Bauwerk

Centre Pompidou
Renzo Piano, Richard Rogers - Paris (F) - 1977
Centre Pompidou, Foto: Margherita Spiluttini

Neugeburt einer Utopie

Das Pariser Centre Pompidou wiedereröffnet

Nach einer 27monatigen Totalrenovation, die sowohl die Form als auch den Inhalt betraf, zeigt sich das Centre Pompidou, die meistbesuchte Kulturinstitution der Welt, seit dem ersten Januar nicht nur in neuem Glanz, sondern auch benutzerfreundlicher als bis anhin. Insbesondere die Bibliothek und das Museum für moderne Kunst weisen ein überaus ansprechendes Profil auf.

3. Januar 2000 - Marc Zitzmann
Das Pariser Centre Pompidou ist eine Ikone. Die Ikone einer Utopie. In architektonischer Hinsicht ist das 1977 fertiggestellte Bauwerk von Renzo Piano und Richard Rogers ein Kind der sechziger Jahre, von einer Jury ausgezeichnet, der Jean Prouvé vorsass und der u. a. Philip Johnson und Oscar Niemeyer angehörten, von Archigram und dem Fun-Palace-Projekt von Cedric Price (1961) beeinflusst, von den Ingenieuren Ted Happold und Peter Rice mitgefertigt. Obwohl als ein Wahrzeichen des High-Tech-Zeitalters angesehen, war das Zentrum eigentlich als eine «Parodie der Technologie» gedacht, als ein «grosses Stück Kunsthandwerk», bis zu den Nägeln «handgemacht» (Renzo Piano): ein Prototyp. Als «giant Meccano» bzw. als eine Kombination von British Museum und Times Square konzipiert, als «monstrueux supermarché» oder als «Notre- Dame des tubes» anfangs heftig kritisiert, ist es mittlerweile zu einer Ikone im Pariser Stadtbild geworden, deren photographische Verewigung auf keiner Touristentour fehlen darf.


In die Jahre gekommene Ikone

Inhaltlich bot das Centre Pompidou das Paradoxon, dass es, als eine Schöpfung des (eher rigiden neogaullistischen) Zentralstaats - und als solche das mittelbare Vorbild der späteren «grands travaux» -, zur institutionellen Verkörperung von 68er Ideen wie «Pluridisziplinarität» und «Flexibilität» wurde. In der Kulturlandschaft der siebziger Jahre, in die André Malraux' Maisons de la culture wie «Kathedralen des XX. Jahrhunderts» hineinragten, wurde das Zentrum mit dem Musée national d'art moderne (Mnam), der populären Bibliothèque publique d'information (Bpi), dem von Pierre Boulez gegründeten, (damals) elitär- avantgardistischen Forschungsinstitut Ircam und einer Vielzahl von Veranstaltungen als eine wichtige Öffnung in Richtung der zeitgenössischen Kunst rezipiert: eine «bouffée d'air frais».

Doch fiel es dem Centre Pompidou - wie allen Utopien - schwer, älter zu werden. Vor zehn Jahren kam es zu einer regelrechten Krise. Die buntgemischte «university of the streets», von der Piano und Rogers geträumt hatten, konkretisierte sich in Touristenmassen, die, ohne einen Blick ins Museum zu werfen, auf die Dachterrasse drängten, um gratis das atemberaubende Panorama zu geniessen. Rost und Regen setzten dem Gebäude zusätzlich zu: «Die Schlampigkeit und Lieblosigkeit, mit der die Unsrigen schöne Dinge behandeln, ist so gross, dass diese, kaum entstanden, schon vernachlässigt werden» - Poussins Satz von 1643 gilt auch heute noch in Frankreich. Im Eingangsbereich dösten Clochards, auf der Piazza sah man neben Feuerschluckern auch Dealer. Wegen des Fehlens moderner Universitätsbibliotheken in Paris bildeten sich vor der Bpi Schlangen von Studenten, die zuletzt etwa 85 Prozent der Besucher ausmachten und andere Benutzer entmutigten. Mangelnde Koordinierung führte zu internen Streitereien. Das ganze Viertel mutierte zum Eldorado für einen Ramsch-Tourismus, mit dem sich kein Pariser identifizieren mag. Das Personal jammerte über schlechte Arbeitsbedingungen und fehlende Berufsperspektiven, die Sicherheits- und Säuberungsmannschaften streikten, etliche Konservatoren verliessen das Museum. Mit rund 25 000 Besuchern pro Tag (fünfmal mehr als erwartet) war das meistbesuchte Kulturzentrum der Welt überlastet: Seit 1977 haben fast 150 Millionen Paar Füsse seine Schwelle überschritten.

Endlich wurde das Centre Pompidou im Oktober 1997 für die überfälligen Umbau- und Renovationsarbeiten geschlossen. Diese haben 27 Monate gedauert und 576 Millionen Francs gekostet; dazu kommen weitere 150 Millionen für die Neugestaltung der Umgebung (darunter Pianos Neubau des Ateliers Brancusi; NZZ 11. 2. 97) und 160 Millionen für die technische Modernisierung des Gebäudes. Während das Äussere lediglich einem Facelifting unterzogen wurde, hat sich im Innern viel verändert. Der in den vergangenen 20 Jahren stark gestiegenen Nachfrage nach Qualität in puncto Service wird Rechnung getragen mit neuen Tarifen und einer dem Schweizer Ruedi Baur anvertrauten Beschilderung, mit Cafés, Buchläden, Boutiquen und einem grossen, von Dominique Jakob und Brendan MacFarlane gestalteten Panorama-Restaurant. Durch die Auslagerung aller Büros konnten 8000 Quadratmeter (bei einer Gesamtfläche von 70 000) gewonnen werden; die sechs «Niveaus» genannten Stockwerke sind jetzt ganz der Kultur gewidmet.


