Bauwerk

Gasometer Simmering - Neubau und Revitalisierung
Coop Himmelb(l)au, Manfred Wehdorn, Wilhelm Holzbauer, Jean Nouvel - Wien (A) - 2001

Bilbao-Effekt in Wien

Angefangen hat alles 1997 in Bilbao. Dort stellte der amerikanische Stararchitekt Frank O. Gehry im Auftrag der baskischen Regierung für die Guggenheim-Stiftung eine phantastische Bauskulptur ans Nervión-Ufer.

1. Dezember 2001 - Roderick Hönig
Angefangen hat alles 1997 in Bilbao. Dort stellte der amerikanische Stararchitekt Frank O. Gehry im Auftrag der baskischen Regierung für die Guggenheim-Stiftung eine phantastische Bauskulptur ans Nervión-Ufer. Der schon fast unheimliche Besucherrekord im heute weltberühmten Museum (3,5 Millionen in den ersten drei Jahren) und der wirtschaftliche Erfolg (bis 2000 flossen Zusatzerträge von 500 Millionen Dollar in die rezessionsgebeutelte baskische Hauptstadt) führten dazu, dass man bald weltweit vom «Bilbao-Effekt» sprach. Der Begriff steht für die wirtschaftlich-kulturelle Initialzündung in einem heruntergekommenen Stadtquartier, bei der die Architektur eine führende Rolle spielt.

Nun hat die Sage von Bilbao Wien erreicht. Nicht weit von der Donau entfernt, wurde eines der wuchtigsten Architekturmonumente der österreichischen Hauptstadt - die vier prunkvollen Gas-Silos aus dem Jahre 1899 - im unwirtlichen Niemandsland des 11. Bezirks wiederbelebt. Doch im Gegensatz zu Bilbao sollte nicht Kultur diese Initialzündung auslösen, sondern Kommerz und Wohnen. Die vier im Volksmund Gasometer genannten Backsteinhüllen sind diesen Sommer als schriller Wohn-, Freizeit- und Shoppingpark wiedereröffnet worden.

Die Stadtväter hatten 1996 einen Investorenwettbewerb durchgeführt mit dem Ziel, die denkmalgeschützten Bauten einer wirtschaftlich selbsttragenden Nutzung zuzuführen. Unter anderem mit der Bereitschaft, insgesamt 2,3 Milliarden Schilling zu investieren, entschieden drei grosse Wiener Wohnbaugesellschaften - SEG, Gesiba und GPA - die Konkurrenz für sich. Gleichzeitig suchte man in einem zweiten Wettbewerb international bekannte Architekten, die dem ausserordentlichen Bauvorhaben ihren gestalterischen Stempel, gewissermassen die Marke, aufdrücken sollten. Den Standortfaktor Architektur garantierten Architectures Jean Nouvel aus Paris und Coop Himmelb(l)au aus Wien sowie die vor allem in Österreich bekannten Baumeister Wilhelm Holzbauer und Manfred Wehdorn. Jeder Architekt gestaltete einen Gasometer.

Obwohl vier Gestalter am Werk waren, gab es bei den Gasometern mit heute 615 Wohnungen, 11 000 Quadratmetern Büros, 15 000 Quadratmetern Archivfläche und einer 22 000 Quadratmeter grossen Shoppingmall, mit Studentenheim, Kindergarten und Veranstaltungshalle nur zwei Bebauungsstrategien: die Ring- und die Mittenhinein-Variante. Denn die Knacknuss eines kreisrunden Baukörpers ist die Führung des Lichts: Wie bringt man möglichst viel Tageslicht in eine 65 Meter hohe Backsteintonne mit einem Durchmesser von 72 Metern? Jean Nouvel, Coop Himmelb(l)au und Manfred Wehdorn entschlossen sich zur Ringbebauung. Sie passten einen bis zu elfgeschossigen Wohn- und Büroring in die Tonne und formten so ein grosses kreisförmiges Atrium. Bei Nouvel hat der neue Innenraum einen Durchmesser von 34 Metern.

