gra­fie­ren soll, das man ein­fach schlecht fin­det?

Hur­naus: Den per­sön­li­chen Ge­schmack kann man zu­erst ein­mal zu­rück­neh­men. Man fil­tert durch spe­zi­fi­sche Aus­schnit­te ei­ne Es­senz her­aus und zeigt da­durch Aspek­te, die im er­sten Ge­samt­ein­druck gar nicht wahr­ge­nom­men wer­den.

Oláh: Das Fo­to­gra­fie­ren ist ein vi­su­el­les Auf­räu­men in der Un­ord­nung der Welt.

Stan­dard: Es ist ein alt­be­kann­tes Kli­schee, dass Ar­chi­tek­ten kei­ne Men­schen in ih­ren Bil­dern ha­ben wol­len. Trifft das noch zu?

Hur­naus: Das war frü­her tat­säch­lich so. Die jün­ge­re Ar­chi­tek­ten­ge­ne­ra­ti­on will aber stär­ker be­leb­te Bil­der. Als Fo­to­gra­fin ist es ei­ne in­tui­ti­ve Ent­schei­dung. Wenn der Mensch sich zu sehr in den Vor­der­grund drängt und man als Er­stes da­rauf schaut, was der an­hat, fin­de ich das schwie­rig. Aber grund­sätz­lich kön­nen Men­schen im Bild den Maß­stab der Ar­chi­tek­tur ver­deut­li­chen.

Oláh: Das hat auch mit der Tech­nik zu tun. Mit den Ka­me­ras, die wir vor 20 Jah­ren hat­ten, war es viel schwie­ri­ger, ei­nen Men­schen scharf ins Bild zu be­kom­men.

Fitz: Wir zei­gen im Buch auch Bei­spie­le, in de­nen neue Räu­me so fo­to­gra­fiert wer­den, dass sie nicht ste­ril aus­schau­en, son­dern dass man ihr Po­ten­zi­al er­kennt, das War­ten auf den An­sturm des Le­bens. Auch brand­neue Ge­bäu­de kön­nen von Nut­zung er­zäh­len.

Stan­dard: Man­che Ar­chi­tek­ten blen­den ger­ne die Um­ge­bung ih­rer Ge­bäu­de aus. Als Fo­to­graf kann man den Kon­text wie­der hin­ein­ho­len.

Hur­naus: Es ist ei­ne Fra­ge des Zeit­auf­wands: Je län­ger man sich mit ei­nem Ge­bäu­de aus­ein­an­der­set­zen kann, um­so mehr nimmt man auch das Um­feld wahr, und so ent­ste­hen um­fang­rei­che­re und in­te­res­san­te­re Do­ku­men­ta­tio­nen.

Hej­duk: Es gibt Auf­trag­ge­ber, die das Um­feld nicht ger­ne im Bild ha­ben. Da wird schon mal ver­langt, dass ein Bus­hal­te­häus­chen raus­re­tu­schiert wird.

Oláh: Das hängt stark da­von ab, wer der Auf­trag­ge­ber ist. Es kann sein, dass die Ku­ra­to­ren glü­cklich sind, weil sie den künst­le­ri­schen Wert des Bil­des se­hen, und die Mar­ke­tin­gab­tei­lung ist ent­setzt, weil im Bild ein Trak­tor her­um­steht, der die Per­fek­ti­on stört.

Hur­naus: Ein Bild­mo­tiv ist im­mer ei­ne Art Büh­ne, auf der al­les Mög­li­che statt­fin­den kann.

Hej­duk: Und al­le war­ten im­mer da­rauf, dass Hüh­ner, Scha­fe und Kat­zen ins Bild lau­fen!

Hur­naus: Und dass end­lich die Son­ne kommt. Oder dass sie end­lich wie­der weg­geht.

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17. Oktober 2015 Der Standard

St. Christoph am Arlberg: Hochkultur im Niemandsland

Eine Kunsthalle und ein Konzertsaal in einem winzigen Wintersportort am Arlberg: Das arlberg1800 in St. Christoph bringt die Kultur zum Skilift. Ein 26-Millionen-Euro-Wagnis, ein Liebhaberprojekt eines Hoteliers und ein Stück Standortpolitik

Wintersportorte in der Nebensaison sind kein schöner Anblick. Erst recht nicht im Oktober, in der gesichtslosen Zeit zwischen sommerlichen Almwiesen und weißer Wedelfreude: Geschlossene Hotelburgen inmitten leerer asphaltierter Parkplätze, eingebettet in gatschige Grasreste und kreuz und quer herumstehende Skiliftinfrastruktur, die jetzt ihr ganzes landschaftszerstörendes Gesicht zeigt.

St. Christoph am Arlberg, kurz unterhalb der Passhöhe zwischen Tirol und Vorarlberg gelegen, ist ein solcher Wintersportort. Nur aus einer Handvoll Großhotels bestehend, durchschlängelt von der Passstraße, auf der sich, da der Arlbergtunnel wegen Renovierung gesperrt ist, tschechische Lkws und genervte Kleinbusfahrer quälen. Mehr als eine Million Touristen besuchen die Bergregion zwischen St. Anton, Lech und Zürs jährlich, doch Anfang Oktober ist nichts von ihnen zu sehen, auch wenn der erste, noch spärlich dünne Schneefall leise die Saison ankündigt.

Bis in die 1960er-Jahre war der Arlberg eine Sommerdestination, dann begann die Vermarktung des Winters in großem Stil. Heute gelte es, diese Zwangskopplung aufzubrechen, sagt Florian Werner. Werner ist Betreiber des Fünf-Sterne-Hotels Hospiz am Arlberg, das als erstes Haus am Ort auf eine 600-jährige Geschichte zurückblickt. Ein wuchtiger, mittelalterlich wirkender Kasten, mit späteren, klobig auswuchernden Zubauten aus den Siebzigerjahren, gefüllt mit durchrustikalisierten Restaurantstuben. In einer von diesen steht Werner, während er vom Re-Branding erzählt. Ein wacher, immer etwas unruhig wirkender Mittvierziger fernab jeder schmerbäuchigen Hoteliers-Onkeligkeit, dessen Ideen eher nicht von der üblichen „Bauen wir halt einen Wellnesstrakt dazu“-Machart sind. Florian Werner hat sich in den Kopf gesetzt, eine Kunsthalle und einen Konzertsaal zu errichten, in einem Skiort auf 1765 Metern Seehöhe.
Kunst als Bauchentscheidung

Die Kunst habe ihn zufällig erwischt, erzählt der Hotelier, als er im Jahr 2006 ein Hochzeitsgeschenk für seine Schwester gesucht und kurzerhand zum Pinsel gegriffen habe. Die eigene Malerei wich nach einer Weile der Förderung anderer Künstler, seit 2008 beherbergt das Hospiz am Arlberg junge Artists in Residence, beraten ließ man sich von der Wiener Agentur section.a. Ausgestellt wurde die sich schnell ansammelnde Kunst im Hotel, musste aber auf die Befindlichkeiten erholungsaffiner Gäste Rücksicht nehmen, die ungern von unerwarteten „Interventionen“ verschreckt werden.

Die Entscheidung, der Kunst eine eigene Halle zu bauen, sei bei ihm, wie vieles, „aus dem Bauch heraus“ entstanden, sagt Florian Werner. Dass bei der Planung der Kunsthalle irgendwann noch ein Konzertsaal ins Programm geriet, mit einem Konzept für 150 Veranstaltungen pro Jahr, sei ebenso keine Notwendigkeit, sondern eine, genau, Bauchentscheidung gewesen. Und eine Prise Standortpolitik: „Es gibt keine Kultureinrichtung dieser Art zwischen Innsbruck und Feldkirch.“

Eine Rolle mag es auch gespielt haben, dass die zwei Häuser mit 17 Luxusapartments, die vor dem Hotel auf einem der letzten Bauplätze im Ort entstehen, nur genehmigt wurden, wenn gleichzeitig ein Mehrwert für die Allgemeinheit entstünde. Das „arlberg1800“ getaufte Kunst-Konzert-Konglomerat und die obendrauf stehenden Apartmenthäuser kommen zusammen auf rund 26 Millionen Euro Baukosten. Nach einem nüchtern kalkulierten Businessplan klingt das nicht, schon eher erinnert es an Werner Herzogs Film Fitzcarraldo, in dem sich Titelheld Klaus Kinski in den Kopf setzt, ein Opernhaus im Amazonas-Dschungel zu bauen. Dass die Konzerthalle jetzt einige Wochen vor der Kunsthalle fertig wird, passt dann auch in die von Zufällen und Glücksfällen geprägte Baugeschichte.
Sinnliche Rundungen

„Kommen Sie, wir gehen jetzt nach unten!“, ruft Florian Werner und eilt den Besuchern voran. „Unten“ liegt vier Meter unter dem ehemaligen Busparkplatz, und dort steht man zunächst vor einer riesigen Blumenvase, die auf einer Kabeltrommel steht. Ein selbstironischer Deko-Kommentar zum Baustellencharme der Eröffnungsfeierlichkeiten, bei denen im Foyer noch die Kabel von der Decke hängen.

Die 250 Quadratmeter große Konzerthalle, ausgelegt für 213 Besucher, darf schon im vollendeten Zustand bewundert werden. Ausgekleidet in sanft gebogene Eichenholzlamellen, überspannt von einer nach oben auf den Vorplatz hinaus schwingenden Decke erinnert sie mehr an das Innere eines Schiffes als an eine Skihütte. Auch die Wände des Eingangsbereichs, der Bar und der Kunsthalle biegen sich um die jeweiligen Ecken. Kein Zufall, wie Architekt Jürgen Kitzmüller erklärt: „Diese Rundungen waren mir sehr wichtig. Einerseits hat Kunst für mich etwas Weiches, Sinnliches, andererseits entsteht so eine intuitive Wegeführung, für die man keine Hinweisschilder braucht.“

Auch wenn sich im Hochgebirge die Assoziation zum Höhlensystem anböte – der Arlberg-Bahntunnel verläuft 400 Meter unter unseren Füßen – soll das arlberg1800 keine Kelleratmosphäre verbreiten, sagt Kitzmüller. Sowohl der Konzertsaal als auch die acht Meter hohe Kunsthalle nebenan halten über Fenster Kontakt mit der Außen- und Bergwelt, und die Skitouristen können vom Gehweg aus einen Blick auf Kunst und Klavier werfen.

Kitzmüller, der vor allem in der Region um den zahlungskräftigen Skiort Lech Hotels, Chalets und Shops mit angenehm unzipfelmützigen Holzinterieurs realisiert hat, ist auch beim arlberg1800 ein dauerhaft wirkendes Innenraum-Ensemble gelungen, das sich diskret unter dem Vorplatz versteckt – und im Winter zusätzlich unter bis zu vier Metern Schnee. Eine zu diesem Grenzort passende Dosis Vorarlberger Tischlerintelligenz als Gegenmittel zur Tiroler Vorliebe für das Überladene.

Baustellenatmosphäre hin oder her, den Herrschaften ist bei der Eröffnung die Erleichterung anzumerken, die zahlreichen Hindernisse überwunden zu haben, allen voran eine mehrmals vor dem Aus stehende Finanzierung. Die Banken seien eben immer misstrauisch bei Krediten für den Tourismus, erzählt der Hotelier, und bei Fitzcarraldo-Ideen wie dieser erst recht. Doch wie es auf dem Berg so ist, jemand kennt jemanden, und der Jemand ist ein Banker – und dank dieser bei der Eröffnung emotional zelebrierten Männerfreundschaften erreichte die Seilschaft schließlich den Gipfel, die Hochkultur war gerettet. „Wir haben keine Feldforschung gemacht, ob die Welt eine Kunsthalle am Arlberg braucht“, sagt Hotelier Florian Werner fast trotzig, „wir öffnen die Konzerthalle auch, wenn nur zwei Besucher kommen.“ Doch Kunst ist schließlich, wie Oscar Wilde richtig anmerkte, „quite useless“ – egal, ob sie im Moma oder neben einem Skilift stattfindet.

5. September 2015 Der Standard

Zu­kunft oh­ne Mas­ter­plan

Un­ter dem Ti­tel „Post Ci­ty“ zeigt die Ars Elec­tro­ni­ca Linz Ide­en für die Zu­kunft der Städ­te zwi­schen Hight­ech und Low­tech. Die Er­kennt­nis: Die Zeit der von oben dik­tier­ten ein­fa­chen Lö­sun­gen ist vor­bei. Gut so!

Ei­ne ge­räu­mi­ge sil­ber­ne Bla­se auf Rä­dern, da­rin vier be­que­me Sit­ze zum Durch-die-Stadt-Glei­ten und Touch­screens an der In­nen­sei­te. Der F015 von Mer­ce­des, ein Pro­to­typ des fahr­er­lo­sen Au­tos, ist ei­ner der Hin­gu­cker bei der dies­jäh­ri­gen Ars Elec­tro­ni­ca in Linz. Dort steht das Ge­fährt recht sach­lich in der Aus­stel­lung Fu­tu­re Mo­bi­li­ty he­rum, ganz oh­ne al­ber­nen Au­to­mo­bil­mes­sen-La­sers­how­bom-bast. Im Ge­gen­eil: Rup­pi­ger Be­ton und ge­press­tes Alt­pa­pier bil­den den at­mo­sphä­ri­schen Rah­men für das Leitt­he­ma „Post Ci­ty“, denn heu­er fin­det die Ars Elec­tro­ni­ca in den weit­läu­fi­gen Hal­len des ehe­ma­li­gen Post­ver­la­de­zen­trums am Bahn­hof Linz statt, das 2014 nach kaum mehr als 20 Jah­ren aus Platz­grün­den auf­ge­ge­ben wur­de. Die Mehr­deu­tig­keit des Be­griffs – Post­stadt, Stadt nach der Stadt, Stadt der Zu­kunft – liegt mehr als auf der Hand.

Ei­ne zwei­te, un­vor­her­ge­se­he­ne Mehr­deu­tig­keit tat sich pünkt­lich zur Er­öff­nungs­wo­che auf, als nur we­ni­ge Me­ter hin­ter dem Mer­ce­des die Zü­ge mit Flücht­lin­gen in Rich­tung Deutsch­land roll­ten, von Lin­zer Hel­fern spon­tan auf dem Bahns­teig mit Was­ser ver­sorgt. Ei­ne ganz an­de­re Art von „Fu­tu­re Mo­bi­li­ty“, die die Städ­te un­se­rer Zu­kunft eben­so prä­gen wird wie Hoch­tech­no­lo­gie.

Als hät­te man dies ge­ahnt, zeigt die Ars Elec­tro­ni­ca mit den The­men Fu­tu­re Mo­bi­li­ty und Ha­bi­tat 21 ganz be­wusst die Spann­wei­te von Hight­ech und Low­tech-Stra­te­gien für die Stadt der Zu­kunft. Ei­ner­seits die vom Bü­ro form­qua­drat ent­wi­ckel­te schnit­ti­ge Zwei-Per­so­nen-Flug­droh­ne D-Da­lus und das Fahr­rad „my.esel“, das ei­ne SMS an die Stadt­ver­wal­tung schickt, wenn es über ein Schlag­loch fährt: Big Da­ta als Schmier­mit­tel für die rei­bungs­lo­se Me­trop­ole.

Im­pro­vi­sier­te Stadt

An­de­rer­seits die Breit­wand­bil­der des Pro­jekts „Be­yond Sur­vi­val“: Lu­kas Ma­xi­mi­li­an Hül­ler und Han­nes See­ba­cher ha­ben im jor­da­ni­schen Flücht­lings­camp Zaa­ta­ri, mit 100.000 Be­wohn­ern ei­nes der größ­ten der Welt, mit den dor­ti­gen Kin­dern spie­le­ri­sche Bil­der in­sze­niert, die de­ren An­eig­nung des Rau­mes zei­gen. Ko­ope­ra­ti­ons­part­ner Ki­li­an Klein­schmidt lud im Auf­trag der Uno Stadt­pla­ner ein, um das als Pro­vi­so­ri­um er­rich­te­te Camp als Stadt zu or­ga­ni­sie­ren. Da­zu braucht man erst mal kei­nen Be­ton und kei­ne Krä­ne, son­dern ei­ne Idee für ein Ge­mein­we­sen.

Mit welch ein­fa­chen Mit­teln ei­ne Stadt am Funk­tio­nie­ren ge­hal­ten wer­den kann und muss, zei­gen Kat­ja Schecht­ner und Diet­mar Of­fen­hu­ber mit „Ma­ni­la Im­pro­struc­tu­re“. Sie ha­ben ana­ly­siert, wie in der phi­lip­pi­ni­schen Haupt­stadt die dem ra­pi­den Stadt­wachs­tum hin­ter­her­hin­ken­de In­fras­truk­tur mit Ein­falls­reich­tum er­gänzt wird. Da lehnt ein So­lar­pa­neel an ei­nem Plas­tik­stuhl. Mit der da­raus ge­won­ne­nen En­er­gie wird die be­nach­bar­te Gar­kü­che be­trie­ben. Wo die Stra­ßen­be­leuch­tung fehlt – oder ein Ma­ri­en­schrein drin­gend il­lu­mi­niert ge­hört –, wer­den die Lam­pen eben aus we­ni­ger wich­ti­gen Stra­ßen­lam­pen an der Schnell­stra­ße ge­schraubt. Die dort fah­ren­den Au­tos ha­ben ja schließ­lich eh Licht.

„Die­se Im­pro­vi­sa­tio­nen sind ei­gent­lich Hight­ech, aber eben im Le­bens­kon­text ei­ner asia­ti­schen Me­ga­ci­ty“, sagt Kat­ja Schecht­ner. „Es geht da­bei nicht ein­fach nur um in­di­vi­du­el­le Bas­te­lei, son­dern um die Ver­bin­dung zwi­schen klei­ner Nach­bar­schaft mit gro­ßem Sys­tem. Zum Bei­spiel, wenn sich ei­ne Com­mu­ni­ty der Was­ser­trä­ger oder Müll­samm­ler for­miert, die die Nach­bar­schaft mit der städ­ti­schen In­fras­truk­tur ver­bin­det.“

Die Wahl des The­mas sei auch als kri­ti­scher Kom­men­tar zu den per­fek­ten Tech­no­lo­gie­vi­sio­nen der Smart Ci­ties und als Plä­doy­er für die nicht min­der in­tel­li­gen­te Ei­gen­ini­tia­ti­ve der Bür­ger zu ver­ste­hen, de­ren Über­le­bens­küns­te ge­ra­de in den Me­ga­ci­ties Asiens ge­braucht wür­den, da­mit die­se funk­tio­nie­ren, so Kat­ja Schecht­ner. „Die­ses Wis­sen kann auch in den Städ­ten des Wes­tens schnell wich­tig wer­den, wenn ei­ne Ver­sor­gungs­in­fras­truk­tur zu­sam­men­bricht.“

In­for­ma­ti­ons­quel­le Mensch

Die Lek­ti­on da­raus: Das städ­ti­sche Le­ben lässt sich nicht so or­dent­lich vor­aus­pla­nen wie ein Häuslb­au­er­haus. Wa­ren die Ar­chi­tek­ten und Stadt­pla­ner zu Zei­ten gro­ßer Neu­pla­nun­gen wie der mit ei­nem Hand­strich ent­wor­fe­nen Haupt­stadt Bra­sí­lia noch im Glau­ben, ei­ne Stadt aus ei­nem Guss in die Welt stel­len zu kön­nen, ist man sich heu­te nur zu deut­lich be­wusst, dass das al­les schon recht kom­pli­ziert ist.

Der Ur­ba­nist Ro­land Krebs, Do­zent an der TU Wien und als Pla­ner und Be­ra­ter seit lan­gem in La­tei­na­me­ri­ka tä­tig, ist mit sei­nem Ur­ban De­sign Lab auf der Ars Elec­tro­ni­ca ver­tre­ten. Er hat reich­lich Er­fah­run­gen mit der ur­ba­nen Rea­li­tät jen­seits ver­meint­lich ein­fa­cher Lö­sun­gen ge­macht. „In La­tei­na­me­ri­ka wis­sen die Städ­te nicht, wie sie Pro­ble­me lö­sen kön­nen, weil die Pro­ble­me zu kom­plex sind und die Be­am­ten nur Pla­nungs­in­stru­men­te aus dem letz­ten Jahr­hun­dert ha­ben. Die Pla­nung kommt den schnell wach­sen­den Städ­ten nicht hin­ter­her, al­so lässt man al­les schlei­fen.“

Mit dem Ur­ban De­sign Lab ent­wi­ckel­te Ro­land Krebs mit der TU und der In­ter-Ame­ri­can De­ve­lop­ment Bank ei­ne Me­tho­de, wie man die Stadt in den Griff be­kom­men kann. Das sim­ple Ge­heim­nis: die Be­völ­ke­rung mit ein­be­zie­hen. In zehn Städ­ten von Ni­ca­ra­gua bis Ko­lum­bien wur­de die Stra­te­gie an­ge­wen­det. „Der Stadt­pla­ner tritt hier nicht als All­wis­sen­der auf, son­dern als Mo­de­ra­tor, der den In­put der Be­völ­ke­rung sam­melt und erst am Schluss ent­wirft“, er­klärt Ro­land Krebs. „In Ös­ter­reich be­stellt die Po­li­tik ei­nen Plan, die Be­völ­ke­rung ist glü­cklich oder nicht – und die Ar­chi­tek­ten wis­sen ge­nau, was rich­tig ist. In La­tei­na­me­ri­ka gibt es kei­ne Mas­ter­plä­ne, aber vie­le jun­ge, dy­na­mi­sche, gut aus­ge­bil­de­te Pla­ner. Da­von kön­nen wir ler­nen.“ Da­zu be­nö­ti­ge man kein Hight­ech-Ar­se­nal, man müs­se nur den Leu­ten die rich­ti­gen Fra­gen stel­len. „Es geht um den Men­schen als wich­tigs­te In­for­ma­ti­ons­quel­le, egal ob ana­log oder di­gi­tal.“

Ganz ähn­li­che Zie­le ver­folgt An­dre­as Hen­ter. Mit sei­nem Lin­zer Bü­ro TP3 Ar­chi­tek­ten und dem be­freun­de­ten spa­ni­schen Bü­ro ed­dea ar­qui­tec­tu­ra hat er das Open-Sour­ce-Werk­zeug „ci­ty-thin­king“ ent­wi­ckelt. Auch hier wer­den den Bürg­ern Fra­gen ge­stellt, die auch mal ins Poe­tisch-Über­ra­schen­de kip­pen kön­nen. „Die­se Art des Den­kens, das auch Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten in­fra­ge stellt, schafft ein Com­pu­ter­pro­gramm nie“, sagt Hen­ter.

Ein Bei­spiel für die­ses An­ders­den­ken: Als ei­ne Ze­ment­fa­brik bei Gra­na­da mit 100 Ar­beits­plät­zen ih­re To­re schloss, plan­ten die Be­hör­den auf dem Are­al Woh­nun­gen. Die Ar­chi­tek­ten tp3 und ed­dea je­doch schau­ten sich um und ana­ly­sier­ten. „Die Ge­gend ist vol­ler Oli­ven­bäu­me, die oft ge­schnit­ten wer­den müs­sen, wo­durch reich­lich Bio­mas­se an­fällt.“ Der An­fang ei­nes Um­den­kens oder, wie An­dre­as Hen­ter es nennt, „ei­nes Wun­ders“: Statt Woh­nun­gen ent­steht auf dem Are­al nun ei­ne Fa­brik für Holz­pel­lets – mit 150 Ar­beits­plät­zen.

Mit ei­nem Pla­ner, der von An­fang an auf ei­ner Idee be­harrt, wä­re das nicht ge­glückt, sagt Hen­ter ent­schie­den: „Das Wort Mas­ter­plan ist für mich ein Un­wort!“ Ob Gra­na­da, Ma­ni­la, Jor­da­nien oder der Bahn­hof Linz: Die gänz­lich un­dik­ta­to­ri­schen Pla­ner von heu­te set­zen auf Fle­xi­bi­li­tät und Ent­schei­dungs­stär­ke – und Low­tech steht Hight­ech an In­tel­li­genz um nichts nach.