Vom Buch zum Bild

Den unteren Teil des Zentrums hat Piano neu gestaltet. Der Haupteingang ist besser sichtbar gemacht, das Riesenloch im Forum stark verkleinert, der Empfangs- und Dienstleistungscharakter des Bereichs akzentuiert worden. Zu der auf 1600 Quadratmeter vergrösserten südlichen Ausstellungsgalerie und dem bereits existierenden Kinosaal sind im Untergeschoss vier Säle für Film, Tanz, Theater, Musik, Debatten usw. mit insgesamt 900 Plätzen dazugekommen. Das Département du développement culturel, einer der vier Grundpfeiler des Hauses, verfügt so über neue Mittel, die Präsenz der «spectacles vivants» zu verstärken. Mit dem grössten und wichtigsten Teil der Neugestaltung, dem Umbau der Bpi, des Mnam und der drei Galerien für zeitweilige Ausstellungen auf dem sechsten Niveau, ist Jean- François Bodin betraut worden. An zahlreichen Museen geschult (darunter dem Musée d'Art moderne de la Ville de Paris), hat der Architekt ganze - das heisst sensible, unaufdringliche und zweckdienliche - Arbeit geleistet.

Die neue Bpi gehört zu jenen seltenen Volksbibliotheken, die einem auf Anhieb Lust zum Lesen geben. Neu ist der Zugang über eine Rolltreppe im Innern, die - zu Pianos Leidwesen - der berühmten roten «chenille» der Piazza-Front Konkurrenz macht, aber helfen sollte, die vormals zum Teil unzumutbar lange Wartezeit zu verkürzen. Distinguiert, aber nicht fad sind der zwetschgenfarbene Teppichboden, die hellgrauen Möbel und die blaue Decke. Die Regale sind zur riesigen, über zwei Seiten sich erstreckenden Fensterfront hin niedrig gehalten, so dass der frühere Eindruck der Beengung einem Gefühl der Öffnung auf die Aussenwelt gewichen ist. Trotz ihrer Ausdehnung über drei mittlere Niveaus wirkt die Bibliothek übersichtlich. Die Lesetische für 2000 Personen verfügen über eigene Lampen und Stecker; mehr als 350 000 (überwiegend nichtspezialisierte und im weitesten Sinn aktuelle) Bücher, 450 Pressepublikationen aus der ganzen Welt und 370 Bildschirme sind frei zugänglich, Katalog und Informationen auch online abrufbar (www.bpi.fr).

Doch das Kern- und Glanzstück des Centre Pompidou ist das Museum. Fast um die Hälfte vergrössert, verfügt das neue Mnam über eine Fläche von 14 000 Quadratmetern. Die Zahl der Exponate ist von 800 auf 1400 gestiegen (wobei die riesige Reserve - über 42 000 Objekte - immer wieder Anlass zu Spekulationen über das Werden der Sammlung gibt). Nachdem schon 1985 die flexible Raumstruktur durch Gae Aulenti verfestigt worden war, hat jetzt Bodin das vierte und fünfte Niveau durch einen, wie er sagt, «quasi urbanistischen» Eingriff in jeweils «zwei Raumblöcke beidseits einer zentralen Strasse» aufgeteilt, alles in Weiss. Von der ursprünglichen Idee einer riesigen modulierbaren Fläche ist man ganz abgerückt; ob das wirklich (nur) das Resultat jener «furie patrimoniale» ist, welche Jean Lauxerois in seiner kritischen Bilanz «L'Utopie Beaubourg, vingt ans après» dem Zentrum ankreidet, bleibe dahingestellt. Dass, wie der Direktor des Mnam, Werner Spies, es formuliert, ein Museum nicht in einer Mehrzweckhalle untergebracht werden kann, leuchtet ein. Dass Spies' eigene Disposition der permanenten Ausstellung gar eine «Neugeburt» des «neben dem New Yorker Museum of Modern Art wichtigsten Museums für Kunst des 20. Jahrhunderts» bedeute, müsste eingehender erörtert werden, als es hier möglich ist.

Mit einem Rundgang, der, 1960 beginnend, erst in seiner zweiten Hälfte die Klassiker der Moderne zeigt, mit sieben grossen Sälen für Architektur und Design, mit erhellenden Konfrontationen (z. B. zwischen kubistischen Gemälden und afrikanischen Skulpturen) und «Leckerbissen» wie der Rekonstruktion eines Teils des Ateliers von André Breton findet aber eine Zäsur in der Geschichte dieses Museums statt. Ob auch in der Museumsgeschichte ganz allgemein, wird sich zeigen.


[ Die Homepage des Zentrums (www.centrepompidou.fr) ist stark erweitert worden. Der neue zweisprachige Katalog (französisch/englisch) des Mnam hat 880 Seiten und kostet 260 Francs. Die Bpi wird erst am 26. Januar eröffnet. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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