Bauwerk

„Muth“ - Konzertsaal der Wiener Sängerknaben
archipel architektur kommunikation - Wien (A) - 2012
„Muth“ - Konzertsaal der Wiener Sängerknaben, Foto: Rupert Steiner
„Muth“ - Konzertsaal der Wiener Sängerknaben, Foto: Rupert Steiner

Gegen die Wand

Ein schöner Saal, keine Frage. Aber wieso sieht das neue Musiktheater der Wiener Sängerknaben von außen aus wie ein Schiffsunglück?

7. Dezember 2012 - Christian Kühn
Man muss den Sängerknaben gratulieren. Ihr Traum ist wahr geworden: Am 9. Dezember eröffnen sie ein eigenes Musiktheater im Augarten, nur ein paar Gehminuten von ihrem Stammsitz, dem gleichnamigen Schloss, entfernt. Das neue Haus heißt „MuTh“, was für Musik und Theater steht, aber auch für „Mut zum Neuen“, den man bisher kaum mit den Sängerknaben verbunden hat.

Das ist kein Zufall. Die Sängerknaben haben sich in den letzten Jahren entwickelt, im Schulangebot und auch musikalisch. Das neue Haus, das vor allem junge Menschen für Musik begeistern soll, ist ein Botschafter für diese Modernisierung. Wer den Aufführungssaal betritt, findet eine Atmosphäre vor, die mit dem klassischen, irgendwo zwischen Mozartkugeln und Lipizzanern angesiedelten Image der Sängerknaben denkbar wenig zu tun hat. Der gut proportionierte, sehr intim wirkende Zuschauerraum fasst knapp über 400 Besucher. Er ist asymmetrisch aufgebaut, mit einem breit gelagerten Parterre und einer Galerie, die ein wenig an den Konzertsaal der Berliner Philharmonie von Hans Scharoun erinnert. Herzstück des Saals ist eine zwölf mal neun Meter große Bühne mit versenkbarem Orchestergraben, die den Raum sowohl für Konzerte als auch für Musiktheater und Theateraufführungen verwendbar macht.

Eine Täfelung aus kräftig gemasertem Nussholz zieht sich über die gefaltete Oberfläche von Wänden und Decken und vermittelt das Gefühl, im Bauch eines geheimnisvollen Musikinstruments zu sitzen. Tatsächlich haben Material und Faltungen ihre Gründe nicht nur in der architektonischen Idee eines dynamischen Raums, dem die Holzmaserung noch zusätzlich Tempo macht, sondern auch in akustischen Überlegungen. Im vorderen Teil der Decke verschwindet die Technik hinter einem Streckmetallgewebe aus goldgelb eloxiertem Aluminium, das den oberen Raumabschluss leicht und fast durchlässig wirken lässt. Seine akustische Bewährungsprobe hat der Raum in den ersten Tests zur vollen Zufriedenheit bestanden.

Ein guter Saal, keine Frage. Auch die Erschließungsräume, die ihn umgeben, sind hell und großzügig, und die Verbindungstreppen zur Galerie bieten attraktive Durchblicke und Ausblicke aus dem Gebäude.

Vom äußeren Erscheinungsbild des Hauses war bisher nicht die Rede. Mit gutem Grund. Denn so gelungen das Innere des MuTh in vielen Bereichen ist, sein Äußeres stürzt den Betrachter, der sich ihm von der U-Bahnstation Taborstraße nähert, in größte Verwirrung. Ist hier ein U-Boot von einem Tsunami angeschwemmt und von innen so fest gegen die Mauer des Augartens gedrückt worden, dass seine Stahlnähte aufgeplatzt sind? Oder hat sich der Boden unter einer Lagerhalle gesenkt, die dadurch schräg gegen das barocke Häuschen gefallen ist, das die Ecke des Augartens an dieser Stelle markiert?