29. August 2015 Der Standard

Wenn al­les beim Al­ten bleibt

Bau­en, das heißt fast im­mer: Neu bau­en. Oder? Der deut­sche Pu­bli­zist Da­ni­el Fuhr­hop sagt Nein. In sei­ner Streit­schrift „Ver­bie­tet das Bau­en!“ wen­det er sich ge­gen die „Bau­wut“ und wirbt für die Be­wah­rung des Be­stands.

Skan­dal­pro­jek­te!“, „Bau­wut!“, „Woh­nungs­not-Hys­te­rie!“ Der Pu­bli­zist Da­ni­el Fuhr­hop, der seit 2013 den Blog „Ver­bie­tet das Bau­en!“ be­treibt, fährt gro­ße ver­ba­le Ge­schüt­ze auf. Öf­fent­li­che Pro­jek­te wie der Flug­ha­fen Ber­lin und Stutt­gart 21 sei­en nur pres­ti­ge­süch­ti­ge Mil­li­ar­den­grä­ber, und Wohn­raum ge­be es heu­te schon ge­nug. Statt­des­sen sol­le man sich um die klu­ge Nut­zung des­sen be­mü­hen, was es an Bau­ten schon gibt. Nun ist sein Blog als Buch er­schie­nen. Im Ge­spräch mit dem Stan­dard er­klärt Da­ni­el Fuhr­hop, was das Al­te bes­ser kann als das Neue.

Stan­dard: Seit Zehn­tau­sen­den von Jah­ren bau­en die Men­schen Häu­ser. Wa­rum sol­len sie Ih­rer Mei­nung nach jetzt da­mit auf­hö­ren?

Fuhr­hop: Es wur­de noch nie so viel ge­baut wie in den letz­ten Jahr­zehn­ten. Im Ver­hält­nis zur Be­wohn­er­zahl hat sich die Wohn­flä­che pro Per­son seit 1945 ver­drei­facht. Bei Bü­ros und Ver­kaufs­flä­chen ist es ge­nau­so. Da­mit soll­te jetzt Schluss sein.

Stan­dard: In Ih­rem Buch be­zeich­nen Sie die Dis­kuss­ion um Wohn­raum­man­gel, wie sie in Städ­ten wie Ber­lin oder Mün­chen ge­führt wird, als „hys­te­risch“. Wa­rum?

Fuhr­hop: Der Be­griff „Woh­nungs­not“ wird viel zu oft be­nutzt. Nach dem Krieg mag das noch ge­gol­ten ha­ben, aber heu­te herrscht Wohl­stand in Mit­tel­eu­ro­pa. Ber­lin hat heu­te ei­ne hal­be Mil­li­on we­ni­ger Ein­woh­ner als En­de der 1930er-Jah­re, und trotz­dem wer­den im­mer mehr Woh­nun­gen ge­baut – weil wir so an­spruchs­voll ge­wor­den sind.

Stan­dard: Wa­rum müs­sen wir denn zu­sam­men­rü­cken? Sol­len wir wie­der wie in der Grün­der­zeit woh­nen?

Fuhr­hop: Wir kön­nen die Uhr nicht zu­rück­dre­hen. Wir müs­sen ak­zep­tie­ren, dass es die Groß­fa­mi­lie nicht mehr gibt, und Tags­chlä­fer brau­chen wir heu­te auch nicht mehr. Ich will nie­man­den zwin­gen, ich ma­che nur Vor­schlä­ge. Es gibt be­reits Bei­spie­le, wie an­ders ge­wohnt wer­den kann, et­wa das „Clus­ter­woh­nen“ in Zü­rich, die Bau­grup­pen in Tü­bin­gen oder die Wie­ner Sarg­fa­brik. Dort sind die Woh­nun­gen re­la­tiv klein, da­für teilt man sich Ge­mein­schafts­flä­chen. Wenn so et­was zur Ver­fü­gung steht, ist es ak­zep­ta­bel, dass die pri­va­ten Räu­me klein sind.

Stan­dard: Was ist denn so schlimm da­ran, viel Wohn­raum zu ha­ben?

Fuhr­hop: Wenn in Deutsch­land in­ner­halb der letz­ten zwan­zig Jah­re bei glei­cher Be­völ­ke­rungs­an­zahl sechs Mil­lio­nen Woh­nun­gen mehr ge­baut wur­den, kos­te­te das 1,5 Bil­lio­nen Eu­ro und ver­schlang enor­me Men­gen En­er­gie und Flä­che. Das ist volks­wirt­schaft­lich und öko­lo­gisch fa­tal. Durch die Zer­sie­de­lung ver­öden un­se­re Städ­te.

Stan­dard: Men­schen sind nun ein­mal mo­bil, da­durch wach­sen man­che Städ­te, an­de­re schrump­fen. Wol­len Sie das ver­hin­dern?

Fuhr­hop: Nein, aber wir soll­ten ge­gen die­se re­gio­na­le Un­gleich­heit vor­ge­hen. Das Pro­blem ist, dass man heu­te dort, wo die Städ­te schrump­fen, wie et­wa in Ost­deutsch­land, trotz­dem Woh­nun­gen baut.

Stan­dard: Wien wächst zur­zeit um rund 20.000 Ein­woh­ner pro Jahr. Oh­ne Neu­bau in gro­ßem Um­fang wie in der Sees­tadt Aspern wä­re das nicht zu schaf­fen. Wie wür­de Wien mit ei­nem Bau­stopp aus­se­hen?

Fuhr­hop: In stark boo­men­den Städ­ten wie Wien ist es schon ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung, ganz oh­ne Neu­bau aus­zu­kom­men. Aber es gibt Mög­lich­kei­ten. In mei­nem Buch nen­ne ich 50 ver­schie­de­ne Ide­en, wie man Neu­bau­ten ver­mei­det – und Wien braucht ver­mut­lich al­le zu­sam­men. Ein Bei­spiel: In Wien wird viel Geld für Tou­ris­mus­wer­bung und Wirt­schafts­för­de­rung aus­ge­ge­ben, und dann klagt man, dass man da­mit so viel Er­folg hat und so stark wächst. Wien soll­te eher ein An­ti-Stadt-Mar­ke­ting be­trei­ben oder das Geld für schrump­fen­de Or­te wie Ei­sen­erz aus­ge­ben. Das greift na­tür­lich in Kom­pe­ten­zen ein.

Stan­dard: Hat die Zer­sie­de­lung durch pri­va­te Ein­fa­mi­li­en­häu­ser nicht ei­nen völ­lig an­de­ren Hin­ter­grund als die ge­plan­te Ver­dich­tung in der Stadt?

Fuhr­hop: Ob pri­vat oder kom­mu­nal ge­baut wird, mir geht es um ei­nen Wan­del in der Ein­stel­lung, und das be­trifft die Kom­mu­nen ge­nau­so wie je­den Ein­zel­nen. Mir geht es auch nicht um ei­nen be­stimm­ten Typ Neu­bau. Ich ha­be nichts ge­gen Ein­fa­mi­li­en­häu­ser. Aber man kann sich bei je­dem Typ von Häus­ern die Fra­ge stel­len, wie man sie bes­ser nut­zen kann.

Stan­dard: Vor al­lem Bau­ten aus den 1950er- bis 1970er-Jah­ren gel­ten als En­er­giesch­leu­dern und wer­den heu­te durch Häu­ser mit öko­lo­gi­sche­rer Bi­lanz er­setzt. Ist das nicht sinn­voll?

Fuhr­hop: Am Bei­spiel ei­ner Wohn­an­la­ge in Bre­mer­ha­ven hat ein Ar­chi­tekt den En­er­gie­ver­brauch von Ab­riss und Neu­bau im Pass­iv­haus­stan­dard mit dem ei­ner Sa­nie­rung ver­gli­chen. Wenn man die En­er­gie­bi­lanz ganz­heit­lich be­trach­tet und so­wohl die graue En­er­gie be­rück­sich­tigt, die die Her­stel­lung ei­nes Hau­ses be­nö­tigt, als auch die En­er­gie, die durch die Mo­bi­li­tät ent­steht, steht die Sa­nie­rung bes­ser da. Wir soll­ten die­se ganz­heit­li­che Be­trach­tung bei al­len Bau­ten an­wen­den. Dann wür­den wir die Vor­tei­le der Alt­bau­ten er­ken­nen.

Stan­dard: Wie macht man den Alt­bau at­trak­tiv?

Fuhr­hop: Für Um­bau gibt es nicht nur öko­no­mi­sche Ar­gu­men­te. Im deut­schen Pa­vil­lon der Ar­chi­tek­tur­bien­na­le 2012 wur­den Bei­spie­le ge­zeigt, wie Ge­bäu­de ide­en­reich um­ge­nutzt wer­den kön­nen. Wenn der Stel­len­wert des Bau­be­stan­des hö­her wer­den soll, müs­sen wir ler­nen, mit an­de­ren Au­gen da­rauf zu schau­en. Jun­ge Ar­chi­tek­ten brau­chen da­für gu­te Vor­bil­der. Als ich Ar­chi­tek­tur stu­dier­te, woll­ten al­le so schnell wie mög­lich neu bau­en. Ich glau­be, das hat sich in­zwi­schen ge­än­dert. In die­se Rich­tung soll­ten wir Ide­en ent­wi­ckeln.

Stan­dard: Die Um­nut­zung von Ge­wer­be­bau­ten zu Wohn­raum wird oft ver­sucht, aber ist recht­lich und kons­truk­tiv kom­pli­ziert. Wie kann man das er­leich­tern?

Fuhr­hop: Da gibt es ge­nü­gend Bei­spie­le, zum Bei­spiel in Frank­furt. Dort gab es leer ste­hen­de Bü­ros mit meh­re­ren Hun­dert­tau­send Qua­drat­me­tern Flä­che. In­zwi­schen sind in die­sem bis­her rei­nen Bü­ro­vier­tel 1500 Woh­nun­gen ent­stan­den. Auch in Wien ste­hen hun­dert­tau­sen­de Qua­drat­me­ter Bü­ro­flä­che leer, das wä­re al­so auch dort ei­ne Op­ti­on! Es ist nicht ein­fach, aber es ist mög­lich.

Stan­dard: Die Bau­wirt­schaft wird von Ih­rem Neu­bau­stopp nicht sehr er­freut sein.

Fuhr­hop: Im Ge­gen­teil, es ist im In­te­res­se der Bau- und Im­mo­bi­lien­wirt­schaft, dass wir uns vom Neu­bau ver­ab­schie­den! Gro­ße Im­mo­bi­lien­fir­men ha­ben Ge­bäu­de im Ei­gen­tum. Je­der Neu­bau ist für sie Kon­kur­renz. Wer am stärk­sten am Neu­bau hängt, sind die Spe­ku­lan­ten, die ih­re Bau­ten schon ver­kau­fen, be­vor sie fer­tig sind.

Stan­dard: Heu­te wird oft über die „Ver­bots­kul­tur“ ge­klagt. Wä­re Ihr Bau­ver­bot da über­haupt durch­setz­bar?

Fuhr­hop: Der Ti­tel Ver­bie­tet das Bau­en! ist mit ei­ner Mi­schung aus Ernst und Au­gen­zwin­kern zu ver­ste­hen. Ich schla­ge kei­ne neu­en Ge­set­ze vor, ob­wohl das an vie­len Or­ten das Be­ste wä­re. Es wür­de schon hel­fen, dort, wo vie­le Leu­te weg­zie­hen, ein Woh­nungs­bau-Mo­ra­to­ri­um ein­zu­füh­ren. Schon die Be­reit­schaft, das ein­mal durch­zu­den­ken, wür­de uns da­zu brin­gen, die Mög­lich­kei­ten aus­zu­schöp­fen und Ide­en zu ent­wi­ckeln.

Stan­dard: Bli­cken wir in die Zu­kunft: Stel­len wir uns vor, Deutsch­land, Ös­ter­reich und die Schweiz ha­ben Ih­ren Vor­schlag er­hört und 20 Jah­re lang nichts neu ge­baut. Wie se­hen un­se­re Städ­te 2035 aus?

Fuhr­hop: Mein Ziel war im­mer, Lö­sun­gen zu su­chen, wie un­se­re Städ­te le­bens­wert blei­ben. Wenn wir die Ver­ödung durch Neu­bau stop­pen, un­se­re Kraft da­zu ver­wen­den, ge­bau­te Städ­te in Ord­nung zu brin­gen, dann hät­ten wir bis 2035 le­bens­wert­ere Städ­te ge­schaf­fen.

22. August 2015 Wojciech Czaja
Der Standard

Der Mann hinter der runden Brille

Le Corbusier ist einer der bedeutendsten Baukünstler des 20. Jahrhunderts. Am 27. August jährt sich sein 50. Todestag. Ein Rückblick auf das teils großartige, teils beängstigende Schaffen des Schweizer Architekten und Stadtplaners

Pro: Ein Philosoph des Wohnens
von Wojciech Czaja

Stundenlang könnte man an die Fassade starren, das Gelb-Rot-Blau des Betons studieren, die Unregelmäßigkeiten in der Regelmäßigkeit erkunden, und niemals wird man das Haus in seiner Gänze bis zum letzten Millimeter begriffen haben. Hinter der 138 Meter langen Unité d'Habitation in Marseille, einer von insgesamt fünf Wohnmaschinen, die Le Corbusier in den Jahren zwischen 1947 und 1967 geplant hat, verbirgt sich nicht nur eine halbe Kleinstadt mit 337 Wohnungen, Kindergarten, Hotel und diversen Geschäften, sondern auch ein vollkommen neues Wohnmodell, das trotz Serienproduktion und hohen Vorfertigungsgrades bis heute maximalen Wohnkomfort für die breite Masse bietet.

„Ich liebe es, hier zu wohnen“, sagt eine alte Dame, eine der wenigen noch lebenden, allerersten Mieterinnen im Haus. „Die Lebensqualität in diesen vier Wänden ist mit nichts vergleichbar, was heute im Bereich des sozialen Wohnbaus auf den Markt geworfen wird. Am 14. Oktober 1952 habe ich den Schlüssel entgegengenommen, und selbst nach all diesen Jahrzehnten merkt man, wie intelligent und wie emotional Le Corbusier diese Wohnungen entworfen hat. Ich führe Sie gerne durch, aber bitte drucken Sie meinen Namen nicht ab, sonst läuten wieder so viele Leute an und fragen, ob sie sich als Nachmieter auf die Liste setzen dürfen. Ich will ja noch ein paar Jahre weiterleben.“

Hinunter in den dritten Stock. Hotel Le Corbusier. Die Zeit scheint hier stehen geblieben. Das Mobiliar ist noch wie von Charles-Édouard Jeanneret-Gris, wie der Architekt mit seiner unverwechselbaren Rundbrille mit bürgerlichem Namen hieß, aufs Papier gezeichnet. Hochglanzparkett und Kunststoffboden zu Füßen. Ja, das lässt sich kombinieren. An der Decke prangen Holzdielen, mal längs, mal quer in den Beton geschraubt. Dazwischen offenbart sich ein kontrastreicher Möbelreigen, perfekt konserviert aus den Fünfzigerjahren.

„Jedes noch so kleine Detail hier versprüht Leidenschaft und Geschichte in einer Art und Weise, wie sie heute nur noch selten zu finden ist“, meint Alban Gérardin, der das Hotel Le Corbusier im dritten, vierten und achten Stock gemeinsam mit seiner Frau Dominique leitet. 21 Zimmer und Suiten gibt es insgesamt. „Auch in den Zimmern haben wir uns sehr bemüht, den Geist Le Corbusiers weiterleben zu lassen. Manche können es kaum glauben, dass die Räume noch im Originalzustand erhalten sind.“ Obligates Stück, das in keinem der Zimmer fehlen darf: die Stahlrohrliege LC4, entworfen vom Meister höchstpersönlich.

Die Unités d'Habitation in Marseille, Rezé, Briey, Firminy und Berlin (von Letzterer distanzierte sich Le Corbusier nach Fertigstellung, da der Bau anders ausgeführt wurde als geplant) sind mehr als nur Wohnhäuser. Mit ihren durchgesteckten Maisonette-Wohnungen, mit ihren zweigeschoßigen Lufträumen und vor allem mit ihrem Modulor-Maß von 2,26 Meter Raumhöhe, basierend auf einem von Le Corbusier definierten Normmenschen mit ausgestrecktem Arm, haben den Wohnbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt.

Le Corbusiers architektonischer und programmatischer Mut war eine Art Turbo-Boost der Moderne. Der unbeugsame Weitblick des strengen Schweizers, der in Europa, Russland, Tunesien, Indien, Brasilien, Argentinien und in den USA unzählige Wohn-, Büro- und Kulturbauten realisierte, würde der heutigen Baukultur guttun.


Kontra: Ein Feind der Stadt
von Maik Novotny

Nichts gegen Schweizer Kleinstädte! Und, ja, das Werk eines Menschen aus dessen Geburtsort zu erklären ist vermessen. Aber betrachtet man das urbanistische Werk von Le Corbusier, geboren 1887 im Uhrmacherstädtchen La-Chaux-de-Fonds, kann man den Verdacht nicht abschütteln, dass den Architekten die innere Provinz nie so ganz verlassen hat.

Nun waren in den 1920ern hochfliegende Visionen neuer Millionenstädte keine Seltenheit. Dem tuberkuloseverseuchten Elend der Altstadtslums und Gründerzeitbauten galt es zu entkommen: Licht, Luft und Sonne, Metropolen der Hygiene und Vernunft! Doch keiner der Kollegen begegnete der Großstadt und ihrer jahrtausendealten Geschichte mit solch hasserfüllter Verachtung wie Corbusier. Im Text zu seinem berühmten „Plan Voisin“, der 1925 das alte Paris mit einem Raster aus Wolkenkratzern ersetzen sollte, ereiferte er sich über die Straßen der damaligen Städte. Unterschiedlich aussehende Häuser, wie unästhetisch! Die Enge, der Lärm, all die anderen Menschen, unerträglich! New Yorks Straßenschluchten? „Schreckliche Albträume!“ Nur ein visionäres Genie könne hier den Ausweg finden: gerasterte Glasfassaden, dazwischen grün wogende Landschaften und Stadtautobahnen für die kommende Ära des Automobils. Alles schön sauber und ordentlich, wie eine ins Monströse skalierte Schweizer Kleinstadt. Die Stadt als Widerspruch und Konfrontation, als Verdichtung baulichen und kulturellen Schaffens blieb Le Corbusier sein Leben lang fremd.

Vom Plan Voisin ist Paris bekannterweise verschont geblieben, doch das Erbe Le Corbusiers eroberte bald die Welt. Das moderne Stadtlabyrinth in Jacques Tatis Film Playtime (1967), in dem sich Paris und London nur noch durch einsame Wahrzeichen wie Triumphbogen und Big Ben in einem Meer aus immergleichen Spiegelfassaden unterscheiden, war von der Realität nicht weit entfernt.

Man würde Corbusier seine der damaligen Zeit entsprungenen Visionen eher nachsehen, hätte er sie und sich nicht mit solchem Nachdruck inszeniert, vom Künstlernamen über die Branding-Brille bis zur penibel kontrollierten Dokumention des Schaffens. Arroganz, Besserwissertum und Opportunismus (seine unrühmliche Rolle im Vichy-Regime wurde erst in den letzten Jahren beleuchtet) – bis heute kämpfen Architekten mit diesen Vorurteilen, die ihnen der ikonische Schweizer eingehandelt hat. Selbst posthum ist die Inszenierung noch erfolgreich: Scharen von ergebenen Corbusier-Jüngern und die Fondation Corbusier achten darauf, dass das Denkmal des Architektengenies nur ja keinen Kratzer abbekommt.

Den Rang im Pantheon hat Le Corbusier verdient, Bauten wie die Villa Savoye (1931) und das Kloster Sainte-Marie-de-la-Tourette (1960) sind zeitlose Meisterwerke, die die Architektur ins 20. Jahrhundert katapultierten, und das Innere der Kapelle in Ronchamp (1955) bietet eines der ergreifendsten Raumerlebnisse, die man überhaupt haben kann.

Doch es ist kein Zufall, dass all diese Bauten mitten im Grünen entstanden und sich selbst seine Wohnmaschinen nur an die Stadtränder von Berlin und Marseille vorwagten: Die sich ihm zum Trotz nicht unterkriegen lassende chaotische Stadt blieb ihm immer suspekt. Besiegen konnte er sie nicht.

1. August 2015 Der Standard

Ei­ne Mas­se für die Mit­te

Gleich­en­fei­er beim Hum­boldt­fo­rum im re­kons­trui­er­ten Ber­li­ner Stadt­schloss: Der jah­re­lang um­strit­te­ne Bau zeigt sich vor al­lem als Sym­bol für die ton­nen­schwe­re Ver­preu­ßung der Ber­li­ner Re­pu­blik und ih­rer Ar­chi­tek­tur.

Seit der Kai­ser­zeit: Ber­lins klas­si­sches Pils­ner!“, ju­belt der Schrift­zug der Bier­mar­ke stolz auf den Son­nen­schir­men. Von der Dach­ter­ras­se, auf der sie ste­hen, bie­tet sich in der Tat ein kai­ser­lich-fürst­li­ches Rund­um­pa­no­ra­ma. Nach Nor­den der Ber­li­ner Dom, 1905 er­rich­tet, ei­ne der häss­lich­sten Kir­chen der Welt, plump, un­pro­por­tio­niert, und grob­schläch­tig, ei­ne wil­hel­mi­ni­sche War­ze, nicht ge­ra­de ein Aus­hän­ge­schild des Preu­ßen­tums. Nach Wes­ten die Pracht­stra­ße Un­ter den Lin­den, in der Fer­ne das Brand­en­bur­ger Tor, nach Sü­den schließ­lich: das Hum­boldt­fo­rum, die Re­kons­truk­ti­on des 1950 von den DDR-Obe­ren ge­spreng­ten Ho­hen­zoll­ern­schlos­ses, das im Ju­ni frisch be­kup­pelt sei­ne Gleich­en­fei­er be­ging. Die Dach­ter­ras­se ne­ben der Schloss­bau­stel­le ge­hört zum kan­ti­gen Stahl-Glas-Ge­bil­de der tem­po­rä­ren „Hum­boldt-Box“ (Krü­ger Schub­erth Van­drei­ke Ar­chi­tek­ten), die als In­for­ma­ti­ons- und Wer­be­trä­ger für den neu­en Alt­bau dient.

Mit sei­ner Baum­as­se aus glat­tem Sicht­be­ton wirkt der rie­si­ge Roh­bau plas­tisch und ho­mo­gen, wie ein fa­brik­neu­es Rea­dy­ma­de aus ei­nem Stadt­schloss-3-D-Drucker, der täg­lich lau­ter iden­ti­sche Schloss­re­pli­ken vom Fließ­band pur­zeln lässt: Bar­ock auf Knopf­druck. Zu­sam­men mit der da­ne­ben auf­ge­stell­ten Schau­fass­ade, die das re­kons­trui­er­te End­pro­dukt zeigt, ein Bild, dass man eher in dem Neo-Neo­bar­ock zu­ge­neig­ten Re­tor­ten­haupt­städ­ten de­mo­kra­tisch zwei­fel­haf­ter Re­gi­mes wie im ka­sa­chi­schen As­ta­na ver­mu­ten wür­de.