Nur Wilhelm Holzbauer entschied sich für die Mittenhinein-Bebauung und setzte einen sternförmigen Baukörper mitten in die Tonne, der den Innenraum in drei grosszügige Gärten unterteilt und die Gasometerwand nicht berührt. Eine spektakuläre Abweichung von der Ringbebauung erlaubten sich Coop Himmelb(l)au: sie bauten zusätzlich ein von weitem sichtbares, 18-geschossiges Schild an die Nordseite ihres Gasometers. In den oberen Stockwerken finden sich Wohnungen und Büros, die über eine grosszügige, jedoch nach Norden orientierte Glasfassade mit Loggien belichtet werden.

Eine grundsätzliche Antwort auf die Lichtfrage geben alle, indem sie den unteren Geschossen der Gasometer Funktionen zuordneten, die fast oder ganz ohne Tageslicht auskommen: 856 Parkplätze, die Veranstaltungshalle für rund 3000 Besucher und vier kreisrunde Shoppingmalls, die mit Fussgängerbrücken verbunden sind. Erst darüber befinden sich die drei Bürogeschosse bzw. - im Gasometer von Coop Himmelb(l)au - das Studentenheim. Die sechs bis acht Wohngeschosse pro Gasometer beginnen erst auf einer Höhe von 30 Metern.

Am interessantesten hat Jean Nouvel die Lichtfrage gelöst. Er zerschnitt seine Ringbebauung in neun Segmente. Durch die Schlitze fällt viel Sonne in den Hof und in die Wohnungen und der Blick der Bewohner nach aussen. Die Seitenwände sind mit spiegelndem Chromstahl verkleidet, was zusätzlich Licht nach innen lenkt.

Schwieriger gestaltete sich bei der Ringbebauung die Erschliessung: Ungemütliche, dunkle Laubengänge zwischen der bestehenden Aussenhaut und der neuen Innenhaut führen alle zwei Stockwerke zu den Wohnungen. Von dort aus geht es entweder direkt in die kreissegmentförmigen oder über eine schmale Treppe in die darüberliegenden Wohnungen. Wenig Licht und neugierige Blicke machen jedoch alle direkt hinter dem Laubengang liegenden Wohnräume fast unbrauchbar. Trost spenden der Blick auf den spektakulären Innenhof und - von den grösseren, teilweise zweigeschossigen Wohnungen in den oberen Geschossen - die Sicht über die Simmeringer Peripherie.

Dass alle 615 Wohnungen zwei Monate nach Fertigstellung verkauft oder vermietet waren, kann nicht an der Wohnqualität liegen. Eher am Bilbao-Effekt, der sich an der Donau eingestellt und das Shoppingcenter zum quirligen samstäglichen Ausflugsziel der Wiener gemacht hat. Erzeugt haben diesen Effekt das Charisma der reaktivierten hundertjährigen Architekturikone, der gelungene Mix der Nutzungen, die hervorragenden Verkehrsverbindungen (die verlängerte U-Bahn-Linie bringt einen in acht Minuten zum Stephansdom, die Schnellbahn in wenigen Minuten zum Flughafen und die neue Nord-Ost-Tangente ohne Stau ins Umland) und die tiefen Preise der Wohnungen: Eine 3-Zimmer-Wohnung von Jean Nouvel mit 73 Quadratmetern Wohnfläche etwa kostete freifinanziert umgerechnet 170 000 Franken.

Wie in Bilbao haben sich auch bereits Folgeinvestitionen eingestellt: Der Architekt Rüdiger Lainer konnte gleich neben den vier Gasometern ein riesiges Multiplexkino mit 15 Sälen verwirklichen, und in unmittelbarer Nachbarschaft entstand ein grosses Bürohaus. Wenn die Kettenreaktion in dieser Geschwindigkeit weitergeht, wird das Hoffnungsgebiet der Wiener Stadtplanung innert weniger Jahre zur autark funktionierenden Gasometercity.

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