Zeitschrift

TEC21 2008|37
Schulen Bauen Lernen
TEC21 2008|37
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Schulhausbau jenseits des Atlantiks

Mehr noch als in der Schweiz geraten die öff entlichen Schulen in den USA zunehmend unter Druck. Die Konkurrenz durch private und halbprivate Anbieter wächst, der Anspruch auf die architektonische Berücksichtigung neuer didaktischer Erkenntnisse ebenfalls. Der Autor erörtert die Unterschiede zwischen dem schweizerischen und dem amerikanischen Schulhausbau – und präsentiert zwei gelungene Beispiele aus Zürich und Minneapolis

8. September 2008 - Markus Ziegler
Seit letztem Jahr bereist die 2004 in Zürich konzipierte und gezeigte Ausstellung «Schulbauten: der Stand der Dinge» die USA.[1] In Übersee ist das Interesse für europäische Schulbauten gross; an allen Anlässen, welche die Wanderausstellung begleiteten, wurde intensiv über sie debattiert. Im Folgenden sollen die wichtigsten Diskussionsthemen wieder aufgegriffen und zwei innovative Schulhäuser – eines in Zürich, eines in Minneapolis – vorgestellt werden. Denn die Schule ist beidseits des Atlantiks in Bewegung, und trotz unterschiedlichen Rahmenbedingungen gibt es viel voneinander zu lernen.

Neue Herausforderungen im Schulhausbau

In den USA erhalten öffentliche Schulen nicht nur von Privatanbietern Konkurrenz, sondern zunehmend auch von sogenannten Charter Schools: halbprivaten Schulen, die als privat organisierte Schulbetriebe die Aufgaben der öffentlichen Schule übernehmen und dafür vom Staat einen Beitrag pro Schulkind erhalten.[2] Mit dem wachsenden Begehren nach sogenannten Bildungsgutscheinen[3] steht der Schweizer Volksschule eine ähnliche Konkurrenz bevor. Abgesehen von diesem betrieblichen Druck ist der aufgestaute Unterhaltsbedarf der öffentlichen Bauten sowohl in der Schweiz als auch in den Vereinigten Staaten ein Problem. Die Verantwortlichen haben sich mit fehlenden finanziellen Mitteln, Unsicherheit über künftige Entwicklungen der Pädagogik, steigenden Raumbedürfnissen und suboptimaler Raumausnutzung zu beschäftigen. Als Herausforderung bei der Planung kommt die Kommunikation zwischen Fachleuten aus Pädagogik und Architektur hinzu: In Europa wie in den USA wurde erkannt, dass gute Lösungen die Integration beider Sichtweisen voraussetzen. Dennoch entspricht die architektonische Umsetzung von Schulbauten oft nicht den Wünschen der Lehrerschaft. Dies beruht nicht zuletzt auf der unterschiedlichen Interpretation bestimmter Schlagwörter: Unter «Flexibilität» und «offenem Raum» verstehen Pädagoginnen und Pädagogen nicht immer das gleiche wie Architektinnen und Architekten. Eine mögliche Lösung wäre, dass die Lehrerschaft nicht länger zu erklären versucht, was für Räume sie will – und so den Entwurf vorgibt –, sondern vielmehr ihre Visionen und Absichten artikuliert und die räumliche Umsetzung den Architektinnen und Architekten überlässt.

Pädagogische Konzepte, in Steine gemeisselt

Ein zurzeit intensiv diskutiertes Thema im Schulhausbau ist die Flexibilität. Die Forderung der Pädagoginnen und Pädagogen nach flexibel nutzbaren Räumen zeigt, dass sie noch nicht abschätzen können, wohin die Entwicklung der Didaktik führen wird, und sich alle Optionen offen halten wollen. In Europa wie in den USA geht man davon aus, dass sich das pädagogische Konzept während der Nutzdauer eines Schulgebäudes mehrmals grundlegend ändern wird. Daher müssen Architekturschaffende im Schulhausbau auf eine «finale Architektur» verzichten: Bereits die ersten Entwürfe sollten berücksichtigen, dass Nutzung und Raumprogramm mit der Zeit variieren werden. Durch diesen Zwang zur Flexibilität besteht jedoch die Gefahr, dass Schulhäuser zu charakterlosen Kisten werden, in denen alles möglich und nichts bestimmt ist. Im Gegensatz zum flexiblen Inneren ist deshalb ein prägnantes Äusseres wichtig: Die klare Formgebung bietet eine Kompensation für die Unsicherheit, die als Folge des raschen gesellschaftlichen Wandels in Bezug auf die künftige Aufteilung und Nutzung der Räume herrscht. Gerade wegen der flexiblen Grundrisse wird eine analoge Hilfestellung im Inneren notwendig: Lesbare, nachvollziehbare Raumbezüge erleichtern die Orientierung im Gebäude.[4]