Es war von An­fang an ein heiß um­strit­te­nes Un­ter­neh­men, doch nach mehr als 20 Jah­ren ha­ben sich die De­bat­ten pro und con­tra Schloss­neu­bau deut­lich er­schöpft. Wa­ren sich in den 1990er-Jah­ren Schloss-Be­für­wor­ter und Pa­last-der-Re­pu­blik-Lieb­ha­ber ge­gen­über­ge­stan­den, war das Mach­tung­leich­ge­wicht in der Ber­li­ner Re­pu­blik bald deut­lich: Ei­ne auf Pla­nen ge­druck­te Schloss-Si­mu­la­ti­on im Maß­stab 1:1 brach­te der Preu­ßen­frak­ti­on 1993/94 den ent­schei­den­den Vor­sprung, die Pa­last-Frak­ti­on wur­de mit dem As­best-Ar­gu­ment kalt­ge­stellt und der DDR-Bau schließ­lich in Zeit­lu­pe weg­de­kons­trui­ert. 2002 be­schloss der Bun­des­tag den Schloss­neu­bau, 2007 die Re­kons­truk­ti­on von drei der vier Fass­aden in Ori­gi­nal­form und ein Ge­samt­bud­get von 552 Mil­lio­nen Eu­ro (die 80 Mil­lio­nen für die Fass­ade wer­den aus pri­va­ten Spen­den fi­nan­ziert).

Den aus­ge­lob­ten Ar­chi­tek­tur­wett­be­werb ge­wann 2008 ein­stim­mig der Ita­lie­ner Fran­co Stel­la, der dem ori­gi­nal­ge­treu­en Nord-, West- und Süd­flü­gel ei­nen Ost-teil in nord­ita­lie­nisch-ra­tio­na­lis­ti­scher Stren­ge an­füg­te, ge­trennt durch ei­ne schma­le Fu­ge, „Schloss­fo­rum“ ge­tauft, die als öf­fent­li­cher Raum den ins­ge­samt rund 190 mal 110 Me­ter mes­sen­den Ku­bus durch­quert.

Sehn­sucht­sort „Mit­te“

Das Haupt­ar­gu­ment pro Schloss: Das kul­tur­ell rei­che En­sem­ble des Stadt­zen­trums um die Ach­se „Un­ter den Lin­den“ sei räum­lich ge­nau auf den kö­nig­li­chen Ku­bus fi­xiert ge­we­sen, und das preuß­ische Puz­zle kön­ne nur durch ein wie­der­auf­er­stand­enes Schloss kom­plet­tiert und ver­stan­den wer­den. Städ­te­bau­lich ge­se­hen ist das zwei­fel­los rich­tig. Frag­lich ist, ob man da­zu auch die de­tail­ge­naue Re­kons­truk­ti­on der Fass­ade be­nö­tigt.

Doch der Ma­gne­tis­mus der Mit­te wisch­te sol­che Be­den­ken vom Tisch. Kaum ein Wort lieb­ten die Deut­schen in den Jah­ren nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung mehr. „Mit­te“ wur­de zum neu­en Sehn­suchts­be­griff ei­ner Na­ti­on, die jahr­hun­dert­elang in Klein­staa­ten zer­split­tert und de­ren West­teil nach 1945 fö­de­ral-pro­vin­zi­ell auf­ge­teilt war.

Die­se Mit­te-Sehn­sucht fand im gleich­na­mi­gen Ber­li­ner Be­zirk ihr Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum, das jun­ges Par­ty­volk ge­nau­so wie ein­steck­tuch­be­wehr­te Preu­ßen-Afi­cio­na­dos ma­gisch an­zog. Par­tys, Ga­le­rien, Bo­he­me, end­lich al­les an ei­nem Ort ver­sam­melt, der „pla­ce to be“ für die gan­ze Na­ti­on. End­lich Welt­stadt, end­lich Me­trop­ole! Wäh­rend die Hips­ter in halb­rui­nö­sen Hin­ter­hö­fen tanz­ten, ent­stand um sie he­rum die Ma­ni­fes­ta­ti­on der neu­en Ber­li­ner Re­pu­blik mit ih­rer ganz ei­ge­nen, gna­den­los ern­sten Mit­te­sehn­sucht.

Vor­bei die Ära der rhei­ni­schen Bonn-BRD, de­ren Bau­ten von de­mon­stra­ti­ver Be­schei­den­heit, Of­fen­heit und Leich­tig­keit ge­prägt wa­ren. Sep Rufs schlich­ter Kanz­ler­bun­ga­low, vo­ri­ges Jahr für die Ar­chi­tek­tur­bien­na­le in Ve­ne­dig re­kons­trui­ert, oder der heu­te ver­ges­se­ne, rund­um­ver­glas­te Ple­nar­saal des Bun­des­tags von Gün­ter Beh­nisch (1992). Bau­ten aus ei­ner Zeit, in der Po­li­tik noch nicht kom­plett von Angst be­stimmt schien.

In der heu­ti­gen Ber­li­ner Re­pu­blik herrscht ei­ne ton­nen­schwer stein­er­ne Ar­chi­tek­tur, die Mas­se, Tek­to­nik und Ge­wicht be­tont. Die 2014 er­öff­ne­te Zen­tra­le des Bun­des­nach­rich­ten­diens­tes von den Ar­chi­tek­ten Klei­hu­es+Klei­hu­es, ein Or­well’scher Gi­gant mit 14.000 Schieß­schar­ten-Fens­tern, zeigt dies am bru­tal­sten. Zwi­schen Stadt­schloss und der Stel­le, an der einst das pa­pier­dünn auf­ge­fä­cher­te Be­ton­trag­werk der DDR-Gast­stät­te „Ahorn­blatt“ (1973 er­baut, 2000 ab­ge­ris­sen) stand, mit sei­nem in­ge­ni­eur­tech­nisch aus­ge­lo­te­tem Mi­ni­mum an Mas­se, rei­hen sich heu­te groß­bürg­er­li­che „Tow­nhou­ses“ für die neue Eli­te an­ein­an­der. Mit­ten­drin das Schloss als macht­strot­zen­des In­diz für die­se blei­er­ne Ver­preu­ßung, de­ren ar­chi­tek­to­ni­sche Aus­läu­fer mit ih­rer stein­er­nen Stren­ge in­zwi­schen die gan­ze Re­pu­blik bis in den letz­ten rhei­ni­schen Zwi­ckel ge­flu­tet ha­ben. War das al­te Schloss noch ein le­ben­di­ges, ge­wachs­enes Ad­di­tiv aus meh­re­ren Bau­pha­sen über fünf Jahr­hun­der­te, ent­steht es jetzt neu als fu­gen­lo­se Ein­heits­mas­se, als tie­fen­lo­ses Ab­zieh­bild auf ei­nem so­li­den Kern aus Stahl­be­ton.

Mo­nu­men­tal, aber kor­rekt

Um sich selbst die­se Schwer­ge­wich­tig­keit ak­zep­ta­bel zu ma­chen, war al­ler­dings nach­zu­wei­sen, dass man im Ber­lin auch Mo­nu­men­ta­li­tät kann, oh­ne sich Al­bert-Speer-Ger­ma­nia-Vor­wür­fe ein­zu­han­deln, und dass sich ein im Ori­gi­nal mon­ar­chis­ti­sches Bau­werk als Re­plik de­mo­kra­tisch zu­recht­bie­gen lässt. Zu die­sem Zweck er­fand man das Hum­boldt­fo­rum. Un­ter Be­ru­fung auf Ale­xan­der und Wil­helm von Hum­boldt als Iko­nen der wis­sen­schaft­li­chen Neu­gier und Welt­of­fen­heit und Na­mens­ge­ber der be­nach­bar­ten Uni­ver­si­tät soll an die hu­ma­ni­stisch-li­be­ra­le Tra­di­ti­on Preu­ßens an­ge­knüpft wer­den.

Die in der „Hum­boldt-Box“ als er­ste Bei­spie­le für das völ­ker­kund­li­che Mu­se­ums­kon­zept ge­zeig­ten Ex­po­na­te las­sen schon er­ah­nen, dass das Hum­boldt­fo­rum ein Sam­mel­su­ri­um von vie­len an sich gu­ten Ide­en ist, de­nen lei­der der Ma­kel an­haf­tet, dass sie of­fen­sicht­lich re­kru­tiert wur­den, um die Ku­ba­tur des Schlos­ses auf­zu­fül­len. Noch da­zu zu ei­nem Zeit­punkt, als der Stel­la-Ent­wurf schon fests­tand und jeg­li­che ku­ra­to­ri­sche Of­fen­heit im Aus­stel­lungs­kon­zept an den mas­si­ven Säu­len­rei­hen zu zer­schel­len droh­te. „Die größ­te Mehr­zweck­hal­le der Re­pu­blik“ nann­te es da­mals der kürz­lich ver­stor­be­ne Ar­chi­tek­tur­kri­ti­ker Die­ter Bart­etz­ko. Ein va­ges Gro­ßes Gan­zes, das sich ir­gend­wie schon er­klä­ren und of­fen­ba­ren wird, wenn die Leu­te in ei­nem Raum her­um­ste­hen und sich Din­ge an­gu­cken. Dass die Stadt Ber­lin un­ter dem Wo­we­reit-Nach­fol­ger Mi­cha­el Mül­ler im Ju­ni die­ses Jah­res dem Hum­boldt­fo­rum noch schnell das Kon­zept „Welt.Stadt.Ber­lin“ da­zu­ge­sell­te, ver­ring­ert nicht ge­ra­de die Ge­fahr der Be­lie­big­keit.

Die Fo­kus­sie­rung auf Völ­ker­kun­de und die „an­de­re Welt“ ist un­schwer zu deu­ten: Ein mas­si­ves preuß­isches Mo­nu­ment in Ber­lin braucht ein glo­ba­les Ge­gen­ge­wicht, um po­li­tisch ak­zep­ta­bel zu sein. Das ge­fähr­li­che deut­sche „Wir“ er­teilt sich über das exo­tisch „An­de­re“, und sei es nur in Ge­stalt po­ly­ne­si­scher Boo­te, die Ab­so­lu­ti­on vom Ge­spenst des Na­tio­na­lis­mus. An der Welt We­sen soll Deutsch­land ge­ne­sen.

Un­ten am Ein­gang der Hum­boldt-Box wird um Spen­den für die Fass­aden­re­kons­truk­ti­on ge­wor­ben. Da­ne­ben kann man ein T-Shirt mit der Schloss­fass­ade er­wer­ben, Rot und Gold auf Schwarz, in künst­lich an­ge­brö­sel­ter Scha­blo­nen-Ty­po­gra­fie, die eher an anar­chis­ti­sche Pro­test­pla­ka­te er­in­nert: Sie­ger­jus­tiz im Zy­nis­mus-De­sign. Sieht man vom Re­gi­me ab, das ihn er­sann, seht man sich fast zu­rück zum im Wort­sin­ne so de­mo­kra­tie­stol­zen, zu­kunfts­fro­hen und of­fe­nen Kon­zept ei­nes wirk­li­chen „Pa­las­tes der Re­pu­blik“.

An­de­rer­seits: Von au­ßen mas­siv und preuß­isch, von in­nen wi­der­sprüch­lich und un­si­cher: In die­ser Form dürf­te das Hum­boldt­fo­rum im­mer­hin all die, die sich vor neu­er deut­scher Groß­manns­sucht fürch­ten, be­ru­hi­gen.

11. Juli 2015 Der Standard

Rast­lo­se Den­ker aus ei­ner rast­lo­sen Stadt

Kaum ein Ar­chi­tek­tur­bü­ro steht mehr für New York als Dil­ler, Sco­fi­dio + Ren­fro. Ob der High Li­ne Park oder das Mo­MA, im­mer be­we­gen sie sich an der Gren­ze von Kunst und Ar­chi­tek­tur. Eli­za­beth Dil­ler er­klärt, wa­rum.

Sie sind die Tau­send­sas­sas der Ar­chi­tek­tur: Bü­cher, Kunst­in­stal­la­tio­nen, Thea­ter, und mil­lio­nen­schwe­re Mu­se­en wie das ICA in Bos­ton oder die Er­wei­te­rung des Mu­se­um of Mo­dern Art in New York. Welt­be­rühmt mach­te das Bü­ro Dil­ler, Sco­fi­dio + Ren­fro aber ein Park: Der 2006 bis 2014 rea­li­sier­te High Li­ne Park auf ei­ner auf­ge­ge­be­nen Bahn­tras­se in Man­hat­tan wur­de bin­nen kur­zem zum heiß­ge­lieb­ten ur­ba­nen Treff­punkt mit Sel­fie-auf dem-Laufs­teg-Mehr­wert und zum um­strit­te­nen Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt für den Im­mo­bi­lien­boom in New York.

En­de Ju­ni war Eli­za­beth Dil­ler zu ei­nem Vor­trag an der Kunst­uni Linz ge­la­den. Mit dem STAN­DARD sprach sie über das al­te und das neue New York, die Welt zwi­schen Kunst und Ar­chi­tek­tur und die Ge­fahr des Er­folgs.

Stan­dard: Der High Li­ne Park in New York, des­sen drit­ter Ab­schnitt En­de 2014 er­öff­net wur­de, wur­de so­fort zu ei­nem Rie­sen­er­folg. Hat Sie das über­rascht?

Dil­ler: Ja. Wir hät­ten nie da­ran ge­dacht, dass der Park auch nur in New York selbst be­liebt sein wür­de. Wir schätz­ten die Be­su­cher­zahl auf 300.000 pro Jahr. Im er­sten Jahr wa­ren es vier­mal so viel, und 2014 wa­ren es sechs Mil­lio­nen. Von der Re­so­nanz in der Pop­kul­tur ganz zu schwei­gen: So­gar bei den Sim­psons kam die High Li­ne schon vor! Ich glau­be, wir ha­ben da ei­nen Nerv ge­trof­fen, nicht nur lo­kal, son­dern glo­bal.

Stan­dard: Wel­cher Nerv ist das?

Dil­ler: Es geht um nach­hal­ti­ge Stra­te­gien, um neue Kon­zep­te für die Res­te, die wir hin­ter­las­sen. Und es gibt ei­nen gro­ßen Wunsch nach mehr öf­fent­li­chem Raum, ge­ra­de in ei­ner von di­gi­ta­len Wel­ten do­mi­nier­ten Zeit. Die Ent­wi­cklung, die die High Li­ne los­trat, ging al­ler­dings viel schnel­ler vo­ran, als wir es ver­mu­tet hat­ten.

Stan­dard: Es wur­de kri­ti­siert, dass die High Li­ne die Gen­tri­fi­zie­rung vo­ran- und die Im­mo­bi­lien­prei­se hoch­ge­trie­ben hät­te. War der Park al­so zu er­folg­reich?

Dil­ler: Ich fürch­te, ja. Man fragt sich, ob zu viel Er­folg nicht auch schäd­lich sein kann. Wenn ein Stadt­vier­tel in we­ni­ger als zehn Jah­ren von ei­ner ver­ges­se­nen, von Kri­mi­na­li­tät ge­präg­ten Ge­gend zu ei­nem der teu­ers­ten Im­mo­bi­liens­tan­dor­te in New York wird, dann muss man sich Sor­gen ma­chen. Al­ler­dings wä­re das auch oh­ne die High Li­ne pas­siert. Schließ­lich wa­ren dies die letz­ten Brach­flä­chen in Man­hat­tan. Wir ha­ben selbst un­ser Bü­ro dort und wer­den es uns wohl nicht mehr lan­ge leis­ten kön­nen.

Stan­dard: Vie­le an­de­re Städ­te ha­ben ver­sucht, die Idee ei­nes li­nea­ren, er­höh­ten Parks zu ko­pie­ren, und in New York selbst gibt es die Idee ei­ner un­ter­ir­di­schen „Low Li­ne“: Lässt sich das Er­folgs­re­zept so ein­fach ko­pie­ren?

Dil­ler: Es ging uns vor al­lem da­rum, dass man die Stadt auf neue Art er­fährt. Die High Li­ne war ei­ne still­ge­leg­te, ab­bruch­rei­fe Bahn­tras­se vol­ler He­ro­in­sprit­zen und ka­put­ter Mö­bel. Ein schwar­zes Loch, ei­ne Ge­gend vol­ler Me­lan­cho­lie. Wir ha­ben ver­sucht, et­was von die­sem New Yor­ker Cha­rak­ter, die­ser Rau­heit zu be­wah­ren. Der Er­folg hat al­so mit dem zu tun, was schon da war. An­de­re Städ­te müs­sen ih­re ei­ge­nen Qua­li­tä­ten fin­den.

Stan­dard: Sie ar­bei­ten seit über 30 Jah­ren in New York. In­wie­fern hat Sie die Stadt ge­prägt?

Dil­ler: Was mich sehr be­ein­flusst hat, ist das New York der 1970er-Jah­re. Es war ei­ne un­glau­bli­che Zeit: sehr wild, rau und le­ben­dig. Kunst, Thea­ter, In­stal­la­tio­nen, bil­li­ge Mie­ten, In­dus­tri­el­ofts. Al­le Ar­ten von Kul­tur ver­misch­ten sich. Schon da­mals hat mich die Kunst mehr be­ein­flusst als die Ar­chi­tek­tur. Und ich war schon als Kind süch­tig nach Mu­se­en. In­so­fern: Ja, ich bin ein Pro­dukt New Yorks, auch wenn ich selbst nie da­ran den­ke.

Stan­dard: Auch ei­nen gro­ßen An­teil Ih­rer Pro­jek­te ha­ben Sie in New York rea­li­siert.

Dil­ler: Sehr un­üb­lich für Ar­chi­tek­ten! Die meis­ten kom­men wo­an­ders zum Ruhm, und wer­den am En­de ih­res Le­bens ein­ge­la­den, in ih­rer Hei­mat­stadt et­was zu bau­en. Wir hat­ten da­ge­gen vie­le Ge­le­gen­hei­ten, zu un­se­rer Stadt et­was bei­zu­tra­gen.

Stan­dard: Un­ter die­sen Pro­jek­ten ist die Er­wei­te­rung des Mu­se­um of Mo­dern Art das ak­tu­ell­ste und um­strit­tens­te. Wa­rum hat das Pro­jekt so viel Staub auf­ge­wir­belt?

Dil­ler: Das Mo­MA platzt aus al­len Näh­ten. Als Näch­stes be­kommt es ei­nen neu­en Turm von Je­an Nou­vel. Wir be­ka­men den Auf­trag für den Raum da­zwi­schen. Ge­nau dort, wo sich das Folk Art Mu­se­um be­fand, das wir auf je­den Fall er­hal­ten woll­ten. Nach sechs Mo­na­ten Ana­ly­se war uns klar, dass das nicht funk­tio­niert. In­zwi­schen wur­de es ab­ge­ris­sen. Das hieß, dass wir und das Mo­MA plötz­lich al­le ge­gen uns hat­ten. In den 1970er-Jah­ren hieß es: Macht die Kunst we­ni­ger eli­tär! Heu­te ist den Leu­ten die Kunst zu po­pu­lär: Zu vie­le Tou­ris­ten! Wir ha­ben all das er­dul­det, weil wir letz­tend­lich das Mo­MA zu ei­nem bes­se­ren Mu­se­um ma­chen wol­len. Es ist in je­der Hin­sicht ein Ex­trem­fall un­ter un­se­ren Pro­jek­ten. Am an­de­ren En­de pla­nen wir ge­ra­de, ei­ne ganz an­de­re Art Mu­se­um in New York zu eta­blie­ren.

Stan­dard: Wo­rum geht es da?

Dil­ler: 2008 such­te die Stadt nach ei­ner kul­tu­rel­len Nut­zung, di­rekt an der High Li­ne. Na­tür­lich hat­te da­mals, im Jahr der Kri­se, nie­mand Geld für so et­was üb­rig. Wir wa­ren die Ein­zi­gen, die sich be­war­ben. Jetzt sind wir mit­ten in der Pla­nung. Es wird ein brand­neu­es Start-up na­mens „Cul­tu­re Shed“. Oh­ne Re­geln, oh­ne Kunst­samm­lung, ein völ­lig of­fe­ner Raum.

Stan­dard: Mu­se­en als Mit­tel zur Stadt­ent­wi­cklung hat­ten Sie sich schon beim Neu­bau des ICA im Ha­fen von Bos­ton ge­wid­met. Vor kur­zem wur­de der Sie­ger des Wett­be­werbs für das Gug­gen­heim Hel­sin­ki be­kannt­ge­ge­ben, für den über 1700 Pro­jek­te ein­ge­reicht wur­den. Ist der „Bil­bao-Ef­fekt“ im­mer noch ei­ne gül­ti­ge Er­folgs­for­mel?

Dil­ler: Es ist ir­re: Beim Gug­gen­heim Hel­sin­ki hoff­ten Tau­sen­de auf ih­ren ei­ge­nen Frank-Geh­ry-Mo­ment. Was mit Geh­rys Mu­se­um in Bil­bao pas­sier­te, war ma­gisch: ein Ge­bäu­de, das mit ei­ner Stadt iden­ti­fi­ziert wird. Für ei­nen sol­chen Er­folg braucht man die rich­ti­ge Ar­chi­tek­tur am rich­ti­gen Ort zur rich­ti­gen Zeit. Auch bei un­se­rem ICA-Mu­se­um in Bos­ton war das so. Wenn man die­sen Ef­fekt aber im­mer wei­ter ko­piert, ver­liert er an Kraft. Mu­se­en als Mo­tor der Stadt­ent­wi­cklung sind kei­ne schlech­te Idee, aber wenn es nur da­rum geht, die im­mer glei­che skulp­tu­ra­le Ar­chi­tek­tur hin­zu­stel­len, funk­tio­niert das nicht. Man muss sich den Ort sehr ge­nau an­schau­en, be­vor man zu pla­nen be­ginnt.

Stan­dard: Sie sag­ten ein­mal, Sie hät­ten nie die Ab­sicht ge­habt, Ar­chi­tek­tur zu pro­du­zie­ren. Heu­te füh­ren Sie ein Bü­ro mit dut­zen­den Mit­ar­bei­tern. Was ist da­zwi­schen pas­siert?

Dil­ler: Ich den­ke, wir sind ir­gend­wann rechts ab­ge­bo­gen, wo wir links hät­ten ab­bie­gen sol­len. Ri­car­do Sco­fi­dio und ich be­gan­nen mit Kunst­in­stal­la­tio­nen. Das wa­ren rich­ti­ge Gue­ril­la-Ak­tio­nen. Nach und nach wur­den wir von den Mu­se­en ein­ge­la­den. Dann gab uns Ara­ta Iso­za­ki ei­nen Auf­trag für ei­nen Wohn­bau in Ja­pan. Weil er ei­ne Aus­stel­lung von uns über das The­ma Bü­geln ge­se­hen hat­te! Da­mals hat­ten wir viel­leicht vier Mit­ar­bei­ter. Dann wa­ren es ir­gend­wann zehn, dann 20, dann 40. Heu­te füh­le ich mich sehr wohl in die­ser ver­schwom­me­nen Welt zwi­schen Ar­chi­tek­tur, Kunst und Per­for­man­ce.

Stan­dard: Ge­hen Sie an Ar­chi­tek­tur- und Kunst­pro­jek­te völ­lig ver­schie­den he­ran, oder gibt es Über­schnei­dun­gen?

Dil­ler: Die Un­ter­schie­de sind gar nicht so groß. Es be­ginnt im­mer mit ei­ner kri­ti­schen Ana­ly­se, egal ob es ein Mu­se­um oder ei­ne Per­for­man­ce ist. Wir stel­len uns vor, wir wä­ren ge­ra­de auf der Er­de ge­lan­de­te Aliens, die et­was zum er­sten Mal tun. Wir schau­en, was es schon gab und wel­cher Lo­gik es folgt, und den­ken dann wei­ter.

Stan­dard: Apro­pos Wei­ter­den­ken: Gibt es ei­ne Bau­auf­ga­be, von de­ren Um­set­zung Sie noch träu­men?

Dil­ler: Im Mo­ment ist mein Traum die „Mi­le Long Ope­ra“, die wir für die High Li­ne kon­zi­pie­ren. Ei­ne Oper, die gleich­zei­tig Ur­ba­nis­mus, Kunst, Ar­chi­tek­tur und Mu­sik ist. Das Pu­bli­kum und die Sän­ger sind da­bei per­ma­nent in Be­we­gung.

