Veranstaltung

Cul zuffel e l’aura dado
Ausstellung
16. April 2005 bis 26. Juni 2005
kunst Meran
Laubengasse Nr. 163
I - 39012 Meran


Veranstalter:in: kunst Meran

Alpiner Urbanismus

In Meran werden Gion A. Caminadas architektonische Visionen für Vrin diskutiert

3. Juni 2005 - Roman Hollenstein
Die Schweiz ist ein Land, das immer mehr verstädtert. Gleichwohl waren es bis anhin weniger die Zentren als vielmehr die Randgebiete, die hierzulande den Architekturdiskurs belebten. Zwar kann Zürich zahlreiche neue Wohnanlagen und sogar ein Stadthotel von hoher Qualität vorweisen, doch auf Leitbauten von der Bedeutung des Luzerner KKL wartet man hier lange schon vergeblich und verfolgt deshalb umso gespannter den Wettbewerb für ein Kongresszentrum am See. Einzig in Basel, wo rund um den Bahnhof SBB eine urbane Architekturlandschaft und auf dem Novartis-Areal ein Forschungs-Campus entstehen, plant man grossstädtisch. Als ländlich- alpines Äquivalent zur Rheinstadt könnte man Vrin in der Val Lumnezia bezeichnen, ein fast 1500 Meter über Meer gelegenes 300-Seelen- Dorf, das dank seiner Architekturpolitik über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist.

Modellfall Vrin

Im Gegensatz etwa zum Ferienort Vals, welcher mit der von Peter Zumthor realisierten Therme auf Architekturtourismus setzt, verstand man es in Vrin - ausgehend von einer Melioration und der zur Pflicht erhobenen Bauberatung -, die alten bäuerlichen Strukturen zu erhalten. Über den Modellfall Vrin und dessen überregionale Bedeutung bezüglich Raumplanung, ganzheitlicher Landwirtschaft und Baugesetzgebung ist viel geschrieben worden, seit das Dorf 1998 mit dem Wakker-Preis des Schweizer Heimatschutzes und 2004 mit dem Arge-Alp-Preis ausgezeichnet wurde. Eine zentrale Rolle bei der Renaissance des Dorfes spielte der 1957 in Vrin geborene Architekt Gion A. Caminada. Als Dorfplaner formulierte er - ausgehend von sozioökonomischer Grundlagenforschung und in Zusammenarbeit mit Gemeindevertretern - die Voraussetzungen für das Bauen innerhalb des Dorfkerns, das er (ähnlich wie Snozzi in Monte Carasso) als gesellschaftsbezogenen Akt versteht.

Auf dieser Basis sind seit den neunziger Jahren in Vrin mehrere Meisterwerke des zeitgenössischen Holzbaus entstanden, die Caminada ganz aus dem Ort, seiner Kultur, Architektur, Sozialstruktur und Wirtschaft herleitete und die sich ins Dorfbild einfügen, als seien sie schon immer da gewesen. Denn Caminada geht es weder um baukünstlerische Selbstinszenierung noch um rückwärts gewandte Anbiederung. Vielmehr werden seine Interventionen, die in Vrin von der Scheune über das Wohnhaus und die Mehrzweckhalle bis zum Totenhaus reichen, durch Kargheit und konstruktive Sorgfalt bestimmt. So entwickelte Caminada für die Ställe die traditionelle Bohlenkonstruktion weiter und kreierte ein vorfabriziertes Rahmensystem, mit dem sich zeitgenössische Strickbauten realisieren lassen, die innen mit Spanplatten verkleidet, aussen aber mit Latten verschalt sind.

Präzise unterhalb des Dorfzentrums in der Landschaft aufgereiht sind die beiden Ställe und die genossenschaftliche Mazlaria (Metzgerei). Während sie sich mit ihren Pultdächern sanft in den Hang schmiegen, treten ihre Fassaden bildhaft in Erscheinung. Städtischer wirkt die durch ein langes Bandfenster akzentuierte Mehrzweckhalle, die - als Zentrum des Gemeindelebens - unterhalb des Schulhauses an die Hangkante gesetzt ist. Ihr weiter Innenraum wurde dank einer von Jürg Conzett erfundenen Binderkonstruktion möglich, die von Robert Maillarts Magazzini Generali in Chiasso angeregt wurde, aber auch an japanische Tempel gemahnt. Das von Caminada bewusst als Ort der Begegnung gestaltete Totenhaus schliesslich ist in seinem Inneren als rötlich schimmernde Raumskulptur konzipiert. Aussen aber ist der Holzbau weiss gekalkt, um ihn optisch der steinernen Barockkirche anzunähern. Eine archiskulpturale Lösung fand Caminada auch für das als begehbares Kunstobjekt ausgeformte Treppenhaus des Mädcheninternats in Disentis. Der kubische Aussenbau hingegen ist exakt eingepasst in das urbanistische Gefüge unterhalb der monumentalen Klosteranlage. Hier, im städtisch angehauchten Disentis, wechselte Caminada ganz selbstverständlich vom ländlichen Holz zum urbaneren Beton und Putz.

Der längst auch ausserhalb Graubündens lehrende und arbeitende Caminada hat kürzlich mit seinen «Thesen zur Stärkung der Peripherie» skizziert, dass die Alpenregion den urbanen Zentren durchaus noch Impulse (von der Baukunst bis zur Identitätsfindung) geben kann. Es wäre deshalb wünschbar, dass seine aus der Analyse des Ortes hergeleitete Architektur nicht nur in Bergdörfern, die durch architektonischen Wildwuchs bedroht sind, sondern auch im städtischen Raum vermehrt als vorbildlich anerkannt würde.

Meraner Retrospektive

Bereits geschehen ist dies im benachbarten Südtirol. Dort hat das Ausstellungshaus Kunst Meran eine erhellende Schau zusammengestellt, die Caminadas bisheriges Schaffen mittels Plänen, Modellen und suggestiver Fotos von Lucia Degonda fassbar macht und im umfassenden Katalogbuch theoretisch vertieft. Damit führt das initiative Zentrum, das sich ganz der Gegenwartskultur widmet, seinen Architekturzyklus fort, in welchem bereits der Schweizer Jürg Conzett zum Zuge kam. Caminadas Werk macht sich hier gut, denn das in einem von den Meraner Architekten Höller & Klotzner umgebauten Altstadthaus untergebrachte Museum darf selbst als Beispiel eines sorgsamen Umgangs mit dem baulichen Bestand gelten. Damit kündet dieser Bau im Etschtal, das ähnlich wie die Schweiz auf die Probleme der Zersiedelung einer prachtvollen Natur umweltverträgliche Antworten finden muss, einen leisen architektonischen Aufbruch an.

Bis 26. Juni im Kunsthaus Kunst Meran (Lauben 163). Katalog: Gion Caminada. Hrsg. Bettina Schlorhaufer. Quart-Verlag, Luzern 2005. 193 S., Fr. 78.- (Euro 49.- in der Ausstellung).

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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