Auch die allgemeine Frage, was ein gutes Schulhaus sei, wird kontrovers diskutiert. Dennoch zeichnet sich ein gewisser Konsens ab. Der Klassenverband löst sich zunehmend auf; das Austauschen, Zeigen und Mitteilen nimmt an Bedeutung zu, auch zwischen Klassen und Stufen. In der heutigen Pädagogik ist es wie in der Arbeitswelt durchaus erlaubt, Arbeiten zu präsentieren, die noch nicht ausgereift sind oder die einen Beitrag zur Arbeit anderer leisten. Daher braucht es neben «Foren» zum (Mit-)Teilen und «Bühnen» fürs (Schau-)Spielen und Präsentieren auch «Ateliers», in denen gemeinsam geforscht wird. Den Gemeinschaftsräumen stehen Nischen gegenüber, die einen individuellen Rückzug für das Entwickeln und Beobachten erlauben. Auch das «Imaginarium» zielt in diese Richtung: Es dient der Inspiration und bietet ebenfalls eine Rückzugsmöglichkeit für individuelles Überlegen und Denken. Daher muss ein Schulhaus heute unterschiedlichste Räume für formelles wie informelles Lernen umfassen.[5]

Pädagogikfachleute sind sich einig, dass ein gutes Schulhaus ihre Arbeit zwar vereinfacht, doch keine zwingende Bedingung für gute Pädagogik ist. Auch unter widrigsten räumlichen Verhältnissen kann ein guter Unterricht angeboten werden: Entscheidend sind Motivation und Einstellung der Lehrpersonen; eine starke pädagogische Vision vermag immer eine betrieblich funktionierende Lösung zu schaffen. Als wesentlich werden deshalb die Führung und die Bildung des Lehrteams eingestuft. Wo Pädagoginnen und Pädagogen eng zusammenarbeiten und sich im Unterricht gegenseitig ergänzen, werden weit bessere Prüfungsund Lernergebnisse erzielt als in Schulen mit lauter Einzelkämpferinnen und Einzelkämpfern. Auf diesem Gebiet sind die Lehrpersonen in den USA ihren Schweizer Kolleginnen und Kollegen voraus.

Wettbewerbswesen in Zürich

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen den USA und der Schweiz liegt in der Art und Weise, wie ein Architektenteam respektive eine architektonische Lösung ausgewählt werden. In der Schweiz wurde der im 19. Jahrhundert geläufige Standard-Schulhausgrundriss verdrängt: Im Laufe des 20. Jahrhunderts setzte sich das Wettbewerbswesen durch, das bei jedem Projekt eine neue Chance zur Innovation bietet.[6]

Ein aktuelles Resultat dieses Modells ist das von Christian Kerez entworfene Schulhaus Leutschenbach in Zürich Nord, das sich zurzeit im Bau befindet und dessen Eröffnung für 2009 geplant ist. Das Projekt wurde im Vorfeld lediglich in den Grundsätzen definiert, und die architektonische Lösung wurde im Wettbewerbsverfahren gefunden. Die Wettbewerbsgrundlagen umschrieben das Bedürfnis der Schule nach Klassenzimmern (Ateliers), Mehrzwecksaal (Bühne), Bibliothek (Imaginarium) und benutzbaren Erschliessungsflächen (Foren und Nischen). Deren räumliche Umsetzung wurde bewusst den Entwurfsteams überlassen. Das aus diesem Prozess entstandene Schulhaus erfüllt alle betrieblichen Anforderungen, gibt aber darüber hinaus ein radikales städtebaulich-architektonisches Statement ab. Kein Standard hätte diese Prägnanz und Klarheit schaffen können.