Stan­dard: Wann wird der Traum in Er­fül­lung ge­hen?

Dil­ler: Un­ser Ziel ist Herbst 2017. Die Or­ga­ni­sa­ti­on ist furcht­bar kom­pli­ziert, im­mer­hin ist es ein Ge­samt­kunst­werk! Na­tür­lich funk­tio­nie­ren Ge­samt­kunst­wer­ke nie so wie ge­plant, aber wir muss­ten das ein­fach tun. Wir ha­ben die High Li­ne ge­plant, und das ist der näch­ste Schritt. Un­se­re rast­lo­sen Ge­mü­ter brin­gen uns al­so wie­der in auf­re­gen­de Schwie­rig­kei­ten!

4. Juli 2015 Der Standard

Wie­der le­ben ler­nen

Was braucht man zum Woh­nen? Das lernt man vor al­lem, wenn man vor­her nichts hat­te. Das „Neu­ner­haus“ in Wien bie­tet Ob­dach­lo­sen ein Zu­hau­se auf dem Weg in die Nor­mal­ität. Mit Ar­chi­tek­tur, die mehr ist als nur Norm.

Ich füh­le mich hier sehr gut auf­ge­ho­ben“, sagt Ernst S. und blickt aus sei­nem Fens­ter im drit­ten Stock in den Hof. Gut, er sei zwar ein Na­tur­mensch, des­we­gen ha­be er kurz ge­zö­gert vor dem Ein­zug im April. Viel Grün gibt es nicht auf der Eck­par­zel­le im drit­ten Be­zirk. Aber der Pra­ter ist nur we­ni­ge hun­dert Me­ter ent­fernt. Zum An­geln fährt er zum Wie­ner­berg­teich.

Ein Tisch, zwei Stüh­le, Bett, Re­gal, Kü­chen­zei­le, 25 Qua­drat­me­ter – ei­ne der 73 Woh­nun­gen im „Neu­ner­haus“, das En­de Ju­ni er­öff­net wur­de. Nicht lan­ge ist es her, da wohn­te der heu­te 58-Jäh­ri­ge ganz an­ders. Vier Jah­re lang auf ei­nem Dach­bo­den, im ei­si­gen Win­ter un­ter meh­re­ren De­cken, im Som­mer war es brü­tend heiß. Sei­ne Pa­pie­re wur­den ge­stoh­len, von ei­nem Über­fall trägt er noch ei­ne Nar­be. Heu­te hat er sein ei­ge­nes Reich hin­ter sei­ner ei­ge­nen Tür – im wohl­tem­pe­rier­ten Pass­iv­haus. „Es ist schön ru­hig hier.“

Zwei Stock­wer­ke über ihm sitzt Pe­ter E. auf sei­nem neu­en So­fa, er be­wohnt mit Freun­din und Hund ei­ne der Paar­woh­nun­gen im Neu­ner­haus. Auch er ge­nießt die Ru­he. Ei­ne Ver­gan­gen­heit aus Al­ko­hol, Ge­walt, Haft, Ob­dach­lo­sig­keit liegt hin­ter ihm. „Ich brau­che ei­ne Tür, die ich ab­schlie­ßen kann, ei­nen Raum für mich al­lei­ne. Die Tür ist fast noch wich­ti­ger als das Dach über dem Kopf.“ Für vie­le ehe­ma­li­ge Ob­dach­lo­se gilt: Das Woh­nen muss man erst wie­der ler­nen. Man­che schla­fen die er­sten Wo­chen auf dem Bal­kon, er­zählt Pe­ter E.

Der Ver­ein Neu­ner­haus be­treibt in Wien Wohn­hei­me für aku­te Fäl­le, für Über­gangs­woh­nen und das Pro­gramm „Hou­sing First“, in dem die ehe­mals Ob­dach­lo­sen selbst­stän­dig in der Stadt ver­teilt woh­nen. Das Neu­ner­haus in der Ha­gen­mül­ler­gas­se liegt pro­gram­ma­tisch da­zwi­schen. Hier wohnt man in der Re­gel für zwei Jah­re, ide­al­er­wei­se geht es da­nach in sta­bi­le­ren Ver­hält­nis­sen wei­ter. Am sel­ben Ort be­trieb man schon frü­her ein Wohn­heim, das sich bald als nicht mehr sa­nier­bar er­wies. Ge­mein­sam mit dem Bau­trä­ger WBV-GPA und ge­för­dert vom Fonds So­zia­les Wien mach­te man sich an die Neu­bau­pla­nung, vier Ar­chi­tek­tur­bü­ros wur­den ein­ge­la­den. Am 22. Ju­ni wur­de er­öff­net.

„Par­ti­zi­pa­ti­on war uns schon im­mer sehr wich­tig“, sagt Neu­ner­haus-Ge­schäfts­füh­rer Mar­kus Rei­ter im Stan­dard -Ge­spräch. „Des­we­gen ha­ben wir bei der Pla­nung das Wis­sen und die Wün­sche der Be­woh­ner und Mit­ar­bei­ter mit ein­be­zo­gen. Uns ging es da­rum, ei­ne Ge­schich­te zu fin­den, die er­zählt, wie in die­sem Haus das Le­ben und wie die Kom­mu­ni­ka­ti­on statt­fin­det.“ Die über­zeu­gend­ste Lö­sung kam vom Wie­ner Bü­ro Pool. Sie hals­ten sich selbst ei­ne ge­hö­ri­ge Por­ti­on Tüf­te­lei auf: Nicht nur, dass sie die maß­ge­schnei­der­ten Mö­bel selbst ent­war­fen, es gleicht auch kei­ne ein­zi­ge Woh­nung der an­de­ren. „Pool hat ge­nau un­se­re Spra­che ge­trof­fen, fast, als ob sie un­se­re Ge­dan­ken le­sen könn­ten“, freut sich Mar­kus Rei­ter.

Fix­vo­ka­bu­lar die­ser ge­mein­sa­men Spra­che: Hier geht es um die Rück­kehr zur Nor­mal­ität, nicht um Auf­fang­la­ger-Tris­tes­se. Mehr als das ab­so­lu­te Mi­ni­mum darf da durch­aus drin sein. Pass­iv­haus­stan­dard, je ei­ne Wasch­kü­che pro Ge­schoß, Kü­chen­zei­len mit Back­rohr. „Die Ent­schei­dung, voll­wer­ti­ge Kü­chen ein­zu­bau­en, ist ein wich­ti­ger Fak­tor für das selbst­ver­ant­wort­li­che Woh­nen“, be­tont Mar­kus Rei­ter. Ar­chi­tekt Christ­oph Lam­mer­hu­ber von Pool er­gänzt: „Die Be­woh­ner hier ha­ben ge­nau die­sel­ben Be­dürf­nis­se wie an­de­re Nut­zer. Die Tat­sa­che, dass hier an der Aus­stat­tung nicht ge­spart wird, ist auch ei­ne Form von Ge­rech­tig­keit.“

Eis­die­len­sor­ti­ment

Auch beim we­sent­li­chen ar­chi­tek­to­ni­schen Ele­ment wur­de auf Bil­lig­look ver­zich­tet: Das Stie­gen­haus, das sich mit zahl­rei­chen Sei­ten­gän­gen, Win­keln und Ni­schen durchs Haus schlän­gelt, ist mehr ei­ne hel­le, freund­li­che in­ne­re Stra­ße als ein ne­on­be­leuch­te­ter Funk­ti­ons­schacht. Mit sei­nem Farb­sche­ma aus Blü­ten­ro­sa, Sieb­zi­ger-Jah­re-Tan­nen­grün, Ap­fel­grün, Blau­be­er­blau und Va­nil­le­beige, das sich über Luft­räu­me ge­schoß­über­grei­fend ver­zahnt, wirkt es fast wie ein aus­ein­an­der­ge­fal­te­tes Eis­die­len­sor­ti­ment.

Stie­gen­haus und Woh­nun­gen bil­den so ein in­ei­nan­der ver­schach­tel­tes Raum­puz­zle vol­ler E­cken und Win­kel. So et­was macht auch ein Ar­chi­tekt nicht aus rei­nem Spaß­be­dürf­nis. „Die Woh­nun­gen wir­ken da­durch grö­ßer“, sagt Christ­oph Lam­mer­hu­ber, „und sie sind auch bes­ser be­nutz­bar.“ Hier ein Platz für die Gar­de­ro­be, da ein Eck für den Schrank. Auch im Stie­gen­haus fun­gie­ren die vie­len Ni­schen und Ge­mein­schafts­be­rei­che als wich­ti­ge, weil ge­schütz­te Pri­vat­sphä­re. Wer will, kann durch die Stock­wer­ke fla­nie­ren und mit den Nach­barn beim Wuz­ler vor minz­grü­nem Wand­hin­ter­grund ver­wei­len, oh­ne per­ma­nent un­ter Be­ob­ach­tung zu ste­hen. Be­geg­nun­gen sind mög­lich, aber nicht er­zwun­gen. Ei­ne Wohl­tat für die Be­woh­ner, die an­de­res ge­wohnt sind: „Im Über­gangs­wohn­heim hat’s je­der so­fort mit­be­kom­men, wenn man aus der Tür ge­gan­gen ist“, er­in­nert sich Pe­ter E. Sein Ur­teil zum Stie­gen­haus: „Leicht ab­strakt, aber voll ge­ni­al!“

Ein zwang­lo­ses An­ge­bot, so könn­te man das Neu­ner­haus um­schrei­ben. Psy­cho­lo­gi­sche und ärzt­li­che Be­treu­ung, So­zi­al­ar­beit, Es­sens­aus­ga­be und Floh­markt sind im Haus un­ter­ge­bracht, doch klin­gelt kein stren­ger Auf­se­her täg­lich an der Woh­nungs­tür, um Teil­nah­me ein­zu­mah­nen. Auch ein Al­ko­hol­ver­bot gibt es nicht. Das Ca­fé mit Hof im Un­ter­ge­schoß wird ei­gen­stän­dig von den Be­wohn­ern be­trie­ben, selbst hier fin­det sich im klein­sten De­tail noch die psy­cho­lo­gisch re­le­van­te Ni­sche: Die Ar­chi­tek­ten ga­ben der Bar kam­mar­ti­ge Aus­buch­tun­gen, an de­nen man sich ge­gen­über­sit­zen kann – wenn man es will.

Mehr Licht ins In­ne­re

„Wich­tig ist es, das The­ma Woh­nungs­lo­sig­keit in die Stadt­vier­tel zu in­te­grie­ren. Es gibt Kurz­zeit-Apart­ments für Ma­na­ger, wa­rum al­so nicht auch für Ob­dach­lo­se?“, sagt Ge­schäfts­füh­rer Mar­kus Rei­ter. Schließ­lich ist Woh­nungs­lo­sig­keit in Zei­ten der stei­gen­den Le­bens­hal­tungs­kos­ten und „wor­king poor“ kein Rand­the­ma mehr – stig­ma­ti­siert ist es den­noch. „Es gibt ei­nen ho­hen An­teil an pre­kär Woh­nungs­lo­sen“, er­klärt Mar­kus Rei­ter. „Men­schen, die bei Freun­den oder Ver­wand­ten auf der Couch woh­nen. Das ist ver­steck­te Ob­dach­lo­sig­keit. Es geht uns da­rum, Scham und Stig­ma­ti­sie­rung zu ver­mei­den. Die ho­he Qua­li­tät des Woh­nens ist auch ein Sig­nal an die Be­woh­ner, ei­ne Ein­la­dung, ihr Le­ben zum Bes­se­ren zu ver­än­dern.“

Ein bun­tes Stie­gen­haus-Woh­nungs-La­by­rinth, ein ge­räu­mi­ges Ca­fé im Haus: Es ist ein fröh­li­ches Pa­ra­dox, dass ein Haus, das in er­ster Li­nie ein „nor­ma­les Wohn­haus“ sein will, et­was ganz Ei­ge­nes ge­wor­den ist, ei­ne Ty­po­lo­gie für sich. Da passt es gut, dass die Ar­chi­tek­ten auch bei der Fass­ade mehr als das Mi­ni­mum her­aus­hol­ten: Die weiß ver­putz­ten, nach au­ßen auf­ge­wei­te­ten Fens­ter­lei­bun­gen ver­mei­den die bei Wär­me­dämm­fass­aden üb­li­che Schieß­schar­te­nop­tik und ho­len mehr Licht ins In­ne­re.

Pe­ter E. sitzt auf dem So­fa hin­ter sei­nem hel­len Fens­ter, den Hund zu sei­nen Fü­ßen, und lä­chelt. „Es ist ein Ver­such ei­nes nor­ma­len Le­bens“, sagt er. „Ein ge­wis­ser Stan­dard des Woh­nens, den man nicht ver­lie­ren mag. Und man weiß, dass man et­was da­für tun muss. Es ist zum er­sten Mal ein Ge­fühl von Woh­nen.“ – „Nein“, kor­ri­giert er sich: „Ei­gent­lich ein Ge­fühl von Le­ben.“

20. Juni 2015 Der Standard

Tau­wet­ter in der Wü­ste?

Das kom­pli­zier­te Ver­hält­nis zum Iran birgt auch Chan­cen für dor­ti­ge Ar­chi­tek­ten. Wo die heu­ti­ge ira­ni­sche Ar­chi­tek­tur zwi­schen Stolz auf die rei­che Bau­ge­schich­te und dem Drang zur Mo­der­ne steht, er­klärt der Ar­chi­tekt Fa­ra­marz Par­si.

Im wech­seln­den Ver­hält­nis zwi­schen den USA und dem Iran hat die Ar­chi­tek­tur viel­fach Brü­cken ge­schla­gen. Vor al­lem jun­ge ira­ni­sche Ar­chi­tek­ten sind auf der in­ter­na­tio­na­len Büh­ne er­fah­ren, vie­le stu­die­ren an Uni­ver­si­tä­ten in Eu­ro­pa und den USA und keh­ren dann zu­rück. Er­folg­rei­che Bü­ros ern­ten An­er­ken­nung im Wes­ten, wie der ge­ra­de 32-jäh­ri­ge Sha­hab Mir­zaean auf der Bien­na­le Ve­ne­dig 2012 für sein „Whi­te Apart­ment“ in La­va­san bei Te­he­ran, ein Wohn­haus, das tra­di­tio­nel­le Ele­men­te mit mo­der­ner tech­ni­scher Prä­zi­si­on ver­bin­det. Die Rück­be­sin­nung auf die rei­che Bau­ge­schich­te aus über 15 Jahr­hun­der­ten be­schäf­tigt die ira­ni­sche Ar­chi­tek­tur im­mer wie­der. So wur­de die­ses Jahr in Is­fa­han un­ter gro­ßem Auf­wand der 1000 Jah­re al­te Imam-Khan-Platz, der völ­lig ver­schwun­den war, re­kons­trui­ert.

Im Ge­spräch er­zählt der Ar­chi­tekt Fa­ra­marz Par­si, ei­ner der be­sten Ken­ner der ira­ni­schen Bau­tra­di­ti­on, der vor kur­zem zu ei­nem Vor­trag an der TU Wien ge­la­den war, über das ge­hei­me Vo­ka­bu­lar des ira­ni­schen Bau­ens.

Stan­dard: Der Iran blickt auf ei­ne lan­ge Bau­ge­schich­te zu­rück. Wie geht man als Ar­chi­tekt da­mit um?

Par­si: In Qaz­vin, 120 Ki­lo­me­ter von Te­he­ran ent­fernt, ha­be ich die äl­tes­te Stra­ße im gan­zen Iran res­tau­riert. Ich ha­be ge­nau ana­ly­siert, aus wel­cher Zeit wel­che Bau­ten stamm­ten. Die­se his­to­ri­schen Schich­ten woll­te ich les­bar ma­chen. Wir ha­ben nur die stö­ren­den Ein­bau­ten ent­fernt. Die Bau­ten, die nicht mehr er­hal­ten wa­ren, ha­be ich im Bo­den­be­lag nach­ge­zeich­net. Wie bei der Ka­pel­le ne­ben dem Ste­phans­dom bei Ih­nen in Wien.

Stan­dard: Auch in Is­fa­han wur­de ein al­ter Platz kom­plett re­kons­trui­ert, ähn­lich wie das um­strit­te­ne Stadt­schloss in Ber­lin. Sind sol­che Re­kons­truk­tio­nen le­gi­tim?

Par­si: Das Pro­blem in Is­fa­han ist: Nie­mand kennt die rich­ti­ge Form und La­ge des rund tau­send Jah­re al­ten Plat­zes. Das meis­te da­von ist heu­te in der Er­de be­gra­ben.Wenn man nicht ge­nau weiß, wie das Ori­gi­nal aus­sah, darf man es nicht wie­der­her­stel­len. Sonst wird der Bau ein Fa­ke. In Is­fa­han hat man die­sen Feh­ler ge­macht. Ei­ni­ge be­rühmt­e ira­ni­sche Ar­chi­tek­ten ha­ben das kri­ti­siert.

Stan­dard: Sieht es bei den Neu­bau­ten bes­ser aus?

Par­si: Nicht un­be­dingt. In ira­ni­schen Groß­städ­ten schie­ßen über­all mehr­ge­scho­ßi­ge In­ves­to­ren­pro­jek­te mit pseu­do­his­to­ri­schen Fass­aden em­por. Die­se Bau­ten wer­den für die Neu­rei­chen er­rich­tet. Die gibt es über­all in der Welt. In Te­he­ran gibt es sehr la­xe Bau­vor­schrif­ten zu Fass­aden, des­halb sieht man oft Bau­ten, hin­ter de­nen kein Ge­dan­ke steckt. Vie­le ira­ni­schen Ar­chi­tek­ten schau­en zu sehr nach Eu­ro­pa, zu Ha­did und Li­be­skind, und imit­ie­ren de­ren Bau­ten, aber nicht be­son­ders gut. Oder sie wol­len an die ira­ni­sche Tra­di­ti­on an­knüp­fen, aber ken­nen die rich­ti­ge Spra­che nicht.

Stan­dard: Hat die Ar­chi­tek­tur im Iran ei­ne be­son­de­re Spra­che?

Par­si: Ab­so­lut. Vie­le Ar­chi­tek­ten ha­ben ver­sucht, sich dem Ge­heim­nis der his­to­ri­schen Ar­chi­tek­ten über Phi­lo­so­phie und Re­li­gi­on an­zu­nä­hern. Aber wir kön­nen die ur­sprüng­li­chen In­ten­tio­nen hin­ter den Bau­ten da­mit nicht ver­ste­hen. Al­so ha­be ich ver­sucht, ei­nen an­de­ren Zu­gang zu fin­den. Seit 20 Jah­ren for­sche ich da­ran.

Stan­dard: Sie ha­ben al­so das Ge­heim­nis ge­fun­den?

Par­si: Ich su­che nicht nach dem Ge­heim­nis, son­dern nach den De­tails und wie man sie zu ei­ner Struk­tur an­ord­nen kann. Mit die­ser Spra­che kann man kom­ple­xe ge­nau­so wie ein­fa­che Sät­ze aus­drü­cken. Al­le his­to­ri­schen Bau­ten ha­ben die­ses Vo­ka­bu­lar. Erst die mo­der­ne Ar­chi­tek­tur, die An­fang des 20. Jahr­hun­derts in der Schah-Ära auf­kam, hat ei­ne an­de­re Spra­che ins Land ge­bracht.

Stan­dard: Was wä­re zum Bei­spiel ein Be­griff in die­sem Vo­ka­bu­lar?

Par­si: Ich zei­ge Ih­nen ein Bei­spiel! (Zeich­net ei­ne ein­ge­schrie­be­ne Kreuz­form auf die Ser­viet­te.) Die­se Form heißt „Vier Iwans“, ein Hof mit vier Sei­ten­hal­len. Sie taucht über­all im Iran auf, un­ab­hän­gig vom Kli­ma. In der Wü­ste von Yazd gibt es Wind­tür­me, in den Ber­gen von Tä­bris Räu­me, in de­nen man sich im Win­ter süd­sei­tig in der Son­ne auf­wär­men kann. Das Raum­prin­zip ist das­sel­be. Die Spra­che ist sehr ein­fach, aber man kann et­was Kom­ple­xes da­raus ent­ste­hen las­sen. Wenn ein Po­et ein Ge­dicht kom­po­niert und da­bei die Spra­che in­ter­pre­tiert, dann lie­ben wir sei­ne dich­te­ri­sche Frei­heit. Man kann aber erst mit dem Vo­ka­bu­lar spie­len, wenn man es ver­stan­den hat.

Stan­dard: Ver­su­chen Sie, die­ses Vo­ka­bu­lar wie­der in ei­ne neue Ar­chi­tek­tur zu über­set­zen?

Par­si: Ja. Manch­mal ha­be ich Kun­den, die ein tra­di­tio­nel­les Haus wol­len, dann be­nut­ze ich das Vo­ka­bu­lar so­zu­sa­gen in ei­nem Ver­hält­nis eins zu eins, ganz oh­ne per­sön­li­chen Ein­fluss von mir. Oder sie wol­len ei­nen mo­der­nen Bau. Dann über­set­ze ich das Vo­ka­bu­lar auf mei­ne Wei­se. Zum Bei­spiel ein Wett­be­werb für ein Kul­tur­zen­trum im Nor­den des Irans: Dort ha­be ich das Vier-Iwan-Prin­zip für ei­nen mo­der­nen Bau be­nutzt. Und den 1. Platz ge­won­nen!

Stan­dard: Ver­ste­hen auch Nicht­ar­chi­tek­ten die­se Spra­che?

Par­si: Gu­te Fra­ge. Frü­her war das so. Da­mals konn­ten Ar­chi­tek­ten und Lai­en bes­ser kom­mu­ni­zie­ren.

Stan­dard: In­wie­fern be­ein­flus­sen Kli­ma und Land­schaft die Spra­che der Ar­chi­tek­tur?

Par­si: We­ni­ger, als man den­ken könn­te, auch wenn die Re­geln der Na­tur die Spra­che der Ar­chi­tek­tur be­ein­flus­sen. Es gibt im Iran har­sches Ge­birgs­kli­ma, feuch­tes, me­di­ter­ra­nes und Wüs­ten­kli­ma. Aber die Spra­che ist über­all die­sel­be. Durch das Kli­ma hat die Spra­che nur un­ter­schied­li­che Dia­lek­te be­kom­men.

Stan­dard: Wel­cher kli­ma­ti­sche Dia­lekt ist Ih­nen am liebs­ten?

Par­si: Die Wü­ste! Die Na­tur hat mich schon im­mer stark be­ein­flusst. Ich ha­be schon mehr­mals die Wü­ste Dasht-e-Lut durch­wan­dert. Mei­ne In­spi­ra­ti­on da­zu kam üb­ri­gens von ei­nem Ös­ter­rei­cher: dem Wüs­ten­wan­de­rer Al­fons Ga­bri­el, der in den 1920er-Jah­ren aus­führ­li­che Be­schrei­bun­gen der ira­ni­schen Wü­ste ver­fasst hat. Er hat mich da­zu ge­bracht, durch die Wü­ste zu ge­hen.

Stan­dard: Ein Blick in die Zu­kunft: Wo­hin geht die Rei­se der ira­ni­schen Ar­chi­tek­tur? Wel­chen Ein­fluss hat das po­li­ti­sche Tau­wet­ter?

Par­si: Ich bin kein Hell­se­her, aber die ira­ni­sche Be­völ­ke­rung ent­wi­ckelt sich, und das Land ent­wi­ckelt sich. Es gibt vie­le jun­ge Ar­chi­tek­ten, die jetzt ih­re Lauf­bahn be­gin­nen und vol­ler Ide­en sind. Wenn wir in der Zu­kunft ei­ne gu­te Wirt­schaft ha­ben, wird die Ar­chi­tek­tur sich noch ver­bes­sern. Das hof­fe ich.

