Bauwerk

Apotheke „Zum Löwen von Aspern“
ARTEC Architekten - Wien (A) - 2003

Aspern leuchtet

BAUKASTEN Anmerkungen zur Architektur. Diesmal: eine Apotheke, die ein Durchhaus ist, eine Einfahrt, die ein Wirtshaus ist, und ein Stuhl, der ein Prisma ist.

12. Mai 2005 - Jan Tabor
Der Apotheker zum Löwen von Aspern, Dr. Wilhelm Schlagintweit, ist ein klassischer Gutmensch. Es reicht ihm nicht, bloß ein Pharmazeut zu sein, er will auch noch als Aufklärer wirken. Er hat sich eine Apotheke bauen lassen, die einzigartig ist. Eine Apotheke als Passage, als Think-Tank und Kleinkloster: ein Durchgang mit zwei Höfen zwischen zwei Straßen, mit zwei Feuermauern, zwei Ahornbäumen, einer Birke, einer Rosskastanie und einem Ginkgo. Auf einer vierzig Meter tiefen und 16 Meter breiten Parzelle in Wien-Aspern errichtete Artec (Bettina Götz und Richard Manahl) ein Bauwerk, das in vieler Hinsicht außergewöhnlich ist. Es fängt mit der einfühlsamen Integration ins Stadtbild an und endet mit der Konstruktion der Decke, dem Farbkonzept, den Designdetails (zum Beispiel der Schubladen ohne Griffe).

Wenn die Apotheke offen hat, dann ist sie wirklich offen: Man kann durchgehen, auch wenn man nichts braucht - von der stark frequentierten und lauten Groß-Enzersdorfer Straße in die stille Zachgasse. Man sieht hindurch, und man sieht fast überall hinein in das geradezu verschwenderisch großzügig bemessene Verkaufslokal, in das Labor, das Lager oder hinter die kurzen Theken, die wie Lesepulte aussehen. Der Kundenraum ist eine Halle, und die ist durch die in der Betondecke eingelassenen Lichtbänder gegliedert. Wenn offen ist, dann ist auch der Hinterhof offen, wo sich der Verkaufsstand eines Biobauern befindet.

Wenn die Apotheke zu ist, dann sind an der Vorderfront die hellgrünen Vorhänge zugezogen. Nachts leuchtet die Apotheke zum Löwen von Aspern wie ein Teich.

Auf der Rückseite hingegen wird nur das Rollgitter runtergelassen, sodass der Passant immer einen Blick ins Labor mit all seinen seltsamen Gerätschaften werfen kann. Die Arbeitswelt bleibt ein Teil des Straßenlebens. Die Rückseite ist übrigens vielfältiger und spannender als die Vorderfront, die aus einer zwischen Boden und einem riesigen Sichtbetonbalken gespannten Glaswand besteht. Die Schräge simuliert ein Satteldach. Auf der anderen Seite befindet sich ein fast identischer Fertigteilbalken. Die vor Ort gegossene Sichtbetondecke zwischen den beiden Balken kommt ohne Stützen aus - eine verblüffend einfache (also geniale) Konstruktion, die von Artec und ihrem Statiker Oskar Graf treffend als „fliegender Teppich“ bezeichnet wird.

Auf dem Flachdach der Apotheke befindet sich ein von unten nicht sichtbarer pavillonartiger Glasaufbau, in dem sich das Büro, der Aufenthaltsraum fürs Personal und der Ruheraum für den Nachtdienst befinden; darüber eine Dachterrasse und ein Kräutergarten, der nach dem Vorbild der einstigen klösterlichen Paradiesgärten angelegt wurde. Hierher pflegt der Apotheker an Heilpflanzen Interessierte einzuladen, Schulklassen etwa. Die Architektur ist wie der Apotheker zum Löwen von Aspern: außergewöhnlich.