Um zu verstehen, welche Kräfte hier am Werk waren, muss man weit in die Geschichte des Projekts zurückgehen. Im Jahr 2000 wird der Augarten unter Denkmalschutz gestellt. 2002 beschließt der Wiener Gemeinderat, für die Südostecke des Augartens anstelle der bestehenden Flächenwidmung, die einen viergeschoßigen Schulbau erlaubt hätte, eine Bebauung auf 30% der Fläche mit niedriger Bauhöhe zuzulassen. Das ist vom historischen Bestand her durchaus legitim, befanden sich hier doch bis in die 1970er-Jahre die ehemaligen Gesindehöfe des Palais. Als voraussichtlicher Nutzer sieht sich das in den erhaltenen, straßenseitigen Gesindetrakten untergebrachte Filmarchiv Austria. Ungefähr gleichzeitig melden die Sängerknaben Bedarf für eine neue Spielstätte an. Ab 2004 haben sie dafür auch einen Mäzen, die Pühringer Privatstiftung POK. Ein erster Entwurf für einen unterirdischen Saal vor dem Palais erweist sich als zu teuer. 2005 beauftragt die POK die Architekten Johannes Kraus und Michael Lawugger (archipel) mit dem Konzept eines Kulturforums auf einem ungenutzten Areal annähernd auf der Achse des Palais. Das Projekt, eine Art Landschaftsrelief, das an bestehende Erdwälle anschließt, soll als kulturelle Infrastruktur mit großzügigem Vorbereich gemeinsam von den Sängerknaben und dem Filmarchiv genutzt werden.

Im Februar 2006 diskutieren die beteiligten Institutionen unter Ausschluss der Öffentlichkeit zwei von archipel ausgearbeitete Alternativen: eine Weiterentwicklung des Kulturforums im Park und eine Variante am Augartenspitz, die den Saal in einen schmalen Streifen an der Parkmauer zwängt. Das Denkmalamt lehnt kategorisch jeden Neubau in der Tiefe des Parks ab. Dafür wird den Sängerknaben explizit zugesagt, am Augartenspitz ein Gesindehaus und die Mauer durch den Neubau ersetzen zu dürfen.

Als die Pläne der Öffentlichkeit vorgestellt werden, melden sich Bürgerinitiativen zu Wort, die unter dem Slogan „Der Augarten darf kein Baugarten werden“ alle Pläne verhindern wollen. Zu einem ersten Erfolg verhilft ihnen das Denkmalamt, das seine Zusage für das Schleifen von Gesindehaus und Mauer zurückzieht. Die Bürgerinitiative hofft, das Projekt damit buchstäblich an die Wand gefahren zu haben.

Doch archipel planen weiter. Das Barockhaus wird integriert, der Neubau hinter der Mauer versteckt. Der großzügige Eingang geht verloren, die Besucher müssen nun seitlich die Augartenmauer entlang, dann rechts durch ein Tor und betreten das MuTh durch einen Nebeneingang. Die von Anfang an problematischen Aspekte des Bauplatzes – zu niedrige Bauhöhe und fehlendes Vorfeld – machen sich noch deutlicher bemerkbar. Die Bauskulptur bäumt sich verzweifelt hinter der Mauer auf, und für die Fassade zum Augarten und die Integration des Gesindehauses bleibt den Architekten nur noch die Option „Augen zu und durch“.

Architekturkritik greift hier zu kurz. Die Schwächen dieses Hauses sind Schwächen einer Kultur, die sich zwanghaft ans Alte klammert und das Neue nur als notwendiges Übel akzeptieren kann. Dass es anders geht, haben etwa Next Enterprise mit ihrem Wolkenturm in Grafenegg bewiesen, der zur musikalischen Attraktion ersten Ranges geworden ist. Dort war es allerdings auch Teil der Wettbewerbsaufgabe für die Architekten, den besten Standort im Park zu finden.

Dem MuTh und seinem schönen Saal wünsche ich viel Erfolg. Aber ein echtes „Happy End“ dieser Geschichte hätte anders ausgesehen: ein Kulturforum im Park mit einem gestalteten grünen Vorfeld für Feste und Filmvorführungen, ein Kinderspielplatz am Augartenspitz und dazwischen ein öffentlicher Durchgang in den Park, den es – nicht zuletzt durch den Widerstand der Sängerknaben, ihren Park zu öffnen – nach wie vor an dieser Stelle nicht gibt.

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