23. Mai 2015 Der Standard

Küh­le Dis­tanz zum kal­ten Grau­en

Nach jahr­zehn­te­lan­gem Zö­gern hat Mün­chen end­lich sein NS-Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, mit­ten im ehe­ma­li­gen Par­tei­vier­tel der NSDAP. Die Aus­stel­lung über­zeugt, die Ar­chi­tek­tur be­müht sich fast zu sehr um Zu­rück­hal­tung.

Kilo­me­ter­lan­ge Auf­marsch­ach­sen, gi­gan­ti­sche Kup­pel­hal­len: Die Aus­stel­lung „Wien. Die Per­le des Rei­ches“, zur Zeit im Ar­chi­tek­tur­zen­trum Wien (AzW) zu se­hen, zeigt, wie im Drit­ten Reich auch die Ar­chi­tek­tur ge­walt­sam ih­ren Stem­pel in die Städ­te drück­te. Auch die Haupt­stadt Ber­lin und „Füh­rers­täd­te“ wie Nürn­berg mit sei­nem Reichs­par­tei­tags­ge­län­de wur­den gi­gan­to­ma­nisch auf den ver­meint­lich tau­send­jäh­ri­gen Maß­stab auf­ge­pumpt.

Doch ei­ne Stadt war an­ders als die an­de­ren: Mün­chen, die „Haupt­stadt der Be­we­gung“, brach­te schon ein be­son­de­res Na­he­ver­hält­nis zum Na­tio­nal­so­zia­lis­mus mit. Hier ent­stan­den SA, SS und HJ, hier wur­de der un­ge­ho­bel­te Ge­frei­te Hit­ler nicht nur im Bier­kel­ler­dunst, son­dern auch von der fei­nen Ge­sell­schaft so­zia­li­siert, hier wur­de 1923 auf die Feld­herrn­hal­le mar­schiert. In ei­ne Stadt, die ih­nen ei­nen sol­chen Nähr­bo­den bot, muss­ten die Na­zis auch nach 1933 kei­ne neue Schnei­se schla­gen. Den idea­len Auf­marsch­platz gab es schon: Der klas­si­zis­ti­sche Kö­nigs­platz in der no­blen Max­vor­stadt muss­te nur ge­pflas­tert und er­wei­tert wer­den. Die bau­li­chen An­lei­hen an die An­ti­ke aus dem 19. Jahr­hun­dert nahm man ger­ne mit, und setz­te ih­nen trut­zi­ge Blö­cke in die Sym­me­trie­ach­se.

So ent­stand mit­ten in Mün­chen ein rie­si­ges Par­tei­vier­tel mit bis zu 6000 Be­schäf­tig­ten. Hier hat­te die „Be­we­gung“ ih­ren Ap­pa­rat. Mit­ten da­rin: Das „Brau­ne Haus“, ein Pa­lais aus dem 19. Jahr­hun­dert, das die NSDAP schon 1930 er­wor­ben hat­te. Da­ne­ben zwei Eh­ren­tem­pel zur myt­hisch-mär­ty­rer­haf­ten Über­hö­hung der beim Hit­ler-Putsch­ver­such 1923 um­ge­kom­me­nen Par­tei­ge­nos­sen.

Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wuchs buch­stä­blich Gras über die Sa­che. Das Brau­ne Haus war zers­tört, die Eh­ren­tem­pel wur­den bis auf die Fun­da­men­te ge­sprengt, die in Fol­ge über­wu­chert wur­den. Die Gra­nit­plat­ten auf dem Kö­nigs­platz wur­den 1988 wie­der zur Wie­se. Mit der Auf­ar­bei­tung der Rol­le im Na­tio­nal­so­zia­lis­mus tat sich Mün­chen noch schwe­rer als an­de­re „Füh­rers­täd­te“. Nürn­berg be­kam 2001 sein von Günt­her Do­me­nig als scharf­kan­ti­ger Keil in die wuch­ti­gen Mau­ern des Reichs­par­tei­tags­ge­län­des ge­schlag­enes Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, Ber­lin das Ho­lo­caust-Me­mo­ri­al und die „To­po­gra­phie des Ter­rors“ auf dem Ge­län­de der Ge­sta­po-Zen­tra­le. Hit­lers Lie­blings­stadt Linz traut sich, ne­ben­bei be­merkt, bis heu­te nicht ein­mal, Adolf Kri­scha­nitz’ ver­gleichs­wei­se de­zen­te Glas­auf­bau­ten auf den NS-Brü­cken­kopf­ge­bäu­den am Haupt­platz zu ge­neh­mi­gen.

Jetzt hat auch Mün­chen nach jahr­zehn­te­lan­gen De­bat­ten sein NS-Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum – ge­nau an der Stel­le, an der das Brau­ne Haus einst stand. Ei­ner der Kämp­fer ge­gen die Ver­drän­gung, der Ar­chi­tek­tur­his­to­ri­ker Win­fried Ner­din­ger, ist der Di­rek­tor des Hau­ses. „Mün­chen hat die Ver­pflich­tung, sich die­ser Ge­schich­te zu stel­len, denn hier hat al­les be­gon­nen“, sagt er. „Zwar gibt es seit 1965 die Ge­denk­stät­te in Dach­au, aber dort geht es um die Op­fer, um das Ver­ste­hen des Lei­dens. Wir sind ein Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum, hier geht es um ei­nen ra­tio­na­len Zu­gang, um In­for­ma­ti­on. Es geht um die Tä­ter, und um Er­klä­run­gen, wie es so weit kom­men konn­te.“ Der 28,2 Mil­lio­nen Eu­ro teu­re Bau (fi­nan­ziert von Bund, Land und Stadt) wur­de am 30. April er­öff­net.

Bal­lett zwi­schen Ta­bus

Ein Haus, das an die Tä­ter­his­to­rie ge­mahnt, in­mit­ten von Tä­ter­bau­ten, mit­ten in der Max­vor­stadt mit ih­rem pracht­vol­len kul­tu­rel­len Er­be, wel­ches wie­der­um kon­ta­mi­niert wur­de durch die NS-Bau­ten, die die­ses Er­be per­ver­tier­ten: Für Ar­chi­tek­ten wird ei­ne sol­che Auf­ga­be zum Dis­tan­zie­rungs­bal­lett zwi­schen lau­ter Ta­bus. Ein sol­cher Bau muss sich von sei­nen Na­zi-Nach­barn un­ter­schei­den, je­doch oh­ne den An­schein zu er­we­cken, man wol­le sich von Schuld rein­wa­schen. Mo­nu­men­ta­li­tät muss ver­mie­den wer­den, doch et­was zu Leich­tes wür­de die Dau­er­haf­tig­keit des Er­in­nerns kon­ter­ka­rie­ren, und et­was form­ver­liebt Mo­di­sches wä­re un­an­ge­mes­sen.

Das Ber­li­ner Ar­chi­tek­ten­te­am Georg Scheel Wet­zel, das 2009 den Wett­be­werb für das Do­ku­men­ta­ti­ons­zen­trum ge­wann, hat, das ist dem fer­ti­gen Bau an­zu­mer­ken, ver­sucht, bei die­sem Ta­bu-Bal­lett al­les rich­tig, oder zu­min­dest nichts falsch zu ma­chen. Sie setz­ten ei­nen ex­akt be­mess­enen Wür­fel aus ab­strakt wir­ken­dem Weiß­be­ton an die Stel­le des Brau­nen Hau­ses. Ein So­li­tär au­ßer­halb der Kö­nigs­platz-Sym­me­trie, hö­her als der be­nach­bar­te „Füh­rer­bau“, mit zu­ein­an­der ver­setz­ten, in die glat­te Fass­ade ein­ge­las­se­nen Fens­ter­öff­nun­gen. Ei­ne ru­hi­ge, sprö­de und bun­des­re­pu­bli­ka­nisch-sach­li­che Lö­sung. Ein Bau, der in sei­ner Zu­rück­hal­tung so neu­tral wirkt, dass er sich fast selbst auf­hebt. Das Äu­ße­re ver­rät nichts vom In­ne­ren — ei­ne wei­ße Black­box. Weiß als Zei­chen der Rein­heit? Das sei nicht die In­ten­ti­on, sagt Ar­chi­tek­tin Bet­ti­na Georg. „Un­se­re Ar­chi­tek­tur zielt we­ni­ger auf ei­nen Sym­bol­ge­halt ab, und sie ist auch nicht pri­mär als Be­deu­tungs­trä­ger zu ver­ste­hen. Die Re­duk­ti­on auf das We­sent­li­che schafft ei­ne über­zeit­li­che Ebe­ne der Wahr­neh­mung und er­mög­licht die Kon­zen­tra­ti­on auf die ei­gent­li­chen In­hal­te.“

Auch im In­ne­ren be­schei­det sich die Ar­chi­tek­tur da­rauf, ei­nen ru­hi­gen Rah­men für die sach­lich-in­for­ma­ti­ons­sat­te Aus­stel­lung zu bie­ten. Über vier Ge­scho­ße geht der Par­cours von oben nach un­ten und en­det chro­no­lo­gisch be­wusst nicht im Mai 1945, son­dern in der Ge­gen­wart. Denn auch die Mün­chner Tä­ter­bio­gra­fien reich­ten oft noch weit in die ho­hen Äm­ter der Bun­des­re­pu­blik, und der Ne­on­azis­mus ist auch heu­te noch ge­walt­sam ak­tu­ell, wie der Mün­chner NSU-Pro­zess be­weist. „Die Lei­ti­dee der Aus­stel­lung ist: Es geht uns auch heu­te noch et­was an“, sagt Win­fried Ner­din­ger. „Das soll man mit­neh­men in die Ge­gen­wart, wenn man das Haus wie­der ver­lässt.“

En­ges Kor­sett

Auch die Stadt selbst ist Teil der Aus­stel­lung. Zwei­ge­scho­ßi­ge Räu­me hin­ter den ho­hen La­mel­len­fens­tern ho­len je­weils den Teil Mün­chens ins Haus, der in der Chro­no­lo­gie the­ma­ti­siert wird, et­wa wenn man auf den „Füh­rer­bau“ (heu­te Mu­sik­hoch­schu­le) blickt, in dem 1938 das Mün­chner Ab­kom­men un­ter­zeich­net wur­de. Ein Aus­blick, der durch die schma­len Öff­nun­gen frag­men­ta­risch bleibt. Zu­sam­men mit den fens­ter­lo­sen Sicht­be­ton­gän­gen ent­steht so trotz ost­ent­ati­ver Zu­rück­hal­tung ein en­ges räum­li­ches Kor­sett, das den Be­su­cher erst ganz am Schluss frei­lässt.

Mög­li­cher­wei­se ist dies der asyn­chron ver­lau­fen­den Pla­nung ge­schul­det: Als Win­fried Ner­din­ger 2012 den Di­rekt­oren­pos­ten über­nahm (die Stadt hat­te sich im Streit von sei­ner Vor­gän­ge­rin Irm­trud Wo­jak ge­trennt), war das Ge­bäu­de längst im Bau. Man muss­te sich al­so an­pas­sen. Und ob­wohl die Ar­chi­tek­tur die gan­ze Ku­ba­tur aus­nutzt, die die Stadt ge­währt, wirkt sie im­mer noch zu klein für die Fül­le des In­halts. Kein Wun­der, dass sich das­sel­be Vo­lu­men noch­mals im Un­ter­grund fin­det, mit „Lern­fo­rum“, Au­di­to­ri­um, Se­mi­nar­räu­men und dem Ca­fé, für das im Ein­gangs­foy­er kein Platz war. Ein über­bor­den­des An­ge­bot an Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit der Ver­gan­gen­heit, das in den er­sten Ta­gen reich­lich Zu­strom er­fuhr. Auch die Pro­gram­me für Kin­der und Ju­gend­li­che sind auf Mo­na­te aus­ge­bucht. Mün­chen geht in sich — und ei­ne re­ser­vier­te Ar­chi­tek­tur ist die­ser Kon­tem­pla­ti­on si­cher nicht hin­der­lich.

16. Mai 2015 Der Standard

Das schö­ne Fun­keln des Nutz­lo­sen

Die neu er­öff­ne­ten, mil­lio­nen­schwer er­wei­ter­ten Swa­rovs­ki-Kris­tall­wel­ten bo­ten drei Ar­chi­tek­ten­te­ams Ge­le­gen­heit für fa­cet­ten­rei­che As­so­zia­tio­nen. Das Re­sul­tat: no­ble Zu­rück­hal­tung und spie­le­ri­sche In­no­va­ti­on.

Es sind ja oft die klei­nen Din­ge im Le­ben, die wah­re Freu­de ma­chen. Das weiß je­der Glück­wunsch­post­kar­ten­ver­sen­der und Spruch-Tas­sen-Ver­schen­ker. Das ist in der Ar­chi­tek­tur nicht an­ders. Ein spe­ziel­les, schrul­li­ges Ka­pi­tel der Bau­ge­schich­te sind die Auf­trä­ge rei­cher Mä­ze­ne, et­was Klei­nes, Un­ter­halt­sa­mes auf ih­ren aus­ufern­den Län­der­ei­en zu er­rich­ten.

Die eng­li­sche Gar­ten­kunst kennt ih­re „Fol­lies“, ar­chi­tek­to­ni­sche Spie­le­rei­en, ex­zen­tri­sche Ku­lis­sen in ar­ka­di­schen Gär­ten, ger­ne als wil­der Ritt durch die an­ti­ke Bau­ge­schich­te nach Gus­to des Fi­nan­ziers. Auch ita­lie­ni­sche Re­si­den­zen ken­nen ih­re Türm­chen, und Schön­brunn hat sei­ne Rui­ne­nar­chi­tek­tur. Das ist mal harm­los, mal al­bern, mal di­let­tan­tisch, doch manch­mal tref­fen ge­ra­de die funk­ti­ons­lo­sen, ro­man­ti­schen Bau­ten ins emo­tio­na­le Herz der Bau­kunst. „All art is qui­te use­less“, wuss­te schon Oscar Wil­de.

Heu­te sind es die Pa­vil­lons, die Ar­chi­tek­ten sonst sel­ten ge­währ­te Frei­hei­ten bie­ten: Der jähr­lich neu er­rich­te­te Ser­pen­ti­ne Pa­vil­lon in Lon­don bie­tet ei­ne be­gehr­te Fin­ger­übung für Ar­chi­tek­ten, die noch nie in Groß­bri­tan­nien ge­baut ha­ben und so ei­ne Vi­si­ten­kar­te im Hy­de Park hin­ter­las­sen kön­nen. Schwer­ge­wich­te wie Za­ha Ha­did, Pe­ter Zum­thor und die Ja­pa­ner von SA­NAA be­ka­men so mit Leich­tig­keit ih­ren Fuß in die in­su­la­re Tür.

Mehr dem Schö­nen als dem Nut­zen ver­pflich­tet, ha­ben die­se klei­nen Ar­chi­tek­tu­ren, die sich nicht um Nor­men und jah­re- lan­ge Fach­in­ge­ni­eur­ver­hand­lun­gen küm­mern müs­sen, ar­chi­tek­tur­ge­schicht­lich oft wei­trei­chen­de­re Fol­gen als man­cher brav durch­ge­plan­te Bau. Mies van der Ro­hes Bar­ce­lo­na-Pa­vil­lon 1929 war kaum mehr als ei­ne Ku­lis­se aus Wän­den, Stüt­zen und De­cke, und wur­de ge­nau des­halb zu ei­ner Iko­ne der Mo­der­ne.

Auch die im Ti­ro­ler Wat­tens an­säs­si­ge Fir­ma Swa­rovs­ki ist dem Schö­nen und Ephe­me­ren zu­ge­neigt. Ei­ne Welt oh­ne Swa­rovs­ki-Kris­tal­le wür­de, ganz un­bos­haft ge­sagt, ver­mut­lich das All­tags­ge­schäft der meis­ten Men­schen nicht zu­sam­men­bre­chen las­sen – Ra­di­ka­läst­he­ten wie Oscar Wil­de aus­ge­nom­men. Und doch zie­hen die Swa­rovs­ki-Kris­tall­wel­ten Be­su­cher­mas­sen aus 60 Län­dern an, wie die Fir­ma stolz ver­merkt.

Wenn der mo­der­ne Mä­zen Swa­rovs­ki al­so da­zu ein­lädt, den As­so­zia­tio­nen zum The­ma Kris­tall frei­en Lauf zu las­sen, sa­gen die Künst­ler nicht Nein. 1995, zum 100. Fir­men­ju­bi­lä­um, war es And­ré Hel­ler, der mit der ihm ei­ge­nen Sub­ti­li­tät ei­nen Rie­sen mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen in die Inn­tal­wie­se und zu­sam­men mit den da­hin­ter­lie­gen­den „Wun­der­kam­mern“ den schwe­ren Grund­stein für die Kris­tall­wel­ten setz­te. Mit mess­ba­rem Er­folg.

Mit Mil­lio­nen zum Mar­ken­kern

20 Jah­re spä­ter wer­den die Kris­tall­wel­ten für 34 Mil­lio­nen Eu­ro auf das Dop­pel­te ver­grö­ßert, und es er­geht die glei­che Ein­la­dung, dies­mal an Ar­chi­tek­ten. Wie man jetzt, nach der Er­öff­nung En­de April, sieht, in­ter­pre­tie­ren die­se das Kris­tal­li­ne auf weit ab­strak­te­re Wei­se. Durch­aus im Sin­ne des Auf­trag­ge­bers: „Die Ar­chi­tek­tur soll nicht ein­fach de­skrip­tiv sein, son­dern über den Un­ter­neh­mens­ge­gen­stand hin­aus­ge­hen. Nah am Mar­ken­kern, aber as­so­zia­tiv“, sagt Ste­fan Is­ser, Ge­schäfts­füh­rer der d.swa­rovs­ki Tou­rism Ser­vi­ces GmbH im Stan­dard -Ge­spräch. Ziel der Er­wei­te­rung auf über sie­ben Hek­tar Flä­che war, ganz funk­tio­nell-pro­sa­isch, die Er­hö­hung der Be­su­cher­fre­quenz auf 800.000 pro Jahr und der Be­suchs­dau­er auf vier Stun­den – un­ter an­de­rem durch An­ge­bo­te für Fa­mi­li­en mit Kin­dern.

Die Lö­sung soll­te dies­mal von kei­nem Ge­samt­künst­ler kom­men, son­dern ent­stand in ei­nem Works­hop aus drei Te­ams: Da­ni­el Süß und Han­no Schlögl, die schon meh­re­re Swa­rovs­ki-Shops ge­stal­tet hat­ten, ta­ten sich mit Jo­hann Ober­mo­ser zu s_o_s ar­chi­tek­ten zu­sam­men und wa­ren als Fix­star­ter für die Neu­ge­stal­tung des Ein­gangs­be­reichs und des Shops zu­stän­dig.

Das künst­le­ri­sche Kon­zept durf­ten sich die jun­gen Land­schafts­künst­ler An­dy Cao und Xa­vier Per­rot aus­den­ken, sie kon­zi­pier­ten ei­ne Wol­ke aus 800.000 Kris­tal­len über ei­ner Was­ser­flä­che, als luf­ti­gen Ge­gen­pol zum erd­schwe­ren Hel­ler-Rie­sen. Fehl­te noch ein Bü­ro von Welt­rang als Aus­hän­ge­schild. Die Ent­schei­dung der Aus­wahl­ju­ry fiel 2012 auf das nor­we­gi­sche Bü­ro Snøhet­ta, das mit dem Opern­haus in Os­lo und dem Sep­tem­ber 11 Me­mo­ri­al in New York in die welt­wei­te Top-Li­ga ges­hoo­tings­tart war. Noch da­zu sind sie nach ei­nem myt­hi­schen nor­we­gi­schen Berg be­nannt, al­so prä­de­sti­niert für al­pi­ne Bau­auf­ga­ben.

Das Re­sul­tat des Te­am­works: ei­ne Kol­lek­ti­on zu­rück­hal­ten­der Ar­chi­tek­tu­ren mit viel Platz da­zwi­schen. Die „Wol­ke“ von Cao Per­rot ist aus sta­ti­schen Grün­den zwar we­ni­ger leicht ge­wor­den als an­ge­kün­digt, aber sie er­füllt ih­re Wahr­zei­chen­funk­ti­on, ein­ge­bet­tet in ei­nen Park aus jun­gen Bir­ken. Der Ein­gangs­be­reich von s_o_s greift die­se Idee auf, der schlich­te, leicht wir­ken­de Flach­bau mit aus­kra­gen­dem Be­ton­dach be­nutzt ech­te Bir­ken­stäm­me als tra­gen­de Säu­len, ein „Whi­te Fo­rest“, wie es Ar­chi­tekt Han­no Schlögl nennt. „Der al­te Ein­gang war ei­ne Be­ton­bar­rie­re“, er­in­nert er sich. „Wir woll­ten hier auf­ma­chen, mit dem schwe­ben­den Dach als ein­la­den­der Ge­ste.“ Kris­tall-An­spie­lun­gen feh­len hier völ­lig – mit Ab­sicht.

Nicht zu platt

Auch beim von Snøhet­ta ent­wor­fe­nen Res­tau­rant muss man die Kris­tal­le mit der Lu­pe su­chen, sie ver­ste­cken sich als win­zi­ge In­tar­sien in ei­ner De­cken­ver­klei­dung aus Lo­den. Der Rest ist in küh­lem Weiß ge­hal­ten, nur die Vor­hän­ge vor den Pa­no­ra­ma­fens­tern fun­keln sil­bern-as­so­zia­tiv. „Swa­rovs­ki mit vie­len Bil­dern be­haf­tet“, sagt Pa­trick Lüth, Lei­ter des Inns­bru­cker Snøhet­ta-Bü­ros, „uns war es wich­tig, das The­ma Kris­tall nicht zu platt zu über­set­zen.“ Auch im zwei­ten Bei­trag der Nor­we­ger sieht man die An­spie­lun­gen erst auf den zwei­ten Blick: Ein schma­ler Turm aus 170 fa­cet­te­nar­tig ge­kipp­ten, be­druck­ten Glas­flä­chen, der aus der Wie­se ragt. Die­ser ist aus­schließ­lich für die jun­gen Be­su­cher re­ser­viert.

Phy­si­sches Er­le­ben

Die Auf­ga­be, „ir­gend­was für Kin­der“ vor­zu­se­hen, lös­ten Snø-het­ta mit ei­ner völ­lig neu­en Ty­po­lo­gie: dem In­door-Spiel­platz als Turm­haus. Hier darf mit Pa­no­ra­ma­blick her­um­ge­tobt wer­den, fern von brav-zer­ti­fi­zier­tem Stan­dard-Spiel­platz­mo­bi­li­ar. „Wir ha­ben ex­tra kei­ne Spiel­ge­rä­te­her­stel­ler ge­fragt, die sa­gen nur im­mer, was al­les nicht geht“, lacht Pa­trick Lüth, im ober­sten Turm­ge­schoß auf ei­nem weit­ge­spann­ten Netz wip­pend. „Es gibt hier auch nichts In­ter­ak­ti­ves und kei­ne Tech­no­lo­gie, es soll um das phy­si­sche Er­le­ben ge­hen.“

Die an ihm vor­bei­flie­gen­den, tram­po­lin­hüp­fen­den und in ei­nem zwei­ge­scho­ßi­gen Seil­ge­rüst han­geln­den Kin­der ge­ben ihm recht. „Die Spiel­räu­me dür­fen ru­hig ein biss­chen ge­fähr­lich wir­ken – das ist ein An­sporn für die Kin­der“, sagt der Ar­chi­tekt. Groß ge­dach­te klei­ne Ar­chi­tek­tu­ren für die Klei­nen: ein Bei­spiel, wie im schö­nen Fun­keln des Nutz­lo­sen et­was ganz Neu­es ent­ste­hen kann.

7. April 2015 Der Standard

Ein Haus, ein Platz, ein Dorf

Operationen am offenen Herzen: Die zwei Tiroler Dörfer Inzing und Fließ zeigen, wie ein kleines Stück Architektur an der richtigen Stelle einen Ort wiederbeleben kann.

