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Indischer Inselurbanismus
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Indigene Moderne

22. November 2007 - Jyoti Hosagrahar
Keiner wird bezweifeln, dass sich Indien auf eine rasante Entwicklung und Modernisierung eingelassen hat. Die Städte agieren in der ersten Reihe, wenn es um Modernität und Globalisierung geht. Aber kann man Indiens Architektur und Städtebau eigentlich schon „modern“ nennen oder ist Indien bis heute nur auf dem Weg dorthin? Ich kann diese Frage nicht stellen, ohne zuvor zu definieren, was „modern“ bedeutet, was ganz allgemein darunter verstanden wird. Was „modern“ oder „die Moderne“ in Indien bedeuten, lässt sich nicht sagen, ohne auf die Interpretationen des westlichen Europas und Nordamerikas zurückzugreifen, und darin liegt unsere Crux.

Manche glauben, dass die Wolkenkratzer aus Glas und Stahl in den Finanzzentren der Welt, dass die multinationalen Konzerne in den Sonderwirtschaftszonen, dass die exorbitanten Shopping Malls und die sich rasch verbreitenden Gates Communities untrügliche Zeichen seien für eine globalisierte Moderne. Jenseits dieser einprägsamen Bilder gibt es aber auch noch eine ganze Reihe von Formen der Moderne im „transitorischen Zustand“, worin die Moderne avisiert wird, aber noch nicht wirklich präsent ist.

Ich denke an den Städtebau in Indien, der voller Probleme steckt und dessen Kennzeichen die Armut ist: ungezügeltes Wachstum, unzureichende Infrastruktur und ärmliche illegale Siedlungen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet aber repräsentieren gerade diese Städte mit ihren brodelnden Basaren, ihren traditionellen Quartieren und ihren historischen Stadtkernen die reinste Form des exotisch Anderen, des „Non-West“. Da sie anscheinend von der Globalisierung unberührt blieben, feiert man sie als Symbole für indische Kultur und den unberührten „Geist des Ortes“, und es gibt viele, die den Einbruch der Moderne als Übel deuten.

In Indien vermischen die sonst so sauber getrennten Kategorien von „modern“ und „traditionell“, von „westlich“ und „nicht-westlich.“ Das betrifft die Architektur wie die Gesellschaft. Wie sollen wir die ambivalente Modernität der gebauten Umwelt verstehen? Ist die Fragmentierung ein Zeichen für die mangelnde Durchsetzungskraft der Moderne, gar ihr Scheitern, oder für die allmähliche Auflösung der Tradition?[1] Ich werde am Beispiel von zwei Orten zu klären versuchen, wie sich die Annäherung an Moderne und Globalisierung vollzogen hat. Doch das wirft mich noch einmal auf die Frage zurück, wie „Moderne“ und „Tradition“ in der gebauten Umwelt zu definieren sind und wer über solche Definitionen bestimmt.

Die Denker der Aufklärung in Westeuropa haben etwas in Gang gesetzt, das Jürgen Habermas das „Projekt der Moderne“ nennt.[2] Zu dessen Eckdaten gehören: das Primat der Wissenschaften über die Natur, die Rationalität des Denkens, die Organisation von Gesellschaft und Raum, wodurch man sich von Mythos, Aberglauben und Religion befreien will.[3] Aus der Moderne als globalem Projekt gingen als erstes die Kolonialisierungen von Asien und Afrika hervor. Die europäischen Herrscher beanspruchten ein Hoheitsrecht auf die Moderne, sie gaben ihre Bedeutung vor und legten ihre Formen fest. Die Definition bestand in einem Widerspruchspaar: Was „modern“ war, war „nicht traditionell.“ Innerhalb dieses binären Schemas wurden die, die weder das eine noch das andere repräsentierten, ganz einfach zu Kräften erklärt, die dabei waren, sich zu modernisieren, wobei das Ziel von vornherein vorgegeben war. Sie hatten gar keine Wahl. Zu Traditionalisten gestempelt, konnten sie moderne Formen nur noch anstreben, adoptieren oder imitieren. Doch haben sie das Projekt des Übergangs nie vollendet, nie sind sie so „modern“ geworden wie das Original.[4]
Ich führe hier den Terminus „indigene Moderne“ ein, um die paradoxen Erscheinungsformen jener Modernitäten zu beschreiben, die anderen Vorgaben folgen als dem universellen Paradigma, das auf einer Idealvorstellung des Westens von sich selbst beruht.[5] Wenn eine scheinbar einheitliche traditionelle Bauweise anfängt sich aufzulösen, wird die indigene Moderne sichtbar, und zwar in Abweichungen oder unerwarteten Lösungen. Bei der Anwendung universeller Gesetzmäßigkeiten auf einen ganz bestimmten Ort vermittelt die „indigene Modernität“ zwischen der historischen wie regionalen Einmaligkeit des Ortes und den Universalien Wissenschaft, Vernunft und Befreiung. Indem ich das Wort „indigen“ benutze, lege ich die Betonung auf Ort und Kontext und meine mit Moderne immer deren regionale formale Interpretation. Anders als das rigide Gegensatzpaar mit seinen monolithischen Blöcken „traditionell“ und „modern“ setzt die indigene Moderne auf Gleichzeitigkeit und Austausch. Die Kategorien vernetzen sich, die Eigenschaften greifen ineinander, keines ist mehr das eine oder das andere. Das räumliche Experiment mit indigenen Modernitäten erzeugt formale Widersprüche und stellt keine einfachen Zusammenhänge her, denn beide, das moderne wie das traditionelle Vokabular bleiben, wenn auch unvollständig, bestehen.

