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TEC21 2008|03-04
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TEC21 2008|03-04
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Weitblick in Solothurn

Die Prämissen sind so naheliegend wie der Lösungsansatz weitsichtig: Mit der Westtangente bekommt Solothurn am 8. August 2008 die Erschliessung des 25 Hektaren grossen Gebiets Obach - Mutten - Ober- und Unterhof.

21. Januar 2008 - Rahel Hartmann Schweizer
Das Rüstzeug für die Planung holte sich die Stadt per Wettbewerb. Das siegreiche Team besann sich auf das Repertoire der Natur. Solothurn trug sich während 25 Jahren mit dem Gedanken, den Verkehr von der Innenstadt nach Westen zu verlagern, und legte 1972 ein erstes Projekt für eine Westtangente öffentlich auf. Nun ist die «Entlastung West», welche die kantonale Hauptstrasse H5 mit dem Autobahnanschluss Solothurn West verbindet und 20 000 Fahrten pro Tag bewältigen soll, im Bau; die Eröffnung ist am 8. August 2008 geplant – drei Jahre nach dem Spatenstich. Die zweispurige Strasse überquert (von Norden nach Süden) die Bahntrassen der BLS-Strecke nach Moutier sowie der Jurasüdfusslinie der SBB, wird auf einer Länge von 520 m in dem im Tagbau erstellten Tunnel «Gibelin» geführt und überquert die Aare auf einer 400 m langen, im Freivorbau erstellten Spannbetonstrassenbrücke. Ergänzend zur Flussquerung für den motorisierten Verkehr bekommt der Langsamverkehr eine neue Verbindung auf die Aare- Südseite, einen als seilverspannten, Jawerth’schen Balken ausgebildeten Steg.

Aus der Reserve gelockt

Solothurn prognostiziert zwar weder einen Bevölkerungswachstumsschub noch eine eklatante Steigerung der Beschäftigungszahlen. Doch erhöht die mit dem Bau der Tangenteeinhergehende Erschliessung der Quartiere Obach / Mutten / Ober- und Unterhof die Attraktivität des gegenwärtig im Zonenplan noch als «Reservezone ohne vorgegebene Nutzung » deklarierten Gebiets.

Um die potenzielle Attraktivitätssteigerung des von der Strasse erschlossenen Gebiets nicht planlos dem Investorendruck auszusetzen und um ein Instrumentarium an die Hand zu bekommen, das es ermöglicht, ein Quartier zu schaffen, «das in sich funktionsfähig und gleichzeitig gut an die Weststadt und das Stadtzentrum angebunden ist», lancierte die Stadt Anfang Mai 2006 einen offenen Planungswettbewerb mit nachfolgendem Studienauftrag. Im September 2006 empfahl die Jury vier Teams zur Weiterbearbeitung1, und im Mai 2007 erkor sie das Projekt «Weitblick» zum Sieger.

Natur als Metronom

Das Planungsteam (agps. architecture, Zürich; Graf Stampfl i Jenni Architekten, Solothurn; Gadient Landschaftsarchitektur, Zürich; Enz und Partner, Verkehrsplaner, Zürich; Zeugin Gölker Immobilienstrategien, Zürich) nahm die zurückhaltend zu bewertenden Entwicklungsperspektiven und den nur bescheidenen Siedlungsdruck zum Ausgangspunkt seines Projekts und postulierte «Langsamkeit als Chance». Es rollte das Gebiet von der Landschaft her auf, deren langfristiger Wachstumszyklus als Metronom der Entwicklung figuriert.