Kinder, die Palmwedel für den Palmsonntag basteln, die Eltern vor dem Café in der Sonne. Vor dem Pfarrhof ein Brunnen und ein Lindenbaum. Hinter der Mauer Kirche und Friedhof. Inzing in Tirol ist ein Dorf mit allem, was dazugehört. Selbstverständlich, denkt man. Doch noch vor einem Jahr war das anders: Es gab keinen Platz und kein Café, Pfarrhof und Linde waren hinter einer hohen Mauer verschanzt.

Wie das kam? Es ist die Geschichte eines ungewollten Erfolges. Der 4000-Einwohner-Ort, rund 20 Kilometer westlich von Innsbruck, ist vom Speckgürtel der Landeshauptstadt eingeholt worden. Nicht nur Grund zur Freude, wie Bürgermeister Kurt Heel seufzt, der in seinem 23. Amtsjahr mit der plötzlichen Attraktivität seiner Gemeinde umgehen muss. „Inzing liegt auf der Schattenseite des Inntals, früher wollte hier kaum jemand hinziehen. Heute sind die Quadratmeterpreise um Innsbruck enorm gestiegen, und allein dieses Jahr haben wir 60 Neubauten!“

Die Folge: Der erst 1998 von Architekt Erich Guthmorget erbaute, mehrfach preisgekrönte langgestreckte Holzbau, der Gemeindeamt und Kindergarten aufnimmt, war schon wieder zu klein, erst recht als das Land Tirol auch die maximale Gruppengröße herunterschraubte. Ein neues Haus für Kinder musste her.

Man erwarb also den Grund direkt gegenüber. Zwei Wettbewerbe und vier Millionen Euro später steht hier ein neues Haus, mit Kindergarten, Kinderkrippe und Hort. Auf den ersten Blick sieht es täuschend einfach aus, fast wie die Kinderzeichnung eines Hauses. Weiß verputzt, mit hineingestanzten Fenstern und Satteldach. Doch auf den zweiten Blick stellt sich wohlige Irritation ein. Alles ist leicht verschoben, der Dachvorsprung minimal kurz, die Fenster proportional übergroß und scheinbar willkürlich verteilt. Wie ein Puzzleteil ins enge Dorfgefüge gesetzt, ist das Haus von keinem Punkt aus als Ganzes sichtbar. Die Stirnseiten blicken weit in den Ortsraum, die Längsseiten knicken sich an schmalen Gassen entlang. Ein raffiniertes Gebilde, das die Innsbrucker Architekten Scharfetter Rier hier ins Inzinger Herz gesetzt haben.

„Das Haus ist mit drei Geschoßen eigentlich höher, als es im Wettbewerb vorgesehen war,“ sagt Architekt Martin Scharfetter. „Aber so bekommt der horizontale Holzbau des Gemeindeamts einen verputzten vertikalen Bau als Gegenüber. Die Kombination aus Holz und weißem Putz findet sich auch bei den alten Bauten im Dorfkern.“ Mit dem Dorfhaus rückte man so nah wie möglich an den Nachbarbau heran, um eine schmale, autofreie Gasse zu schaffen, damit die Kinder zwischen Alt- und Neubau gefahrlos wechseln können.

Und das Rätsel der Fassade? „Ganz einfach: Die Fenster sind ebenso unterschiedlich groß wie die Kinder dahinter“, sagt Architekt Robert Rier. Von innen bieten sie weitgerahmte Blicke über die Nachbardächer ins Inntal. Das Plus an Höhe zahlt sich hier aus. Von außen farbenfroh und verwinkelt, wirkt das Dorfhaus von innen überraschend groß - und kindgerecht, wie Martin Scharfetter betont: „Der unregelmäßige Grundriss gibt den Räumen etwas Unhierarchisches, Freies.“

Seit der Eröffnung im Mai 2014 haben sich Dorf und Platz als Vitaminspritze für den Ort bewährt. Das Café im Erdgeschoß belebt die vorher praktisch ausgestorbene Dorfgastronomie, im Winter gab es erstmals einen Weihnachtsmarkt. Im Oktober 2014 wurde das Projekt mit dem Tiroler Landespreis ausgezeichnet.

Erleichterte Begegnungen

Einen ähnlichen Weg ging ein zweites Tiroler Dorf, doch mit anderem Ausgangspunkt und interessanten Umwegen. Fließ bei Landeck ist weit weg von jedem Speckgürtel, der Bezirk ist Abwanderungsregion. Postamt und Polizei im weit verstreuten 3000-Einwohner-Ort wurden geschlossen, der Lebensmittelladen sperrte vor sechs Jahren zu, die Bank schrumpfte zum Bankomaten. Auch hier gab es eine Dorfstraße, aber keinen Platz. Auch hier wurde in naher Vergangenheit in moderne Architektur investiert - den 2002 fertiggestellte kleinen, feinen Mehrzweckbau von awg aus Wien.

Die Frage stellte sich: Wie kann man als Ort überleben? Sind es in Inzing die Kinder, die die Mitte beleben, setzte man in Fließ auf die Jungen und die Alten. Denn sie sind es, die das Zentrum am meisten brauchen. „Heute sind oft beide Ehepartner berufstätig, das heißt, die Alten sitzen tagsüber allein am Berg“, sagt Hans-Peter Bock, Bürgermeister seit 1998. „Wir wollten für sie Wohnraum im Ortszentrum schaffen, wo sie im vertrauten Umfeld sind, die Leute kennen, sich auch auf dem Gemeindeamt ein Formular ausfüllen lassen können.“ Also erwarb man auch hier ein Grundstück mitten im Ortskern, um dort Wohnungen zu errichten. Ein Novum hier auf dem Land, wo das Eigentum noch als selbstverständlich gilt. Wohnungen mieten, das war etwas für arme Leute.

2012 lud man fünf Architekturbüros zu einem mehrtägigen Workshop mit Bürgerbeteiligung, geleitet vom erfahrenen Büro nonconform. Am Ende stand der Wunschzettel fest: Wohnungen, Arzt, Supermarkt, Jugendtreff und ein neues Gemeindeamt. Eine Woche später präsentierten die Architekten ihre Entwürfe den Fließern, die Jury kürte das Team aus Rainer Köberl und Daniela Kröss aus Innsbruck zu den Siegern. Ihre Idee: drei Gebäude, die sich um zwei Plätze gruppieren - einen Kubus aus Lärchenholz fürs Gemeindeamt an der Straße mit überdachtem Vorplatz und Brunnen, daneben Supermarkt und Arzt als langgestreckter Riegel. In zweiter Reihe, ein Stück hangabwärts, ein grob weiß verputzter, kompakter Wohnblock mit Ausblick ins Tal. „Jedes der Gebäude ist direkt vom Platz zugänglich. Das erleichtert die Begegnungen “, sagt Daniela Kröss.

Ende 2014 wurden die Bauten fertiggestellt, im April wird offiziell eröffnet. Im Gemeindeamt samt Bürgerbüro und Poststelle herrscht schon reger Betrieb. Bürgermeister Hans-Peter Bock sitzt in seinem neuen zirbenholzverkleideten Amtszimmer und ist zufrieden mit dem 6,5-Millionen-Euro-Projekt. „Bei den Bürgern höre ich nur Lob. Die Alten gehen wieder einkaufen und treffen dabei Bekannte. Die Mietwohnungen waren so schnell vergeben, dass wir schon Nachfolgeprojekte gestartet haben.“

Die Lektionen aus Tirol? Dörfer brauchen keinen Bilbao-Effekt mit Architektur, die als eitler Solitär vom Himmel fällt. Denn bei der Operation am offenen Herzen des Ortskerns geht es vor allem darum, alle Generationen in die Mitte zu holen. Dann kann ein Haus einen Platz beleben, und beides ein Dorf. In Inzing und Fließ ist es gelungen.

28. März 2015 Der Standard

Die Angst vor der Stadt

Urbanes Leben oder Friede hinter Maschendraht? Wien wächst und wird dichter bebaut. Die Zwischenräume in den Wohnblocks brechen unter der Last von Gestaltungswillen und normierter Konfliktvermeidung fast zusammen. Die Geschichte eines weggeshitstormten Basketballkorbs und was man daraus über unser Stadtverständnis lernen kann.

Wer kennt sie nicht, die versonnenen Blicke mitteleuropäischer Touristen, wenn sie in atmungsaktiven Partnerlookjäckchen kurzurlaubend durch mediterrane Städte schlendern. Die engen Gässchen, wäscheleinenüberspannt wie in einem 50er-Jahre-Film, hier das Kätzchen, dort die knopfäugig-fotogenen herumtollenden Kinder, und schau nur, dort oben schreien sich zwei Frauen aus ihren Fenster über die Gasse den neuesten Klatsch zu. Kann Urbanität noch pittoresker sein?

Mit Gigabytes voller Nahaufnahmen südlichen Straßenlebens und patinös abblätternder Fassaden auf der Speicherkarte kehrt man zurück in die Heimat - um dort wieder auf der Eigenparzelle hinter blickdichten Zwei-Meter-Thujenpalisaden über dem Ulrich-Seidl-Keller in Deckung zu gehen, und sollte die Nachbarin herüberschreien, wird per Mail mit dem Anwalt gedroht. Urbanität ja, aber bitte nicht zu Hause.

Zugegeben, wir haben hier herzhaft in den Klischeetopf gegriffen, und doch bleibt festzuhalten: Urbanität bedeutet vor allem: Konfrontation mit dem Fremden, Unbekannten und Überraschenden. In der Stadt endet die Privatheit nicht am Jägerzaun, sondern in der Regel an der Wohnungstür. Was davor ist, ist Verhandlungssache.

Rückzugsgefechte

Ob man eine solche Urbanität aus dem Nichts erschaffen kann, ist eine Frage, die Architekten und Stadtplaner seit Jahrhunderten umtreibt. Die heutigen Lösungen dieses Grübelns kann man zurzeit sehr schön in Wien beobachten. Die Stadt wächst so stark wie nie, man setzt, wo immer es geht, auf Dichte, wie sie in mediterranen Stadtkernen und hiesigen Gründerzeitvierteln geschätzt wird. In Aspern und im Sonnwendviertel kann man sich bei einem Frühlingsspaziergang anschauen, wie das funktioniert: am Blockrand viel Masse, in den Innenhöfen Raum, der alles können muss. Man sieht auch: maschendrahtumzäunte Miniterrassen und Minigärten im siebengeschoßigen Schatten. Seltsame Schwundstufen von Stadtrandidyllen, Rückzugsgefechte des Jägerzauns. Schon klar: Der Städtebau folgt hier der Logik des Wohnbaus, der wiederum der Logik verwertbarer Wohnquadratmeter folgt.

Der Erfolg von Urbanität entscheidet sich nicht zuletzt in den Erdgeschoßzonen. In Aspern scheint das etwas besser zu gelingen als im Sonnwendviertel, wo straßenseits noch Leblosigkeit herrscht, während das quirlig-urbane Leben nach innen gestülpt wurde, wo sich nun bewohnte Erdgeschoßterrassen mit eingehegtem Sicherheitsabstand der Blicke aller Mitbewohner und Passanten erwehren müssen. Man will alles richtig machen, und tritt sich dabei vor lauter konfliktvermeidendem Einteilungs- und Zuordnungsrausch selbst auf die Füße.

Auch von fachlicher Seite wird schon Kritik an den überprogrammierten Blockinnenhöfen laut. „Die Freiraumplaner sind heute mit großem individuellem Gestaltungswillen bei jedem noch so kleinen Grundstück dabei“, klagt AzW-Direktor Dietmar Steiner. „Bei größeren Entwicklungsgebieten habe ich dann in jedem Außenraum einen anderen Planer, das zerstückelt mir alles. Es ist typisch ostösterreichisch-katholisch, dass man zu einem Überschwang an Gestaltung tendiert und nicht auch mal eine Wiese eine Wiese sein lassen kann.“

Dort, wo man Experimente in die andere Richtung wagt, gerät man leicht in Konflikte mit dem Gewohnten. Ein solcher Streitfall ist in Aspern zu besichtigen. Es ist die Geschichte vom Basketballkorb und dem Shitstorm. Mit ihrem Entwurf „Slim City“ setz- ten Anna Popelka und Georg Poduschka von PPAG Architects provokant einen widerborstigen Stachel ins konsensuelle Blockrand-Aspern. Keine Wohnungen, die um einen geschlossenen Innenhof angeordnet sind, sondern schmale, hohe Türme, nahe beieinanderstehend, mit Loggien, die in die genau austarierte Richtung des weitestmöglichen Blicks schauen. All dies steht unvermittelt auf einem Stadtboden aus schwarzem Asphalt. Bäume gibt es, aber keine Zäune, keine Thujenhecken. Was im Außenraum passiert und wem er gehört, wird lediglich durch weiße Markierungen im Boden angedeutet.

Wippgeflügel im Rindenmulch

„Der Raum zwischen den Häusern soll hier verhandelt werden zwischen den Benutzern“, sagt Architektin Anna Popelka. „Wir finden, man muss nicht alles vorher regeln, sondern erst einmal abwarten, ob überhaupt Konflikte entstehen.“ Die im unbegrünt-spätwinterlichen Anfangsstadium noch etwas harsche Optik aus Putzfassaden, Sichtbeton und Asphalt mag zwar nicht direkt an toskanische Gassenromantik denken lassen, und doch ist die Slim City der steinern-labyrinthischen Dichte von Siena und San Gimignano verwandter als die Blockinnenhöfe mancher ihrer Nachbarn.

Auch beim Bauträger, der EGW Heimstätte, war und ist man vom Experiment überzeugt: „Der Außenraum hier ist keine Asphaltwüste, sondern bietet viele Möglichkeiten“, sagt EGW-Projektleiter Herbert Mühlegger. „Persönlich finde ich Blockinnenhöfe, in denen alles abgezäunt ist, eher seltsam.“ Auch die - mehrheitlich jungen, unmotorisierten - Bewohner der 178 Slim-City-Wohnungen fühlten sich mehrheitlich wohl. Und doch sind Opfer zu beklagen.

Denn einige flanierende Besucher waren alles andere als angetan von der Einladung zur urbanen Konfrontation: Als das Foto eines ungewöhnlich nahe vor einem Fenster positionierten Basketballkorbs in einem Boulevardmedium auftauchte, erhob sich der Wutbürger-Shitstorm. Niemals wolle man dort wohnen, hieß es da, als wäre man gezwungen, das zu tun, als wären die Bürger, die tatsächlich dort wohnen, unter Protest dort eingesperrt worden. Ein Experiment ist nicht für jeden geeignet, das muss es auch nicht sein. Doch es half alles nichts, die üblichen Rädchen der Empörungsgesellschaft griffen ineinander, der Basketballkorb wurde vom Shitstorm umgeweht und entfernt, noch bevor der erste Slam Dunk ihn lautstark einweihen konnte.

„Spielende Kinder werden leider immer als Problem gesehen“, seufzt Herbert Mühlegger. Auch die schutzlosen Erdgeschoßwohnungen (in der Slim City ausnahmslos zweigeschoßig) sorgten für Unruhe. „Wir haben diese Art des Freiraums schon in anderen Projekten ausprobiert, etwa beim ,Herzberg' an der Erzherzog-Karl-Straße in Wien-Donaustadt von den Architekturbüros awg (alleswirdgut) und feld72. Die Bewohner kommen in der Regel damit ganz gut zurecht.“ Nicht eingezäunte Freiräume seien immer mit der Angst verbunden, Fremde könnten plötzlich auf der Terrasse auftauchen und den Bewohnern ins Wohnzimmer linsen. Das passiere praktisch nie, so Mühlegger. Sicher, nicht jeder ist so offen wie die Niederländer, die ihre Wohnzimmer ohne Vorhänge der Öffentlichkeit präsentieren, um ihren calvinistisch-braven Lebenswandel nachzuweisen. Aber die durchaus menschlichen Ängste vor Konfrontation lassen sich architektonisch lösen, ganz ohne Maschendraht und Bretterverhau.

Darf nun in Aspern gar nicht mehr gespielt werden? Nein, auch ohne Basketball bleibt noch Raum. Der Asphalt formt Mulden, in denen bei Regenfällen für eine Weile Lacken zum Hineinhüpfen entstehen. Für manche Eltern ein Horror, für Kinder eine Hetz, vor allem in Zeiten, in denen die Normen und Bauordnungen jedem Wohnbau seinen quadratmetergenau zonierten Pflichtspielplatz bescheren, oft nicht mehr als ein einsames, dafür buntes Wippgeflügel im Rindenmulch, diese monofunktionale Parodie auf kindliches Spiel. Dabei bietet doch die Stadt - zumal eine teils autofreie wie Aspern - genug Raum, um sie als Spielplatz zu benutzen, ohne in ein Reservat gezwängt zu werden.

Und der Basketballkorb? „Den haben wir nicht weggeworfen, der hat schließlich Geld gekostet“, lacht Herbert Mühlegger. Er werde bei einer der nächsten Wohnanlagen zum Einsatz kommen. In Aspern wird ihm in Kürze, so die Architekten, eine Gedenktafel geweiht werden. Als Mahnmal, dass es für eine Stadt ohne Angst vor der Stadt nur etwas mehr Mut braucht - und vielleicht ein Stück mediterranes Temperament.

7. März 2015 Der Standard

Bauen für die Ewigkeit

Wer baut eigentlich heute noch Kirchen? Und warum liebt Gott den Beton? Eine kleines, feines Gotteshaus in Wien und ein Dokumentarfilm über eine Kölner Architektendynastie geben Antworten.

Fragt man Architekten nach ihrer Traum-Bauaufgabe, ist die häufigste Antwort neben „ein Museum!“ und „Alle Bauaufgaben sind ein Traum!“ vor allem ein meist versonnen vorgebrachtes: „Eine Kirche.“ Mag der Architekt selbst noch so atheistisch sein, Kirchen sind die kostbaren Exoten unter den Gattungen des Bauens. Hier darf der Planer mit Licht, Raum, und Material endlich tun, was er schon immer wollte, frei von peniblen Zwängen. Die Liturgie kennt keine ÖNORM.

So edel der Kirchenbau sein mag, so selten kommt er in Zeiten des konfessionsübergreifenden Mitgliederschwunds vor. Die letzte große Ausnahme in unseren Breiten verdankte sich einer Katastrophe: Das erzkatholische Köln war 1945 nahezu komplett zerstört, inklusive aller Kirchen der Innenstadt mit Ausnahme des Doms. So wurde die Rhein-Metropole in der Nachkriegszeit zum Eldorado des sakralen Bauens, dank Architekten wie Emil Steffann und Rudolf Schwarz. Ersterer mit Ziegeln, Letzterer mit sparsamem weißem Putz oder auch, bei seinem einzigen Bau in Österreich, der Pfarrkirche St. Florian in Wien-Margareten, mit Beton.

Der berühmteste unter den Kölner Kirchenbauern jedoch ist zweifellos Gottfried Böhm. Der bisher einzige deutsche Pritzker-Preisträger, Sohn des Kirchenbaumeisters Dominikus Böhm, begann seine Laufbahn mit der Kapelle „Madonna in den Trümmern“ in der kriegszerstörten Kirche St. Kolumba und wurde später durch seine expressiven, bildhauerisch-wuchtigen Sichtbetonbauten wie den Wallfahrtsdom in Neviges berühmt.

Am 25. Jänner feierte der immer noch aktive Böhm seinen 95. Geburtstag. Ihm und seiner Dynastie wurde jetzt ein Dokumentarfilm gewidmet. Deren Titel Die Böhms - Architektur einer Familie ist durchaus mehrdeutig zu verstehen. Das Werk des 27-jährigen deutsch-schweizerischen Regisseurs Maurizius Staerkle-Drux widmet sich vor allem den persönlichen Beziehungen zwischen Böhm, seiner Gattin Elisabeth und seinen drei Söhnen Stephan, Peter und Paul. Allesamt Architekten - und alle unter einem Dach. „Fasziniert hat mich am Sujet zuerst das Menschliche“, sagt Staerkle-Drux, der die Familie Böhm zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet hat, zum Standard. „Die Architektur ist erst nach und nach in die Geschichte geraten. Der Film sollte auch keine Werkschau sein, das können Bücher besser.“

Trennen lassen sich die beiden Bereiche ohnehin nicht bei einer Familie, in der Werk und Leben so verschmilzt. Führten Vater und Söhne bis 2001 ihr Büro noch gemeinsam, gingen sie danach vier getrennte Wege, blieben doch unter einem Dach, gleichzeitig Konkurrenten und Kollegen, die einander ständig helfen und beraten. Bis heute sitzt Gottfried Böhm täglich am Zeichentisch. Eine unerwartete Wendung nahm die Dokumentation, als Elisabeth Böhm, die ihre eigenen Architekturambitionen nicht immer freiwillig der Familie untergeordnet hatte, 2012 starb. Nach ihrem Tod verließ Gottfried Böhm den Zeichentisch, nahm sich ein Auto und besuchte, vom Regisseur begleitet, die Bauten seines Lebens noch einmal. Der Film, der Ende Jänner in die Kinos kam, wurde bereits mehrfach preisgekrönt. Aufführungen in Österreich sind laut Filmverleih in Vorbereitung.

Biblisches Brausen

Dass der seltene Exot der sakralen Architektur nicht nur in der Retrospektive existiert, zeigt ein Kirchenbau in Wien, der Ende 2014 eröffnet wurde. Versteckt in einem Villenviertel, ist in Wien-Penzing für die Neuapostolische Kirche ein Erbe der Kölner Raumkünstler entstanden, das direkt anknüpfend an das Kölner Erbe anknüpft. Wie es zu dem seltenen Ereignis kam? Der Vorgängerbau aus dem Jahr 1972 war sanierungsbedürftig, der Kirchenraum zu groß und unflexibel. Als sich während eines Gottesdienstes ein „biblisches Brausen“ erhob und ein meterlanger alttestamentarischer Riss durch die Ziegelsteine fuhr, war der Fingerzeig für die Gemeinde klar: Ein Neubau musste her. Da die Kirche keine Steuern erhebt, wurde dieser komplett aus Spenden finanziert.

Den geladenen Wettbewerb gewannen Veit Aschenbrenner Architekten, die ihre eigene Erfahrung mitbrachten: Architekt Oliver Aschenbrenner war schon im Büro von Heinz Tesar an dessen katholischer Kirche in der Donau-City beteiligt. „Der Kirchenbau ist eine der schönsten Aufgaben überhaupt“, bekräftigt Aschenbrenner in tiefster Überzeugung. Das merkt man dem fertigen Bau an: Das Spiel mit Licht und Raum funktioniert auch, wenn es wie hier in kleinem Maßstab daherkommt.

Zur Straße hin ein an zwei Seiten fensterloses Ensemble aus Sichtbeton, wirkt der Neubau im Inneren erstaunlich hell und schafft es durch geschickte Raumstaffelung, viel größer zu wirken als von außen. Barocke Opulenz sucht man vergebens, das würde auch nicht passen, sagt Walter Hessler, Sprecher der Neuapostolischen Kirche. „Wir orientieren uns an der Urkirche, und die zurückgenommene Optik der Architektur entspricht der Liturgie.“

Petrus in Penzing

Biblisch auch der Beton: Die Idee dafür kam den Architekten, als sie noch während der Wettbewerbsphase einen Gottesdienst besuchten. Als der „Fels, auf dem ich meine Kirche baue“, wird Petrus in Penzing zu Stein in Form von grobporigem Dämmbeton, dessen bauphysikalisch „unsaubere“ Optik durchaus gewollt ist: „Es hat dadurch etwas Gewachsenes, Geologisches“, sagt Oliver Aschenbrenner. Mit wenigen, aber präzise verarbeiteten Mitteln - Beton, Holz, und versiegelter Estrichboden - schafften die Architekten ein edel-stilles Interieur, fern von katholischer Frontalüberwältigung. So familiär geht es hier zu, dass dem Hauptraum sogar ein Eltern- und Kinderzimmer in einer verglasten Loge mit Blick in den Kirchenraum beigefügt ist - so lässt sich störungsfrei unten im Stillen beten und oben beim Stillen beten.