Zwei Vignetten

Gurgaon
In den vergangenen zehn Jahren ist Gurgaon, ein Mega-Gewerbepark und Standort der DLF City, zu einem bedeutenden Zentrum globaler Netzwerke geworden (siehe auch den Beitrag von Reinhold Martin, S. xx in diesem Heft). Die Grundstücksgesellschaft „Delhi Land and Finance“ (DLF) hat hier eine der größten privaten Wohnsiedlungen in ganz Asien gebaut. Diese Welt, aus glitzernden Shopping Malls, spiegelnden Bürotürmen und Luxuswohnungen in mehrgeschossigen Gated Communities, erscheint vielen Kommentatoren als Symbol für den Einzug der Moderne in Indien.
Die Apartmenthäuser von Gurgaon sind, wie die Bürotürme, die Malls, die Schulen, die Krankenhäuser und die Golfplätze, alle umzäunt und gesichert und liegen weit auseinander. In die Zwischenräume schieben sich die Siedlungen der Bewohner der Dörfer ringsum. Deren Entwicklung stößt überall an die Grenzen dieser neuen Welt, die den Dorfbewohnern Äcker genommen hat und innerhalb derer ganz andere Flächennutzungen und Eigentumsverhältnisse gelten.[6] Gemüseverkäufer und fliegende Händler (mit Stofftieren, Moskitonetzen, Zeitschriften und anderem Krimskrams) etablieren sich an Bushaltestellen und Straßenkreuzungen, sie definieren so etwas wie öffentlichen Raum, der allerdings von ganz anderer Art ist als der, den die Shopping Malls offerieren.
Das Bild des neuen Gurgaon ignoriert ganz offensichtlich Ort und Tradition. Dennoch gibt es im historischen Rückblick bei der Entwicklung von DLF City zu dieser globalen modernen Stadtlandschaft eine komplizierte Verflechtung mit Gurgaons besonderer institutioneller und sozialer Struktur. Durch den Delhi Development Act von 1957 wurde Stadtentwicklung zum Staatsmonopol und sollte eigentlich dazu dienen, Spekulationen durch private Entwicklungsträger zu verhindern.
Nun gab es aber einen Mann namens K.P. Singh von der DLF, der in Neu Delhi aus dem Geschäft gedrängt worden war. Er begann, in Gurgaon Land aufzukaufen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als es noch weitgehend landwirtschaftlich genutzt wurde. Die Eigentumsverhältnisse waren kompliziert, wegen der patriarchalischen Struktur und des daraus folgenden Erbrechts, so dass es manchmal für eine Farm von nur wenigen Hektar verschiedene Eigentümer gab, die sich untereinander einigen mussten. Außerdem gab es kein „modernes“ Bankensystem, das Kredite für Entwicklungsmaßnahmen bereitgestellt hätte. Singh musste sich also auf überlieferte Tugenden verlassen, auf das soziale Kapital und den guten Willen der Menschen, und er musste persönlich haften.[7] Am Ende haben die DLF und andere private Bauträger das riesige Bauprojekt ohne allzu viele Planungsvorgaben begonnen und seine Entwicklung den Gesetzen des Marktes überlassen.[8]