Noch wird das Terrain, das sich zwischen der Aare im Süden, der Rossallmend im Norden, der Landschaftschutzzone «Witi» im Westen und der Altstadt im Osten aufspannt, mehrheitlich landwirtschaftlich genutzt; es ist aber von einer sehr heterogenen Bebauung umgeben. Nur im Westen wird es von einer einheitlichen grossfl ächigen Struktur begrenzt, der erwähnten Landschaftschutzzone «Witi». Im Süden, wo sich der Perimeter bis fast ans Ufer der Aare erstreckt, befi ndet sich die Badeanstalt. Im Osten begrenzen es die Fabrikbauten der auf dem Gebiet der Schliesstechnik tätigen Firma Glutz-Blotzheim mit der Gründervilla der Fabrikanten, sekundiert schule Brühlstrasse, die drei Wohnhochhäuser «Sonnenpark» (Bild 2) – Torsos einer Planung der 1960er-Jahre –, Bauernhöfe und Obstgartensiedlungen vervollständigen das Arsenal des städtebaulichen Baumusterkatalogs.

agps.architecture und ihre Partner hatten also drei Prämissen: ein mit 25 Hektaren verhältnismässig grosses Gebiet, einen angesichts des mässigen Siedlungsdrucks langfristigen Planungshorizont sowie ein städtebaulich heterogenes Umfeld, das es zu bändigen bzw. mittels einer starken Identität in die Vermittlerfunktion zwischen Altstadt und Landschaftsschutzzone «Witi» einzubinden galt.

«Zwei Prinzipien durchdringen sich»

Um allen drei Vorgaben gerecht zu werden, legte das Team einen Raster über das Gebiet. Dieses besteht aus von Norden nach Süden verlaufenden, je nach Strassentyp doppelt, drei- oder vierfach geführten Alleen und aus Blickachsen, die in West-Ost-Richtung orientiert sind. Die so gebildeten Raumkammern werden ergänzt um den als Parklandschaft gestalteten Segetzhain. Die Reduktion auf drei prägnante Elemente ergibt eine ebenso starke wie flexible Struktur, innerhalb deren grösstmögliche Freiheit herrscht (Bilder 1 und 3). Die Alleen rekapitulieren die Auenwaldvegetation, wie sie entlang der Entwässerungsgräben der «Witi» charakteristisch ist – aber nicht nur formal. Da der Grundwasserspiegel auch im Bereich des Planungsperimeters hoch ist, sollen die Alleen mit einem gemischten Baumbestand aus Arten bestückt werden, die zumindest teilweise für eine Aue typisch, gleichzeitig aber robust genug sind, um zivilisatorischen Einfl üssen – etwa dem Salzstreuen im Winter – standzuhalten: Stieleichen, Birken, Spitzahorn, Weidenarten, Espen, Erlen und Schwarzpappeln. Der gemischte Baumbestand macht die Allee ausserdem resistent. Wird eine Pflanzenart von einer Krankheit befallen, kann sie eliminiert werden, ohne dass der Alleecharakter verlustig ginge, wie das etwa bei Kastanienalleen geschieht, wenn sich die Miniermotte einnistet. Insbesondere entlang des Brühlgrabens, der nach wie vor der Entwässerung dient, sind die Alleen auch eine Reaktion auf den mäandernden Obach, wirken wie die gestreckte Variante des von Gehölzstreifen flankierten Fliessgewässers. Die Ordnung der streng aneinandergereihten Bäume wird kombiniert mit dem «Wildwuchs» der unterschiedlichen Baumarten, die in Dimension und Gestalt variieren. Man ist versucht, an Max Bills Diktum zu denken: «zwei prinzipien durchdringen sich, das der gewaltigen naturkraft, das der ordnenden struktur.»[2]

Greift also in Nord-Süd-Richtung der Landschaftscharakter der «Witi» in das Planungsgebiet hinein, gewährleisten die Blickachsen in West-Ost-Richtung die Anbindung an die Altstadt – verstärkt noch durch den ebenfalls westöstlich verlaufenden Segetzhain. Dieser wird zunächst sehr dicht bepfl anzt, um bald den prägenden Charakter eines Grünraums zu erzielen. Mit zunehmendem Alter – Höhen- und Breitenentwicklung der Bäume – wird der Bestand ausgelichtet, sodass aus dem Hain ein Stadtpark entsteht, der sich auch gegen eine hohe Bebauung behaupten kann.