Wiewohl das Lokal noch nicht ganz fertig scheint, sieht man bereits deutlich: Sein Erstlingswerk ist Norbert Sputnic geglückt. Man fragt sich nur: Ist dem Bauherrn die Geduld mit dem Architekten und dessen Sehnsucht nach zeitgemäßer architektonischer Kargheit gerissen, oder ist ihm das Baugeld ausgegangen; oder steckt hinter dem unvollendeten Erscheinen gar eine höhere baukünstlerische Absicht: die Fassade als objet trouvé, als Zeitzeugnis. Obwohl das Lokal keinen Namen zu tragen scheint, hat es angeblich doch einen: Einfahrt - wegen der Ein- und Ausfahrt in die Tiefgarage unterm Karmelitermarkt, die extrem blöd situiert und gestaltet ist, sodass aus dem neuen Lokal kein Ausblick über das Marktgelände möglich ist. Die Tiefgarage hat den einst legendär vitalen Markt derart lädiert, dass jetzt unter uns, den Bewohnern des zweiten Bezirks, das Gerücht kursiert, dass der Markt aufgelassen und bebaut werden soll. Die „Einfahrt“ nun wird von uns als frohe Botschaft genommen: Der Markt wird leben.

Die Fassade, in der ausgewiesene Ästhetikexperten wie Heimo Zobernig ein erhaltenswertes Kunstwerk erblicken, zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Spuren des Umbaues trägt. Der Verputz der bündig eingebauten Fenster und Türen blieb als weiße Flecken unangetastet. Die Reste der einst auf den hellerbsengrünen Grundanstrich gepinselten Aufschriften sind noch erkennbar: Die Großbuchstaben FO und ein wenig weiter RBKOPIEN erinnern daran, dass hier früher ein Kopiergeschäft war.

Neben der Tür ragt ein würfelförmiges Glasaquarium aus der Fassade, in dem aber keine Fische schwimmen, sondern eine Vase steckt. Das Lokal sei work in progress, erklärt der Architekt, zu dem Glaskästchen werde sich noch ein Treppe und ein Podest hinzugesellen, um einen Hochstand fürs Zuzweitsein zu schaffen. Das Ding soll „Beichtstuhl“ heißen.

Der längliche Innenraum ist leicht gekrümmt, was ihm eine cool zeitgemäße Note verleiht. Zur Toilette führt eine Rampe, die mit einem schweren Eisengeländer ein Gegengewicht zu den Theken bildet, die - wie auch die übrige Einrichtung - eine Möbelcollage sind. Die Decke dominieren dicke Lüftungsrohre, die ein wenig an den legendären Roten Engel erinnern, wie er seinerzeit von Coop Himmelb(l)au geschaffen wurde. Die auffällig hohen Rückenlehnen der harten Sitzbänke sind sowjetrot und dem Schleudersitz der MIG 29 nachgebildet. Die Farbe hat Gûnes ausgewählt, die zwölfjährige Tochter von August, dem Einfahrtswirt. Die altdeutsch plumpen und unbequemen Stühle sind der einzige Makel der Einfahrt.

Was ist ein Stuhl? Oskar Strnad, „der große Lehrer“ von Margarete Schütte-Lihotzky an der Kunstgewerbeschule in Wien, pflegte seine Studenten und seine einzige Studentin durch merkwürdig banale Fragen zum präzisen Denken anzuregen. Nach einigen verlegenen Antworten, unter denen sich „ein Mensch, der noch nie einen Stuhl gesehen hat, nichts vorstellen kann“, antwortete er: „Ein Stuhl ist ein Prisma in der Höhe der Unterschenkel.“

Margarete Schütte-Lihotzky (1897- 2000), war die erste und die erste international erfolgreiche Architektin in Österreich. Sie lebte lange und schrieb auch lange an ihren Erinnerungen. Nun wurden diese von Karin Zogmayer aus dem Nachlass im Archiv der Universität für angewandte Kunst geholt, redigiert und im Residenz Verlag herausgegeben.1 Am Anfang, unter einem jugendlichen Porträtfoto der Architektin, befindet sich ein Zitat: „(...) im Übrigen habe ich immer sehr ungern geschrieben und wollte immer nur bauen“. Das, was sie doch geschrieben hat, ist nicht viel, dafür aber höchst interessant.

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