Im Hauptraum endet die Bescheidenheit: Hinter dem Altar ragt eine über zehn Meter hohe fugenlose Betonwand auf, von oben mal sanft, mal schlagschattig beleuchtet, je nach Wetter und Gotteslaune. Darunter ein Altar im gleichen Material wie der Boden, eine Art Fels im Fels. Zwar war der Beton in der Gemeinde nicht umstritten, sagt Walter Hessler, heute fühlt man sich hier aber schon sehr zu Hause. Die Betonwand sei großartig, habe ihm eine ältere Dame bei der Eröffnung zugeraunt, sagt Oliver Aschenbrenner. Denn man fühle sich dadurch „wie in den Bergen“. Und somit zwischen Wiental und Gott schon auf halber Strecke.

21. Februar 2015 Der Standard

Zurück zum Beton!

Keine Architekturgattung wird so geschmäht wie der Brutalismus. Das ändert sich: Brachialbauten der 60er werden unter Denkmalschutz gestellt, und Architekten beginnen wieder, mit dem rauen grauen Stoff zu formen.

Zurück zum Beton!", brüllte die Düsseldorfer Post-Punk-Band S.Y.P.H. 1980 in ihrem gleichnamigen Song. Die hier so sloganhaft offen deklamierte Liebe zu diesem Baustoff war zu jener Zeit so unpopulär, dass sie sich gut zum Rebellengestus eignete. Vor allem ließen sich mit diesem schlimmen Wort die versponnenen Hippies in ihren Landkommunen am besten verschrecken. Hochhaus, Stadtautobahn und eine trotzig-stolze, harte Urbanität anstatt eskapistischer Batikmeditation und Baumumarmung auf dem Bauernhof.

Doch die Rehabilitierung des brutalen Betons erwies sich als ebenso massentauglich wie der Post-Punk: nicht sehr. Kaum ein Kapitel der Architekturgeschichte ist unter Nichtarchitekten so verhasst wie der Brutalismus der Nachkriegszeit. Dass der Begriff sich nicht von der Gewaltanwendung, sondern vom „béton brut“, also dem Sichtbeton, herleitet, besänftigte niemanden. Noch heute ist die Öffentlichkeit schnell zur Hand mit einem entrüstet geäußerten „Betonklotz!“, selbst wenn das so geschmähte Gebäude gar keinen Beton nach außen zeigt.

Dabei stand gerade der Brutalismus für eine Architektur, die sich wie wenige andere dem Dienst am Allgemeinwohl verpflichtet fühlte. Bibliotheken, Konzerthallen, Universitäten, Schulen waren es, die in den zukunftsfrohen 60er-Jahren in Sichtbeton erbaut wurden. Das Grau störte nicht, schließlich waren die Sixties bunt genug. Vor allem in Großbritannien blühte der Sichtbeton auf. Architekten wie Alison und Peter Smithson vom Team 10 oder Ernö Goldfinger bekannten sich zu den bildhauerischen Qualitäten dieses Baustoffes, mit dem die oft so spröde Moderne sich zu skulpturaler Sinnlichkeit aufschwingen konnte. Einer ähnlich bildhauerischen Lust an der Betonseligkeit frönte man in den USA, in der Schweiz und jenseits des Eisernen Vorhangs. In Deutschland wur- de Pritzker-Preisträger Gottfried Böhm mit seinem expressionistischen Wallfahrtsdom in Neviges bei Köln berühmt, in Wien Fritz Wotruba mit seiner aus Betonquadern aufgetürmten Kirche.

In den späten 1970er-Jahren hatte der Brutalismus seinen Kredit weitgehend verspielt, man war auf dem Rückweg zur kleinteiligen Stadt, und die Postmodernen verachteten die Geschichtsvergessenheit der Beton-Sixties. Heute ist ein Großteil der Betonbauten vom Abriss bedroht oder bereits verschwunden. Das kleeblattförmige Prentice Hospital in Chicago verschwand letztes Jahr trotz vieler Petitionen, bei der öffentlichen Bibliothek in Birmingham rücken demnächst die Bagger an. Sie wird durch ein Ensemble aus Viersternehotels und Büros ersetzt. Man kann sich fragen, was nun „zynischer“ ist: ein öffentlicher Bau aus Beton oder ein privates Luxusensemble aus Spiegelglas und Natursteinplatten?

Rohheit und Kontemplation

Trotz des immer noch fortschreitenden Abrisses hat die Trendwende schon begonnen: 2012 setzte Rem Koolhaas mit der Ausstellung „Public Works“ auf der Biennale Venedig den von progressiven Beamten (ja, solche gab es damals) initiierten öffentlichen Bauten der Nachkriegszeit ein Denkmal. Und vor wenigen Wochen wurde in Großbritannien eine Reihe von Bauten der Baujahre 1964 bis 1984 unter Denkmalschutz gestellt.

Nicht nur das: Auch bei Neubauten erlebt der Sichtbeton eine Rehabilitierung. In geschützten Biotopen wie der Schweiz hatte er ohnehin immer eine ungebrochene Tradition, war der Beton dort doch so fein verarbeitet, dass ihm jegliche Brutalität abgeschliffen wurde. Auch in Vorarlberg tauchen zwischen den meisterhaften Holzbauten immer wieder Werke aus Sichtbeton auf. Paradebeispiel dafür sind Marte.Marte Architekten, die nicht nur mit ihren alpinen Brücken, sondern auch mit ihren Einfamilienhäusern und vor allem Schulbauten, zuletzt 2011 mit dem sozialpädagogisches Zentrum Dornbirn, auf sich aufmerksam gemacht haben. Allerdings verströmen diese mehr den Geist präziser Sachlichkeit als die bildhauerische Wucht der Sixties. Doch auch diese gibt es.

Zum Beispiel in Steyr: Architekt Gernot Hertl hatte das halb zerfallene Bauernhaus von 1650 am Flussufer der Enns entdeckt, nicht weit von seinem Büro. Er entkernte die ruinenromantischen Außenmauern, setzte ihnen einen Betonrost auf und einen kantig-rauen Sichtbetonquader in sie hinein, der als Erker in Richtung Fluss hinausragt. Da dieses „Gartenhaus“ nur im Sommer als Refugium genutzt wird, konnte der bautechnische Aufwand für Wärmeschutz geringgehalten werden. Dass sich roher Sichtbeton für meditative Kontemplation eignet, hatte schon Le Corbusier 1960 mit seinem Kloster Sainte-Marie de la Tourette bewiesen.

„Einerseits wird das Mauerwerk von der rohen Betonoberfläche ergänzt, andererseits sind beide Oberflächen auch gleichzeitig die Konstruktion, jede ihrer Zeit entsprechend,“ erklärt Hertl die Materialwahl. „Der Beton schafft sämtliche Anforderungen in einem, er eignet sich konstruktiv und raumbildend für Wand, Decke und Dach. Und er ist beim Gartenhaus auch gleichzeitig die Fassade. Damit folgt er eindeutig der Ideologie des Brutalismus, also dem Sichtbarmachen des rohen Materials.“

Es geht auch noch sichtbarer. Auf den ersten Blick wie aus den 1970er-Jahren ins Inntal hineingebeamt wirkt der im Herbst 2014 eröffnete Neubau der KWB-Leitstelle des Tiroler Energieversorgers Tiwag in Silz. Ein monolithischer Turm, komplett in eingefärbtem Beton, nach zwei Seiten geschlossen und abstrakt, nach Norden und Süden mit dunklen Fensterbändern perforiert, die eigentliche Leitstelle wie eine Schublade herausgezogen. Eine selbstbewusste Sichtbeton-Skulptur, wie man sie hierzulande lange nicht gesehen hat.

Dabei war der Weg zur Form ein ganz pragmatischer, wie Michelangelo Zaffignani von Bechter Zaffignani Architekten erklärt. „Wir haben die Bauaufgabe analysiert und erkannt, dass sich die geforderten Räume gut stapeln lassen.“ Den „béton brut“ wählte man aus naheliegenden Gründen: „Im Kraftwerksbau wird Beton häufig verwendet, etwa bei Staumauern. Das Tolle ist, dass Ästhetik und Konstruktion eine Einheit sind, denn Fassade und Tragwerk sind deckungsgleich.“ Der Wunsch der Betreiber, flaches Licht auf die Arbeitsplätze zu vermeiden, kam dem zupass: Bei der Ost- und Westfassade ließ man die Fenster einfach weg. Beim Bauherrn sei zwar anfangs etwas Beton-Bewusstseinsbildung nötig gewesen, doch spätestens ein eigens angefertigtes Materialmuster zerstreute die letzten Tiwag-Zweifel.

Das Brutalismus-Label wollen sich die Architekten ungern umhängen lassen. „Wir denken nicht in Terminologien“, sagt Zaffignani. „Wir kennen und schätzen zwar die Beispiele aus der Architekturgeschichte, aber wir nähern uns jeder Bauaufgabe behutsam an, nicht mit der Faust aufs Auge.“ Der Beweis: Bauherren und Bürgermeister waren begeistert - nicht zuletzt, weil ein Gebäude aus diesem einfachen Baustoff sich nicht dem Vorwurf der Protzigkeit aussetzt. Ob man es brutal nennt oder nicht: Der Weg zurück zum Beton ist geebnet.

31. Januar 2015 Wojciech Czaja
Der Standard

Ein Baustoff namens Erde

Lehmbau ist ein exotisches Nischenprodukt. Völlig zu Unrecht, denn Lehm gilt als einer der besten und billigsten Klimaregulatoren, die es gibt. Allmählich erlebt das Lowtech-Material eine Renaissance.

Ich wundere mich manchmal über das schlechte Image von Lehm", sagt Martin Rauch, graumelierte André-Heller-Locken, ein Lächeln wie ein Sonnenschein. „In unseren Breitengraden gilt Lehm, vor allem Stampflehm, immer noch als Armeleutebaustoff, doch im Grunde genommen ist es ein großartiges und vielfältiges Material und einer der wichtigsten Baustoffe der Welt.“

Mehr als ein Drittel der Menschheit leben in Lehmhäusern. Besonders verbreitet ist die Bauweise in Nord- und Zentralafrika, auf der gesamten Arabischen Halbinsel sowie im Iran. Doch die Tage dieses vielleicht ältesten Baustoffs der Menschheitsgeschichte sind bereits gezählt, denn in seinen Ursprungsländern gerät Lehm nach und nach in Vergessenheit. Wo Geld ist, da sind kurze Zeit später auch Stahl, Glas, Ziegel und Beton.

Da kommt Martin Rauch, Geschäftsführer der Lehm Ton Erde Baukunst GmbH, gerade recht. Der Vorarlberger Architekt, der mittlerweile auf dem halben Erdball tätig ist und mit so namhaften Büros wie Marte.Marte, Matteo Thun, Herzog & de Meuron, Snøhetta und Olafur Eliasson zusammenarbeitet, ist ein Lehmbau-Lobbyist im besten Sinne. „Gerade in jenen Ländern, aus denen die Lehmbaukultur ursprünglich stammt, gibt es oft kein Know-how“, sagt Rauch. „Die Leute wissen nicht mehr, wie man mit Stampflehm baut. Dann springen wir ein, fliegen in den Süden und bilden die Handwerker und Bauarbeiter aus. Ist das nicht absurd?“

Zu den bisherigen Lehmbauten, die Rauch mit seinen Mitarbeitern stets eigenhändig errichtet, zählen Einfamilienhäuser, Schulen, Museen, Bürogebäude, Gewerbehallen, Kirchen, Friedhofsbauten und Hotels. Erst letztes Jahr stellte Rauch in Hirschegg, Steiermark, für den Vorarlberger Architekten Hermann Kaufmann das Naturhotel Chesa Valisa fertig. Und 2012 baute er - gemeinsam mit den Schweizern Jacques Herzog und Pierre de Meuron - für den Schweizer Kräuterzuckerlkönig Ricola eine Lagerhalle.

Ideale Lagerbedingungen

Das „Ricola Kräuterzentrum“ in Laufen bei Basel ist eine archaische, 110 Meter lange, 30 Meter breite und elf Meter hohe Halle aus Stahlbeton und Stampflehm. Nicht ohne Grund: „Nachdem der Lehm ein perfekter Klimaregulator ist, brauchen wir in dieser Lagerhalle keine Be- und keine Entfeuchtungsanlage. Die Luftfeuchtigkeit reguliert sich ganz von selbst.“ Die Ricola-Experten sind glücklich: Je nach Jahreszeit und Witterung beträgt die Luftfeuchte zwischen 50 und 60 Prozent. Ohne Technik und ohne Maschine, versteht sich. Ideale Lagerbedingungen für die Lutschbonbons in spe.

Und jetzt Saudi-Arabien. Schon seit einigen Jahren werkelt Rauch - gemeinsam mit dem Osloer Büro Snøhetta - am King Abdulaziz Center for World Culture (siehe Foto). Der riesige, futuristisch anmutende Bau in Dhahran, benannt nach dem vor einer Woche verstorbenen saudischen König Abdullah Ibn Abdulaziz Al Saud, ist ein Konglomerat aus Kulturzentrum, Theater, Kino, Veranstaltungshalle, Galerien und Büro-Tower. In der 120 mal 80 Meter großen Plaza, die all die unterschiedlichen Bauteile miteinander verbindet, sowie im Eingangsbereich kam auf mehr als 10.000 Quadratmeter Wandfläche Stampflehm zum Einsatz.

„Die Luftfeuchtigkeit am Persischen Golf schwankt enorm“, so Rauch. „Mal ist die Luft nass wie ein Schwamm, mal ist es trocken heiß bei 45 bis 50 Grad Celsius. Der Lehm fungiert hier als Regulator zwischen den Extremen. Wie wir aus der traditionellen Architektur in diesem Kulturraum nur zu gut wissen, kann man dank dicker Lehmwände auf so man- che Klimaanlage verzichten.“ Im Herbst dieses Jahres soll das King Abdulaziz Center nach fünfjähriger Bauzeit eröffnet werden.

Weniger königlich-feudale Bauherren sind die Spezialität von Anna Heringer. Die Liebe zum Lehm begann bei der mit dem Aga Khan Award ausgezeichneten Architektin bei einem einjährigen Entwicklungshilfe-Aufenthalt in Bangladesch. Seitdem ist sie immer wieder dorthin zurückgekehrt, ihre Diplomarbeit - die METI Handmade School in Rudrapur - wurde 2006, gemeinsam mit einer Heerschar Freiwilliger, erdige Realität. Der Selbstbau mit der Hand am Material ist dabei bis heute Heringers Grundüberzeugung geblieben.

Lehmende Erkenntnis

„Ein Haus aus Lehm kann man nicht aus der Ferne planen, man muss selbst vor Ort sein.“ Dass der Wissenstransfer beim Bauen keine Einbahnstraße ist, zeigen die Projekte, die Heringer in der westlichen Hemisphäre realisiert: An der Elite-Uni Harvard entstand gemeinsam mit Studenten eine „Mud Hall“, an der ehemaligen Berliner Mauer eine „Mud Wall“, und letztes Jahr brachte sie sogar westafrikanisches Lehmbau-Wissen nach Westösterreich.

Für den Hauptsitz des Energieversorgungsunternehmens Omicron Electronics in Klaus, Vorarlberg, entwickelte Heringer gemein-sam mit Martin Rauch Mitarbeiterräume, die mit der sonst üblichen Neonlicht-Nadelfilz-Konferenzraum-Tristesse wenig zu tun haben. Ein leichter, schwebender „Zeppelin“ in Gestalt eines mit indischen Textilien bespannten Holzskelettes und ein erdschwerer, archaischer, kartoffelartig wir-kender „Monolith“ aus Lehm mit einem ausgehöhlten Inneren. In diese sanftraue Geborgenheit dürfen sich in Kürze die Omicron-Elektroniker embryonal knotzend zum entspannten Brainstorming zurückziehen. Vorbild für dieses Projekt war eine Lehmbautechnik aus Ghana. Dank österreichischer Bauvorschriften musste der handgefertigte Kuppelbau mit Stahlringen verstärkt werden.

Die lehmende Erkenntnis: Ganz ist man in Europa noch nicht für den Import des so billigen wie klimatisch vorteilhaften Baustoffes gerüstet. Dabei ist dieser in unseren Breiten ein alter Bekannter, der auch den weltweiten wechselnden Witterungen tadellos trotzen kann. Im deutschen Weilburg an der Lahn steht ein sechsgeschoßiges Stampflehmhaus aus dem Jahr 1836. Der Bau ist gut beieinander und wird immer noch bewohnt. Und in der jemenitischen Stadt Schibam gibt es acht- und neunstöckige Lehmhochhäuser, die bis zu 500 Jahre alt sind. Sie stehen noch immer.

24. Januar 2015 Der Standard

Luftschlösser in Grün

Das Hochhaus erlebt weltweit eine Renaissance als Luxuswohnort im ökologischen Gewand. Doch auch bei grünen Wolkenkratzern stellt sich die Frage nach dem Mehrwert für die Stadt.

Kaum war am Ground Zero das neue One World Trade Center eröffnet, mit 541 Metern der höchste Wolkenkratzer der USA, vermeldete New York eine weitere Bestmarke: Vor kurzem ging die teuerste jemals in Manhattan verkaufte Wohnung auf den Markt: 100.471.452,77 Dollar legte ein unbekannter Käufer für das zweigeschoßige Penthouse im brandneuen, vom Pritzker-Preisträger Christian de Portzamparc entworfene Wohnhochhaus One57 hin und darf sich über den unverstellten Blick auf den Central Park freuen. Ein paar Blocks entfernt entsteht an der Park Avenue zurzeit das höchste Wohnhochhaus der westlichen Hemisphäre - Concierge und Catering inklusive.

So schnell kann es gehen: War nach der Finanzkrise 2008 der Hochhausbau weltweit schockgefrostet, schießen heute die Skylines wieder wild in die Höhe. 2014 wurden 97 Bauwerke mit mehr als 200 Metern Höhe fertiggestellt, mehr als je zuvor. 58 davon stehen in China. Doch zwei Dinge sind anders als vor der wirtschaftlichen Atempause: Wie das Beispiel New York zeigt, bestehen Wolkenkratzer heute nicht mehr ausschließlich aus brav gestapelten und je nach Architektengusto außen glasverspiegelten Bürogeschoßen. Immer öfter wird in luftiger Höhe gewohnt. Sozialwohnungen sind eher keine darunter. In Manhattan ist schon die Rede von einer neuen „Straße der Milliardäre“. Hier wohnt das obere eine Prozent, mit dem Weitblick über metropolitane Dächer als neues Statussymbol.

Die zweite Neuerung: Hochhäuser werden grün. Schon seit einer Weile rankt und wuchert es in den marketingkosmetischen Computervisualisierungen wie in einem botanischen Garten, sobald es darum geht, Hochhäuser zu bewerben. So sehr, dass ein gereizter Wissenschaftsjournalist schon vor zwei Jahren stöhnte: „Können wir bitte damit aufhören, Bäume auf Hochhäuser zu malen?“ Denn bis dahin hatte noch niemand nachgewiesen, dass die zarten Pflänzchen in windumtosten Höhen überleben, geschweige denn ihren angepriesenen ökologischen Mehrwert entfalten.

Bis jetzt. Denn 2014 wurde in Mailand das Doppelhochhaus „Bosco Verticale“ (vertikaler Wald) von Stefano Boeri eröffnet, das auf seinen weit ausladenden Balkonen tatsächlich ausgewachsene Bäume übereinanderstapelt. Seinen Namen trägt es zu Recht, denn die über die 110 und 76 Meter hohen Türme verteilte Biomasse entspricht rund einem Hektar horizontalem Wald. Die rund 800 Bäume wurden mit botanischer Fachhilfe so ausgewählt, dass sie den klimatischen Bedingungen standhalten, ohne zu verdorren oder auf Passanten zu stürzen.

Im November wurde Bosco Verticale vom Deutschen Architekturmuseum Frankfurt (DAM) im Rahmen der Ausstellung Best Highrises mit dem Internationalen Hochhaus-Preis ausgezeichnet, noch vor ebenfalls grünen Wolkenkratzern wie Jean Nouvels One Central Park in Sydney, das mit bepflanzten Fassaden von Landschaftskünstler Patrick Blanc aufwarten kann. Architektonisch ist Nouvels Bauwerk mit seinem riesigen auskragenden Sonnenspiegel sicher das spektakulärere, dafür entwickelte Boeri seine Türme als Teil eines grünen Gesamtkonzepts unter dem Namen Biomilano: Dieses soll die luftverpestete und flächenfressend ausufernde italienische Metropole mit Biotechnologie und Stadtökologie überlebensfähig machen, in der Peripherie soll ein breiter Grüngürtel (Metrobosco) entstehen. Die begrünten Hochhäuser sind hier also ein Wald unter vielen.

Sollte dieser die Jahre wie geplant in voller Blüte überstehen, wäre in der Tat ein ökologischer Mehrwert zu verbuchen, den die lukrative Immobilie der Stadt zurückgibt. Denn letztendlich sind auch grüne Hochhäuser vor allem ein Luxusreservat: Eine 130-Quadratmeter-Wohnung im Vertikalwald kostet über eine Million Euro. Zum Statussymbol „Fernblick“ kommt noch das Statussymbol „Baum vor dem Fenster“ - vorausgesetzt, die beiden kommen sich nicht in die Quere.

Sind diese Zahlenspiele nicht Privatsache? Sollte man die Wolkenkratzer nicht einfach nach Form, Gestalt und Ästhetik beurteilen? Nein, denn ein Hochhaus ist immer zuerst ein Renditeobjekt. Wer davon profitiert, ist eine Frage, die auch in Wien zurzeit diskutiert wird. Am lautesten beim von Isay Weinfeld geplanten Neubau beim Eislaufverein. Etwas leiser, da nicht von Unesco-Weltkulturerbe-Hochfrequenzen verstärkt, beim Projekt Danube Flats an der Reichsbrücke.

Dort wird in Kürze anstelle des verwaisten Cineplexx-Gebäudes Österreichs höchstes Wohnhaus entstehen. Nach zahlreichen Protesten und Planänderungen wurde von der Stadt grünes Licht gegeben. Verstummt ist die Kritik nicht: Die Architektenkammer monierte, die Stadt habe ihr Leitbild praktisch unverändert aus den Plänen des Projektwerbers (Soravia Group) übernommen, und dieses habe mit der bisherigen Planung für dieses Areal nichts zu tun. Keine Frage: Die Donauplatte ist ein Friedhof der Masterpläne, auf dem inzwischen jedes Hochhaus sein eigenes Leitbild vorweist, oft nicht viel mehr als eine nachträgliche städtebauliche Legitimierung der Eigentümerinteressen.

Immerhin: Das soll in Zukunft anders werden. Die reichlich vage formulierten Hochhausrichtlinien von 2002 wurden von TU-Professor Christoph Luchsinger überarbeitet. Transparenz ist das Ziel: Bei künftigen Hochhausprojekten soll die Bevölkerung von Anfang an eingebunden werden. Wien benötige Hochhäuser nur unter der Voraussetzung, dass diese außerordentliche Mehrwerte für die Allgemeinheit beisteuern, etwa öffentlich zugängliche Freiflächen. Im Dezember wurden die neuen Richtlinien beschlossen.

Ein Schritt in die richtige Richtung oder bloß Gummiparagraf? Das hängt davon ab, wie treu eine Stadt ihren eigenen Richtlinien bleibt. Ein warnendes Beispiel: Die Hochhauspläne in London beschränkten den Neubau in der City auf einen genau definierten Bereich. Trotzdem ragt Rafael Viñolys soeben fertiggestelltes, nach oben prall anschwellendes 37-stöckiges „Walkie Talkie“ jetzt alleine abseits dieses Clusters empor, plump und aggressiv wie ein verspiegelter Fehdehandschuh. Die Unesco war entsetzt.