Prozesshaft

Bestand ursprünglich die Idee, die Blickachsen à la Gänsefuss (dreistrahlige Allee) zu bündeln und alle auf die Kathedrale St. Ursern zu fokussieren, schien den Projektbeteiligten diese Idee dann doch zu barock, und sie beschlossen, drei weitere Silhouettenpunkte – die reformierte Kirche, den Landiturm und den Krummen Turm – ins Blickfeld zu nehmen (Bilder 13–19). Obwohl zwei differierende Gestaltungselemente, sind Blickräume und Alleen aufeinander bezogen. Die Blickräume werden von den Alleen gerahmt, die ihrerseits unterschiedliche Bilder generieren: In Nord-Süd-Richtung dominiert der Eindruck einer klassischen Allee, in West-Ost-Richtung der einer in die Tiefe gestaffelten Baumkulisse. Aber sie sind nicht nur visuell mitienander verzahnt. Auch die Blickräume nehmen das Thema des hohen Grundwasserspiegels auf, indem sie es in einem Netz aus Retentionsfl ächen an der Oberfl äche sichtbar machen. Ebenso wie die prägnante Struktur adaptiert die Prozesshaftigkeit des Ansatzes die noch ungewisse Geschwindigkeit der Bebauung. Landschaft entsteht in langen Zeiträumen, manche Pflanzenarten wachsen schnell, andere benötigen Jahrzehnte. Entsprechend hat das Team die mögliche Entwicklung über einen Zeitraum von rund 50 Jahren dargestellt (Bilder 6–8).der Klinik Obach. Das Stadion, die PrimarDie landschaftsarchitektonische Struktur erlaubt es, nur wenige Regeln für die Bebauung vorzugeben. So schlagen die Projektierenden vor, das Gebiet in einen Wohnbereich nördlich des Segetzhains und eine Arbeitszone südlich davon zu gliedern, wobei sie die Arbeitszone in eine «Mischzone» (Arbeiten und Wohnen) und «Zone Gla» (ausschliesslich Arbeiten) unterteilen (Bild 5). Die nicht überbauten Felder können je nach Bedarf landwirtschaftlich genutzt werden, brachliegen oder temporären Nutzungen dienen (Streuobstwiese, Privatgarten, Festwiese, Ruheraum, Felder, Sportfläche, Brache, Parkplatz).

Stabiles Gefäss

Die hohe Flexibilität, die sich innerhalb der durch Alleen und Blickräume definierten Raumkammern ergibt, spiegelt sich in dem in Bild 4 dargestellten Variantenreichtum der möglichen Bebauung (von «Wohnen Klein» bis «Wohnen zur Landschaft»). Kleinteilige Bebauungen erträgt «Weitblick» ebenso wie grossmassstäbliche. Entsprechend der allmäh lichen Entwicklung sehen die Projektierenden auch den Ausbau des öffentlichen Bus verkehrs, dessen Linienführungen dem Grad der Überbauung angepasst werden sollen. Während der motorisierte Individualverkehr auf den orthogonalen Achsen der neuen Umfahrungsstrasse (Westtangente) und je einen westlich und östlich dazu geführten Strassen«bügel» konzentriert werden soll, wollen die Planer Fussgängern und Velofahrerinnen ein dichtes Netz an tangentialen und radialen Verbindungen zur Verfügung stellen, um sie möglichst wenig mit dem motorisierten Verkehr zu konfrontieren.

Gegenwärtig laufen die Arbeiten daran, das Projekt in einen Masterplan überzuführen und Etappen für die Einzonung zu defi nieren. Ein Knackpunkt dabei ist die Sanierung der Altlasten der ehemaligen Stadtdeponie im südwestlichen Bereich des Perimeters. Die anstehende Sanierung – mit entsprechenden Vorinvestitionen – betrifft auch Flächen angrenzend zur «Witi», die für eine optimale und weitgehend flexible Entwicklung möglichst spät überbaut werden sollten.

Ansonsten aber ist die Stadt in einer komfortablen Lage: Da das Konzept sich fast ausschliesslich auf den öffentlichen Raum bezieht, die potenziellen Baufelder also nicht tangiert, ist es nicht abhängig von der Kooperationsbereitschaft potenzieller Investoren. Mit dem Projekt «Weitblick» hat die Stadt Solothurn ein stabiles Gefäss, in das sie unterschiedliche Inhalte einfüllen kann, ohne dass es zerbricht.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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