Bauwerk

Archivgebäude
Sichau & Walter - Fulda (D) - 2005

Im Einklang mit der Stadt

Die Architekten Sichau und Walter erforschen das baukünstlerische Potenzial von Fulda

4. November 2005 - Jürgen Tietz
Bauen in der Provinz unterliegt eigenen Gesetzmässigkeiten. Denn so leicht in den Metropolen Neubauten im weiten Häusermeer untergehen, so nachdrücklich können sie in einer kleineren Stadt die gewachsenen Strukturen verändern und auf Jahrzehnte hinaus prägen. Die Angst vor einer Veränderung des vertrauten Stadtbildes führt in der Bevölkerung daher oft zur Zurückhaltung gegenüber baulichen Innovationen. Anspruchsvolle zeitgenössische Architektur hat es zumeist schwerer als anpasserische Durchschnittsware. Umso mehr überrascht es, dass sich in einer eher konservativ geprägten Stadt wie dem hessischen Fulda in den letzten Jahren eine innovative Architekturszene etablieren konnte. Hier sind eine ganze Reihe bemerkenswerter Neubauten entstanden, darunter manche Entwürfe, die inzwischen mit Architekturpreisen ausgezeichnet wurden. Möglich wurde dies dank dem engen Zusammenwirken von Stadtplanung, Bauherren, Investoren und Architekten. «In Fulda hat sich jene offene Atmosphäre entwickelt, die gute Architektur zum Entstehen braucht», beschreibt Peter Sichau vom Büro Sichau und Walter die Bedingungen für den Architekturboom der Stadt. Mit ihren Fuldaer Projekten haben der 1960 geborene Peter Sichau und der ein Jahr ältere Hartmut Walter selbst dazu beigetragen, den Ruf der Stadt als attraktiver Architektur-Oase über Hessen hinaus zu fördern.

Steinerner Monolith

Dass sich gute Architektur nicht nur auf die grossen Bauaufgaben beschränken sollte, sondern gerade auch bei den vermeintlich unspektakulären Projekten unverzichtbar ist, verdeutlicht das neue Fuldaer Parkhaus von Sichau und Walter. Im dichten Takt folgen dort die Betonstelen aufeinander, entfachen einen gleichförmigen Rhythmus aus schmalen offenen und geschlossenen Flächen. Doch es ist ein Gleichklang ohne Monotonie, denn die Pfeilerfassade zeichnet zugleich sanfte Schwünge in den Stadtgrundriss. So entsteht eine Lebendigkeit, die sich auch am Material ablesen lässt. Je näher man der aufgerauten Betonoberfläche an der Vorderseite der Stelen kommt, desto deutlicher zeichnen sich die rötlichen Kieselsteine des Zuschlagstoffes ab. Wie eine grossformatige Plastik liegt das Parkhaus neben einem Rest der mittelalterlichen Stadtmauer: ein steinerner Monolith mit organisch geschwungenen Formen.

Vom Dach des Gebäudes bietet sich ein freier Blick über die Stadt, deren Silhouette bis heute vom Dom beherrscht wird. Zusammen mit dem Residenzschloss der Fürstäbte untermauert dieser Sakralbau den Ruf Fuldas als einer der bedeutenden Barockstädte Deutschlands, deren Wurzeln weit ins Mittelalter zurückreichen: 744 wurde Fulda durch Bonifatius, den «Apostel der Deutschen», gegründet, dessen Grab sich im Dom befindet.

Ganz ohne die Stars des internationalen Architekturgeschäfts ist es der rund 55 000 Einwohner zählenden Stadt gelungen, Architekturqualitäten zu entwickeln. Dabei wären die neusten Bauten mit dem Begriff des «Regionalismus» nur unzutreffend umschrieben, denn sie sind nicht durch eine einheitliche architektonische Gestaltung geprägt. Vielmehr zeichnet die meisten Projekte ein sensibles Einfühlungsvermögen für die jeweilige städtebauliche Situation aus, das mit einer hohen Qualität bei der Ausbildung des architektonischen Details einhergeht. Das führt zu ganz unterschiedlichen architektonischen Ausprägungen. Hinzu kommt, dass Fulda grossformatige Baukörper verträgt. Wird doch der überwiegend kleinteilig geschlossene Stadtgrundriss durch barocke Solitäre wie das Schloss, den Dom, aber auch die ehemalige Universität oder das einstige päpstliche Jesuitenseminar akzentuiert.

Kunstvolle Raumschichtung

Gleichwohl ist bei jedem Bau aufs Neue das richtige Mass zwischen Anspruch und Zurückhaltung gefragt, denn allzu übersteigerte Abmessungen und extravagante Formen würden das sensible Gleichgewicht des Ortes stören. Dem unterwirft sich auch das neue Archivgebäude des Bischöflichen Generalvikariats von Sichau und Walter, das unweit des Doms entstanden ist. Es ist ein strenger Kubus mit heller Kalksteinverkleidung, dessen Archivräume an den Hang gebaut wurden. Das unterschiedliche Höhenniveau des Geländes nutzten die Architekten souverän aus. Auf der Eingangsebene befinden sich neben einer kleinen Bibliothek die Arbeitsplätze für die Besucher. Darüber schliessen sich die Bereiche der Archivare an, deren Büros durch Glaswände voneinander getrennt sind. Schmale Lufträume sorgen dafür, dass beide Geschosse miteinander verschränkt werden. So entsteht eine kunstvolle Raumschichtung. Durch die Kalksteinlamellen, die eine Ecke des sonst geschlossenen Kubus auszeichnen, fällt der Blick auf das Tal der Fulda oder auf den Dom. So bleibt stets sichtbar, in welchen geschichtlichen und räumlichen Bezügen man sich im Archivgebäude bewegt.

Dem glatten Äusseren antworten im Inneren das raue Treppenhaus aus Sichtbeton sowie die unprätentiösen Archivgeschosse. Hinter dicken Betonwänden vor Klimaschwankungen geschützt, werden hier künftig die Archivalien aus Jahrhunderten lagern. An der Hangseite eignet dem Archivgebäude jedoch eine andere, fast monumentale Note. Wie ein kleiner Würfel thronen die beiden Obergeschosse auf einer mächtigen Stützmauer, hinter der sich die Archivräume verbergen. Eigentlich sollte hier der grossformatige Schriftzug «Die Ganzheit des Fragments» des Fuldaer Künstlers Franz Erhard Walther zur Reflexion einladen. Noch ist er nicht angebracht, zögert der Bauherr, das Kunstwerk zu verwirklichen. Das Bauen in der Provinz kann Freiräume eröffnen. Doch wo es nur eine kleine Zahl von Handelnden gibt, können diese Räume auch sehr schnell wieder eng werden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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