Wie das passieren konnte? Nun, das Tolle sei ja gerade, dass man von diesem Hochhaus all die anderen, richtlinienkonformen Hochhäuser so schön sehen könne, begründete Londons langjähriger Stadtplaner Peter Rees die lukrative Ausnahme von der Regel. Die zu Projektbeginn versprochenen öffentlich zugänglichen Flächen, vollmundig Sky Garden getauft, sind nur mit Anmeldung zugänglich, die geplanten Bäume zu Büschen geschrumpft. Nicht jedes Luftschloss wird auch wirklich grün - manche bleiben grau.

3. Januar 2015 Der Standard

Das Runde muss ins Eckige

Das neue Montforthaus in Feldkirch wird in diesen Tagen eröffnet. Von Vorarlberger Nüchternheit keine Spur: Das Kultur- und Kongresszentrum punktet mit geradezu barocker Festlichkeit und sinnlichem Schwung.

Vorarlberg ist speziell. Anders als die übrigen Bundesländer - Niederösterreich ausgenommen - kann es mit keiner alles dominierenden, Bürger, Business und Budgets aufsaugenden Hauptstadt aufwarten. Im produktiven Siedlungsteppich der Rheinebene teilen sich die mehr oder weniger gleich großen Kleinstädte Bregenz, Dornbirn und Feldkirch in einträchtiger Rivalität das Ländle-Profil auf: Dornbirn steht als Tor zum Bregenzerwald für das innovative Vorarlberg, die Landeshauptstadt Bregenz für Administration und offizielle Landeskultur mit Kunsthaus und Vorarlberg-Museum. Das südliche Feldkirch schließlich hat sich in den letzten Jahren mit der Designmesse Art&Design und dem Poolbar-Festival als Fokus des jungen, gegenwärtigen Lebens profiliert.

Wie die Ambitionen, so die Stadtgestalt: Bregenz mit seiner topografisch zerrupften Altstadt, das mit repräsentativer Uferfront die Fühler zum Bodensee ausstreckt, aber noch nicht ganz angekommen ist. Dornbirn als geschäftig wuselnder, mit seinen Nachbarorten längst zusammengewachsener Ameisenhaufen. Das robuste Feldkirch theatralisch zwischen felsige Berge geklemmt, mit voralpin-wildromantischen und verkehrstechnisch problematischen Engstellen.

Genau an einer solchen, dort, wo Fernstraße und Ill nebeneinander in die Stadt einströmen, markiert seit den 1970er-Jahren ein ganz unfelsiger Berg den Eingang zur Stadt: der Illpark, ein massiger Komplex aus Hotel, Wohnungen und Einkaufszentrum, in das, wie für die damalige Zeit typisch, die Läden in ein von lichtlosen verwinkelten Passagen durchlöchertes Riesengebirge hineingestopft wurden, eine architektonische Orgie von 45-Grad-Winkeln.

Direkt daneben befand sich bis vor wenigen Jahren das alte Kulturzentrum Montforthaus, auch ein Kind der 1970er, ein schwerfälliger Kasten in zeittypischen Brauntönen. Anfang des neuen Jahrtausends erwies sich das Haus als bautechnisch nicht mehr zeitgemäß. 2008 wurde ein Wettbewerb für den Neubau ausgeschrieben, bei dem die meisten Architekten in vorauseilender Vorarlberghaftigkeit ihren Bau als kantige Kiste in die Altstadt setzten - mit dem Nachteil, dass der geforderte Konzert- und Veranstaltungssaal zwangsläufig einem der drei angrenzenden Plätze den unschönen Rücken zuwandte.

Anders die Wettbewerbssieger: Hascher & Jehle (Berlin) und Mitiska Wäger (Bludenz) lieferten einen Entwurf, der erstaunlicherweise weder Züge der preußisch-steinernen, oft in banaler Lochfassadentristesse versackenden Berliner-Republik-Architektur noch der bautechnisch cleveren Einfachheit Vorarlberger Kisten trägt. Stattdessen stellten sie einen steinernen Blob wie einen rundgeschliffenen Flusskiesel zwischen die drei Stadtplätze und drehten den Saal im Inneren so aus der Achse, dass zu allen drei Seiten eine Eingangsfront entstand. So wie Peter Cook 2003 sein Kunsthaus in die Grazer Dachlandschaft einpasste wie ein angelutschtes Bonbon in eine Pralinenschachtel, ist auch das neue Montforthaus wie ein Puzzlestück in das jahrhundertealte Feldkircher Altstadtlabyrinth eingefügt, und das ganz ohne bautechnisch ungelenken Glasamöbenfuturismus.

Von der Passgenauigkeit kann man sich jetzt überzeugen, vom 2. bis 6. Jänner wird das neue Montforthaus (Baukosten 44 Millionen Euro) mit einem Reigen von Konzerten und Partys nach zweieinhalb Jahren Bauzeit eröffnet. Es ist ein Haus der großzügigen Gesten: Die geschwungene Fassade aus weißem Jurakalk ist in der Mitte über die gesamte Front entlang Rässleplatz, Leobhardsplatz und Gymnasiumhof aufgeschnitten wie eine edle Tunfischdose, dahinter ist die holzgetäfelte Außenhaut des Saals erkennbar, der als eigener Klangkörper das Herzstück bildet. Geradezu verschwenderisch barock mutet das Eingangsfoyer an: Es nimmt ein gutes Viertel der Grundfläche ein, sein riesiger Luftraum umschwungen von den sahnig-weißen Brüstungen der Stiegenläufe und Galerien, ein wahres Ländle-Guggenheim-Museum, durch das verglaste Dach hell illuminiert.

„Das Foyer soll natürlich selbst für Veranstaltungen dienen“, sagt Edgar Eller, der stolze Geschäftsführer. Als städtisches Haus wird der Bau hier aber auch einen Infopoint für den Feldkirch-Tourismus und das Vorarlberg-Ticketing aufnehmen. „Ein Kongresshaus ist normalerweise geschlossen, wenn keine Veranstaltungen stattfinden“, erklärt Eller. „Das soll hier anders sein - das Montforthaus versteht sich als Open House, das im Ort verankert ist.“

Ein Haus, das alle Stücke spielen soll, eine so verlockende wie komplexe Aufgabe für Architekten: Konzerte und Kongresse haben völlig verschiedene Anforderungen an die Raumakustik, noch dazu sollten vom 1066 Besucher fassenden Saal auch noch mehrere Seminarräume abtrennbar sein, die Bühne benötigt mal einen Orchestergraben, mal nicht, der Saalboden muss eben sein, auch wenn konzertante Events eine Neigung zur Bühne bevorzugen.

Zwischentöne in Birnenholz

Nun ist dies keine seltene Aufgabe, manche Architekten lösen sie mit einem Kraftakt an maschineller Hightech-Mechanik, in Feldkirch jedoch merkt man dem Saal den programmatischen Overload kaum an: Komplett mit heimeligem Birnenholz verkleidet, ist er von ausgewogener, höhlenartiger Geschlossenheit, wie das Foyer eingefasst in geschwungene Formen. Und der Orchestergraben? Der fährt als diskret getarnter Aufzug durchs Gebäude.

Dass all diese Stücke hier auch wirklich gespielt werden, zeichnet sich schon ab. Der Saal ist schon weit ins Jahr 2015 ausgebucht, das Programm reicht von den extra fürs Haus konzipierten Montforter Zwischentönen, die klassische Musik mit Dialogformaten verbinden, über das Musical Sissi bis zum Vortrag Mehr Lust: Meine sinnliche, erotische Lust beleben der Vorarlberger Frauenservicestelle FEMAIL.

Der zwar weniger erotische, aber garantiert sinnliche Schwung der Architektur gipfelt am Ende der Guggenheimspirale über dem Saal in Dachrestaurant und Dachterrasse. Von hier lässt sich nachprüfen, ob das Einfügen des steinernen Blobs ins Feldkircher Stadtgefüge gelungen ist. Man konstatiert: Eine solch kommunikative Nettigkeit zu all ihren Nachbarn hätte eine rechtwinklige Kiste sicher nicht aufgeboten. Die Hinterhöfe der Wohnhäuser, die vom alten Montforthaus noch uneinsehbar zugestellt waren, sind zu kleinen, intimen Plätzen geworden, veredelt durch die Reste der 800 Jahre alten Stadtmauer. Der Rössleplatz am Eingang zur Altstadt mündet nun direkt ins gläserne Foyer, anstatt an einer grimmigen braunen Seventies-Wand zu zerschellen. Und selbst zum tausendfach verwinkelten Illpark-Gebirge nebenan schickt das architektonische Passstück Montforthaus ein freundliches „Passt schon!“ hinüber.

29. November 2014 Der Standard

Über den Schatten springen

Er kommt aus Burkina Faso und hat sein Büro in Berlin. Der Architekt Diébédo Francis Kéré bekam den renommierten Schelling-Preis verliehen. Ein Gespräch über das Vor-Ort-Sein und die Ästhetik des Lehmbaus.

Der seit 1992 alle zwei Jahre vergebene Schelling-Preis für Architektur ist so etwas wie ein Ruhmindikator der Branche. Nicht wenige unter den Preisträgern der Karlsruher Stiftung wurden wenig später mit dem Pritzker-Preis gekrönt. Dabei folgt die Kandidatenauswahl nicht der reinen Prominenz, sondern einem Thema, in diesem Jahr „indigenous ingenuity - direkt vor Ort“. Während der Lebenswerk-Preis für Architekturtheorie schon vorher feststand - er ging an den Finnen Juhani Pallasmaa - wurden die drei Kandidaten für den Architekturpreis am 12. November live gekürt. Dabei wollten Anna Heringer aus Deutschland, Carla Juaçaba aus Brasilien und Diébédo Francis Kéré aus Berlin und Burkina Faso am liebsten gar nicht gegeneinander antreten. Man schätze sich gegenseitig zu sehr, versicherten sie. In der Tat sind alle drei im selben Feld unterwegs - sie bauen abseits der ausgetretenen Pfade, vor Ort, und kooperativ: Heringer fusioniert bei ihren Bauten in Bangladesch lokales Wissen mit Expertise von außen, Juaçabas Expo-Pavillon in Rio de Janeiro ist ein programmatisch offenes Gerüst, und Kéré gewann mit dem Schulbau in seinem Heimatdorf Gando bereits 2004 den Aga Khan Award. Als die Jury schließlich ihn kürte, kündigte er sofort an, das Preisgeld von 30.000 Euro zu teilen. Warum das Wir wichtiger ist als das Ich, erzählte er dem STANDARD in Karlsruhe.

Standard: Sie haben das Preisgeld prompt mit Ihren Mitkandidatinnen geteilt. Eine spontane oder geplante Entscheidung?

Kéré: Ich habe schon vorher gesagt, dass ich den anderen den Preis gönne, also war das die logische Konsequenz. Es ist nicht nur so dahingesagt. So konsequent versuche ich auch zu leben.

Gibt es außer der persönlichen Wertschätzung auch eine architektonische Ebene, die Sie verbindet?

Kéré: Uns verbindet das Bemühen, in Regionen Infrastrukturen zu schaffen, wo Wissen noch gebraucht wird. Anders als in Europa, wo in jedem Bereich Überfluss herrscht. Man muss den Menschen schulen, man muss versuchen, dort etwas Dauerhaftes aufzubauen.

So wie die Schule in Ihrem Heimatort Gando - Ihr erstes Projekt, noch vor dem Diplom in Deutschland?

Kéré: Ja, das war ein großes Risiko, die Erwartungen waren hoch. Der Häuptling schickt seinen ältesten Sohn ins Ausland - was bringt er mit? Wären meine Lehmwände nach dem ersten Regen weggeschwemmt worden, würden noch meine Enkel von diesem Scheitern erzählt bekommen. Ich hatte großen Respekt: Nutze ich meiner Gemeinschaft oder schade ich ihr? Das Wichtigste bei meiner Arbeit war, den Mut zu haben, über meinen Schatten zu springen und der Dorfgemeinschaft zu sagen: Das schaffen wir. Diesen Mut vermisse ich im Westen oft.

Wie haben Sie es geschafft, die Bevölkerung zu überzeugen?

Kéré: Schulen gab es in meiner Heimat schon, aber die bestanden aus Mauern und einem Blechdach, sehr dunkel und stickig. Wenn Leute dort zu Geld kommen, wollen sie kein Lehmhaus, sondern eins aus Beton und Glas. Aber das funktioniert in diesem Klima nicht. Wir versuchen etwas aus diesem Arme-Leute-Material zu machen, indem wir eine konstruierbare Ästhetik einführen. Das heißt, wir mischen den Lehm mit Zement, wir bauen auskragende Dächer, die in der Hitze für Abluft sorgen und verhindern, dass der Regen den Lehm abwäscht. Bei einem anderen Projekt haben wir traditionelle Tontöpfe in Scheiben geschnitten und als Material verwendet.

Müssen Sie dazu als Architekt vor Ort sein, oder können das die Bewohner allein?

Kéré: Wir haben ein festes Kernteam aus Einheimischen, die das Wissen weitertragen. In Gesellschaften, in denen wenig schriftlich festgehalten wird, ist das kollektive Gedächtnis wichtig. Wenn jemand tot umfällt, können sechs andere die Idee rekonstruieren. Man muss das Wissen so breit wie möglich verteilen. Deswegen sind die Pläne einer meiner Schulen auch Open Source, jeder kann sie downloaden.

Also das Gegenteil einer Architektur, die von einem einzelnen, genialen Architekten abhängt.

Kéré: Das ist in Europa gang und gäbe, aber bei uns funktioniert das nicht. Wenn man aus einer Gemeinschaft heraus Wissen erlangt, will man das mit der Gemeinschaft teilen.

Hierzulande wurden Sie bekannt als Architekt von Christoph Schlingensiefs Opernhaus-Vision in Burkina Faso. Wo steht das Projekt vier Jahre nach Schlingensiefs Tod?

Kéré: Das Operndorf ist ein permanentes Projekt. Eine Schule mit 200 Schülern gibt es schon, einen Kindergarten, ein Atelierhaus. Der nächste Schritt ist das Opernhaus selbst. Natürlich ist es nicht leicht, an das Erbe von Schlingensief anzuknüpfen. Seine Energie war einzigartig.

Sie haben ein Büro in Berlin und bauen in Mali und Mosambik, in Mannheim und Münster. Was können wir von Afrika lernen?

Kéré: Zum Beispiel das Bewusstsein, dass unsere Ressourcen begrenzt sind. Das heißt nicht, dass jeder anfangen soll, Lehmhäuser zu bauen. Aber die Häuser können intelligenter werden. Man kann den Grad des Hightech in den Gebäuden reduzieren und mehr auf nachwachsende Ressourcen setzen.

Lässt sich die Offenheit Ihrer Architektur auch auf unsere Breiten übertragen?

Kéré: Hier im Westen sind wir stark von Verboten gesteuert, von Angst. Ich habe das Gefühl, dass den Bürgern vorgegeben wird: An diesem Ort darfst du dies und dort jenes nicht machen. Wir sollten unsere Städte so gestalten, dass die Menschen öffentliche Plätze für sich in Anspruch nehmen können. Nur zu feiern, wenn jemand das Kommando dazu gibt, ist zu wenig. Und die Politiker haben Angst vor der nächsten Wahl, sodass wir die großen Schritte nicht machen können.

Das heißt, wir sollten - wie Sie - öfter über den Schatten springen?

Kéré: Es würde helfen, sich mehr auf Diskussionen einzulassen. Wenn wir uns wegen jeder kleinen Entscheidung vor Gericht finden, wenn niemand Fehler eingestehen will, dann kann das so nicht weitergehen. Wir müssen uns verantwortlich für eine Sache fühlen - nicht nur zuschauen und bei jeder Kleinigkeit anrufen und sich beschweren. Wir müssen vom Ich zum Wir finden.

22. November 2014 Wojciech Czaja
Der Standard

Licht und Schatten über den Gleisen

Die Hauptbahnhöfe in Salzburg und Wien sind nahezu gleichzeitig startklar. Mit unterschiedlichen Fahrplänen. Im Westen stehen die Signale auf leichte Eleganz, die Hauptstadt hingegen schaltet auf Durchzug.

[Wojciech Czaja] Wie würden Sie den Salzburger Bahnhof in einem Satz beschreiben? „Great, your train is late!“, tönt es sofort aus den Mündern von Klaus Kada, Kilian Kada und Gerhard Wittfeld. Gemeinsam mit einem Team von mittlerweile hundert Mitarbeitern betreiben sie in Aachen das Büro Kada Wittfeld Architektur und gewannen 1999 den Wettbewerb zur Sanierung und Neubebauung des Hauptbahnhofs Salzburg. Lange hat es gedauert, denn „große öffentliche Projekte brauchen viel Zeit, und eine Evolution tut solchen Mammutbauwerken gut.“ Nun wurde der Bau nach fünfjähriger Bauzeit vor zwei Wochen offiziell eröffnet.

Der Hauptbahnhof Salzburg ist ein schönes Beispiel dafür, was Architekten so gerne als „Dialog zwischen Alt und Neu“ bezeichnen. Die Bahnhofshalle wurde freigelegt, zum Vorschein kamen alte Jugendstilornamente und längst verfallen geglaubte Fliesenmosaike. Dem gegenüber steht eine moderne, lichtdurchflutete Passage mit Shops und breiten Einschnitten in der Decke, durch die man in den Himmel blicken kann. Oben findet man sich unter der historischen Bahnsteighalle aus Eisen und Glas, an die ein paar schlanke, weiche Bahnsteigdächer mit einer Neuinterpretation von Glas anschließen: Über Bahnsteigen und Gleisen spannt sich eine transparente Luftkissenmembran aus PTFE-Folie.

„Wir haben lange darüber gegrübelt, und mit lange meine ich Jahre, wie wir die historische, denkmalgeschützte Halle in unseren Entwurf am besten einbeziehen können“, sagt Wittfeld. „Letztendlich haben wir uns dafür entschieden, dem Original den Vorzug zu geben.“ Unter den vielen Farbschichten der zuletzt grauen, schlammfarbenen Konstruktion kam die Ursprungsfarbe zum Vorschein: Eierschalenweiß. Dem Ambiente, so Wittfeld, komme der helle Originalfarbton durchaus zugute: „Schaut nicht aus wie ein Bahnhof, sondern wie ein Sakralbau. In gewisser Weise ist das eine Wertschätzung gegenüber den Menschen, die dieses Bauwerk benutzen.“

Rund 80 Millionen Euro haben Sanierung und Umbau gekostet. Das Gesamtinvestitionsvolumen des Projekts beläuft sich - mitsamt Brücken, Gleisbau und Signalanlagen - auf das Dreifache. Neu ist, dass es Kada Wittfeld gelungen ist, die ÖBB davon zu überzeugen, die Bahnhofspassage bis nach Schallmoos durchzubrechen und auf diese Weise einen Nebeneingang zu schaffen, wo sich auch eine Radgarage für 550 Fahrräder befindet. „Ich hasse Bahnhöfe, die den Passagieren nur das Geld aus der Tasche ziehen“, sagt Klaus Kada. „Ein Bahnhof ist kein Einkaufszentrum, sondern ein Ort der Bewegung, eine öffentliche Fußgängerzone.“ Shops gibt es, keine Frage, doch die Bühne dient hier dem Fortfahren und Ankommen.

[Maik Novotny] Architektonisch ist ein Bahnhof ja eigentlich nichts Kompliziertes. Traditionell besteht er meist aus zwei Teilen - einem Eingangsgebäude und einem Dach. Das eine verankert die weite Welt in der Stadt, das andere schützt vor Regen.

Beide Teile, das haben Architekten und Ingenieure in den letzten 180 Jahren gezeigt, lassen sich zu Spektakulärem veredeln. Manchen Bahnhöfen gelingt es, das Ankommen (wie der Westbahnhof mit seinem großen Fenster auf die Stadt) und Abfahren (wie der alte Südbahnhof mit seinen Süd-Ost-Verschlingungen) zu inszenieren, wenigen sogar, den Durchfahrenden zum Aussteigen zu bewegen.

Die Aufgabe, einen neuen Hauptbahnhof für eine alte Hauptstadt zu bauen, sollte also reichlich Chancen für Spektakuläres bieten. Sollte man meinen. Von Albert Wimmer, Ernst Hoffmann und Theo Hotz entworfen und von Stadt und ÖBB eher als rein infrastruktureller Durchlaufposten von städtebaulichem Masterplan und Immobilienverwertung behandelt denn als architektonisches Einzelstück, wurde der Wiener Hauptbahnhof von Anfang an als „Bahndamm mit Dach“ beworben, und an dieser Reduktion krankt er jetzt nach der schrittweisen Eröffnung.

Dabei ist die Grundidee des Daches keine schlechte: Die ineinander verschränkten Rauten oszillieren bildhaft zwischen Durchfahren und Abbremsen. Doch was von oben besehen dynamisch wirkt, verschmilzt von unten zu einer einzigen, dezent angerissenen Platte, die schwer über den Bahnsteigen lastet, sodass man sich besonders im nächtlichen Neonlicht wie in einer stahlverarbeitenden Fabrik wähnt.

Die Kunst der Fuge

Das Eingangsgebäude wiederum ist kein solches, sondern eine ausgefüllte Restfläche zwischen dem Bogen der Trasse und dem geplanten 88 Meter hohen Bürokomplex auf dem Baufeld A01 (Signa Holding) am Gürtel, der kleinstmögliche ÖBB-Restposten der Grundstücksverwertung. Zwar könnte man auch die „Kunst der Fuge“ architektonisch zu etwas Besonderem machen, doch dazu sind die Anschlüsse der Glasfassaden an die Glasbrüstung des Bahndamms zu unentschlossen verbastelt. Immerhin sorgt die von zwei Seiten (und viermal am Tag beidseits korrekt) lesbare Bahnhofsuhr für Aufheiterung.

Der Kern des Bahnhofs steckt ohnehin weder im Dach noch im Eingang, sondern im Damm: Dieser verknüpft die lang getrennten Bezirke vier und zehn, indem er möglichst viele Passanten durch die Einkaufspassage saugt und die kommerzfreien Durchgänge daneben als finstere Angsträume belässt. Wir lernen: Heute besteht ein Bahnhof nicht aus Dach und Eingang, sondern aus Haltestelle und Shoppingcenter.

Publikationen

2017

Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter?

Willst du wirklich wohnen wie deine Mutter? Die Ausstellung ist ein Plädoyer für den Fortschritt in Architektur, Wohnungsbau und Städtebau. Wie wir wohnen ist nicht unseren Genen geschuldet, wie wir wohnen ist ein über Generationen an gelerntes Verhalten, dessen Weiterentwicklung von der Dauerhaftigkeit
Hrsg: Kristin Feireiss, Hans-Jürgen Commerell
Autor: Maik Novotny, Kristin Feireiss, Kaye Geipel, Anna Popelka, Georg Poduschka
Verlag: PPAG, Aedes Architekturforum

2014

PPAG: Speaking Architecture
Phenomenology / Phänomenologie

Ein Elefantenhaus, ein Wohnberg, ein Dorf am Dach. Eine offene Schullandschaft, ein barockes Parkhaus, ein silbern schimmernder Windkanal. Das Wiener Büro PPAG architects, 1995 von Anna Popelka und Georg Poduschka gegründet, denkt Architektur mit Scharfsinn, Lust und Erfindergeist immer wieder neu. Ihr
Hrsg: Maik Novotny
Autor: Anna Popelka, Georg Poduschka, PPAG
Verlag: Ambra Verlag

2007

Eastmodern
Architecture and Design of the 1960s and 1970s in Slovakia

Eastern modernist architecture of the 60’s and 70’s is moving away from the specialized focus of international architecture debates and becoming a subject of discussion within the broader context of general interest. The excellent photos in the book convey the flair of an era in which planning was obviously
Autor: Maik Novotny, Hertha Hurnaus, Benjamin Konrad
Verlag: SpringerWienNewYork