Srirangapatna
Srirangapatna ist eine kleine Stadt zwischen Bengaluru und Maisuru. Gegründet im 9. Jahrhundert als Tempelstadt wuchs sie über die Jahrhunderte zuerst zur befestigten Hauptstadt des Königreichs Vijayanagar heran und wurde später zur britischen Garnisonstadt.[9] Doch der von den Engländern verursachte, dramatische kulturelle Umbruch im 19. Jahrhundert machte aus ihr keine Handelsstadt, keine Industriestadt und auch keine Verwaltungsstadt. Ganz im Gegenteil: Srirangapatna fiel dem Vergessen anheim.
Wenn man heute die gewundenen Straßen entlanggeht, die auf beiden Seiten von mehr als hundert Jahre alten Häusern gesäumt werden, könnte man meinen, hier sei ein Ort, den die Moderne einfach übersehen hat. Der räumliche Zusammenhang, wie ihn Religion und Kastenwesen vorgaben, ist an vielen Plätzen noch spürbar, die ältesten Gehöfte sind die der Brahmanenpriester nahe dem Tempel.[10] Alles unterstreicht den Eindruck einer stehen gebliebenen Zeit: die gepflasterten und ungepflasterten Straßen, die ein- und zweistöckigen Häuser, die weiß getünchten Ziegelwände, die Dächer mit ihren handgefertigten Terracottaziegeln, die hölzernen Säulen und Konsolen mit ihren Schnitzereien. Wer darauf aus ist, Formen zu entdecken, die der europäischen Moderne verwandt sind, muss Srirangapatna – im Gegensatz zu der globalen Moderne in Gurgaon – als exotisches Relikt wahrnehmen.
Und doch wird das vollkommene Bild inzwischen gestört: von Sendemasten, von Brücken, von Häusern aus Beton mit flachen Dächern und von den zahlreichen neuen Luxusanwesen nahe dem Flussufer. Die Bezirksverwaltung drängt auf vereinfachte Administration und hat begonnen, Wasserleitungen zu verlegen. Einer der Bürger von Srirangapatna, Krishna Prasad, besaß einst einen Familienwohnsitz, doch seit die alten Familienstrukturen auf kleine Kernfamilien zusammengeschrumpft sind, hat man auch seinen Besitz aufgeteilt. Was ihm blieb, ist eine Zweizimmerwohnung mit Dachspeicher.[11] Inzwischen gibt es auch die traditionellen Handwerker nicht mehr, wer früher auf dem Feld gearbeitet hat, sitzt jetzt meist auf einem Bürostuhl in Manya, Maisuru oder Bengaluru.
Einige Hotelketten, die sich schon Grundstücke am Ufer reserviert haben, weil sie den Blick auf die Palmenhaine und den heiligen Fluss Kaveri vermarkten wollen, verhandeln jetzt über die „Ghats“, die Stufen und Plattformen im Wasser, auf denen die rituellen Waschungen vollzogen werden.

Ambivalente Modernitäten

Beide Orte – der eine offensichtlich global und modern, der andere lokal verortet und traditionell – sind, das können wir feststellen, nicht eindeutig dies oder das. Während wir in Gurgaon den selbstbewussten Drang erleben, sich mit identifizierbaren Bildern einer universellen Moderne auszustatten, die aus dem Westen kommt, sehen wir in Srirangapatna zu, wie die einstige Raumordnung durch das Eindringen der Moderne erschüttert wird. Alte Formen werden durch neue Ansprüche umgedeutet und fremde Elemente mischen das vertraute Bild auf.
Kulturell mag man das Gegensatzpaar „modern“ und „traditionell“ aufrechterhalten, in die gebaute Form ist weder das eine noch das andere eingeschrieben. Deshalb ist jede Modernität „indigen“ und jede ihrer Ausdrucksformen gleichermaßen gültig. Wenn man beobachtet, wie die Moderne anderswo aussieht, wird einem plötzlich klar wie sich bestimmte Bauformen oder auch Formen des Zusammenlebens, in ein anderes kulturelles Milieu übertragen, verändern. Erkennen wir doch die Pluralität der Modernitäten an, durch die sich ihre vielen verschiedenen Interpretationen legitimieren. Dann erst könnten wir endlich aufhören, einer universellen Moderne nachzujagen oder sie zu verteufeln, und es wäre endlich auch Schluss mit der Romantisierung eines wirklichen oder nur erträumten Traditionalismus. Wenn das eine nicht vollen Herzens akzeptiert und das andere nicht vehement abgelehnt wird, verschmelzen Moderne und Traditionalismus, obwohl objektiv getrennt, zu indigenen Modernitäten.[12]
Was die indische Architektur oder den indischen Städtebau als „modern“ ausweist, ist nicht die Anwendung globaler Planungsstrategien oder anerkannter Formen. Auch ist die gebaute Umwelt in Indien nicht in Mythen und Traditionen erstarrt, die nur auf Modernisierung warten. Ich wehre mich gegen solche linearen Schlussfolgerungen. Stattdessen schlage ich vor, dass wir die Schwierigkeiten beim Übersetzen der Moderne und die Ambivalenz indischer Städte einfach als Reflektion der unzähligen Interpretationen einer indigenen Moderne verstehen. Wenn der Lauf der Moderne sich als konstanter Zyklus von Zerstörung, Aufbau und (auch) Tradition erweist, offen für Anpassung und Veränderung, dann ist eins mit dem anderen untrennbar verbunden. Das beunruhigende Konzept indigener Modernität enthält die Möglichkeit, die Vergangenheit in eine Moderne hinüberzuretten, deren Entwicklungsrichtung wir in einer postkolonialen Zukunft besser verstehen werden und besser lenken können.

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