Etablierte Firmen in den USA

Im Gegensatz zur Schweizer Wettbewerbskultur verlassen sich amerikanische Gemeinden in der Regel auf bewährte Standardlösungen. In den USA werden – vor allem in Staaten entlang der Ostküste – strikte und umfassende Vorgaben erstellt, die auf Sicherheit, problemlosen Unterhalt und einfache bauliche Lösung zielen. Wenn solche strengen Raumstandards mit ebenso strengen Kostenvorgaben und standardisierten Raumprogrammen gekoppelt werden, bleibt den Entwerfenden wenig Spielraum für Innovation. Wie in kleineren Schweizer Gemeinden werden auch in den USA häufig Architekturbüros mit der Projektdefinition beauftragt; doch im Unterschied zur Schweiz können sich diese Büros anschliessend auch für den Planungsauftrag bewerben. Zudem sind zahlreiche Firmen entstanden, die Gemeinden als professionelle Bauherrenberater in der Definition, in der Entwicklung und im Management des Projekts unterstützen. Auf diese Weise wird der Architekturwettbewerb zusehends von einer aktiven Akquisition durch Büros verdrängt, die aufgrund ihrer Expertisen und Erfolgsbeispiele überzeugen. Warum soll eine Gemeinde unter diesen Umständen noch das Risiko eines Wettbewerbs eingehen? Kritisch ist, dass dieses Modell junge und innovative Büros, die noch keinen Vorgängerbau vorweisen können, aus dem Markt ausschliesst.

Die WMEP Interdistrict Downtown School in Minneapolis belegt indes, dass auch das amerikanische Vorgehen zu innovativen Ergebnissen führen kann. Die Cuningham Group Architecture, ein in Minneapolis und mehreren weiteren amerikanischen Städten ansässiges Architekturbüro, hat den Bau im Auftrag von nicht weniger als elf Schulgemeinden definiert, projektiert und realisiert. Dank dem direkten Auftragsverhältnis zwischen Planungsfachleuten und Betreiber konnte das moderne Betriebskonzept der Schule schon früh in die Projektdefinition einfliessen. Das Schulhaus ist für 600 Kinder ab dem Kindergartenalter bis zum zwölften Schuljahr konzipiert und umfasst vier Geschosse. Im Erdgeschoss befinden sich die Spezialräume – Bibliothek, Computerraum, Administration, Werkzimmer und Gymnastikräume – sowie ein Mehrzweckraum, der auch zur Mittagsverpflegung dient (externe Belieferung). Die Klassengeschosse sind grösstenteils offen: Die Klassenzimmer bilden räumliche Nischen, welche die Zusammenarbeit zwischen Klassen nicht ausschliessen. Das Gebäude weist alle oben beschriebenen Raumarten auf: von den Nischen, die durch mobile Möbel gebildet werden können, bis zum Imaginarium der Bibliothek.

Gute Ergebnisse, viel Entwicklungsbedarf

Das Zürcher Vorgehen bei Wettbewerben stösst in den USA gegenwärtig auf grosses Interesse – insbesondere weil die Stadt das Projekt selber definiert, bevor sie externe Architektur- und Planungsfachleute beizieht, und solide Grundlagen für das Projekt schafft, ohne die architektonische Innovation mit Standards unnötig einzuschränken. Im Schulhausbau muss die Schweiz den internationalen Vergleich also nicht scheuen. Doch sie darf sich mit dem Erreichten auch nicht zufriedengeben. Ganz im Sinne des Ingenieurs Henry Petroski – «Form does not follow function! Form follows failure.» – soll der Schulhausbau weiterhin kritisch auf seine Schwächen geprüft werden, damit die Fehler der Vergangenheit nicht in die Zukunft getragen werden. Der Austausch im Rahmen der Wanderausstellung hat gezeigt, dass auf beiden Seiten des Atlantiks ähnliche Themen aktuell sind, auch wenn sich die Lösungsansätze zuweilen stark unterscheiden.

Anmerkungen
[1] Die Ausstellung zeigt 27 Schulbauten aus der Schweiz und Europa, welche die ETH und die Stadt Zürich als richtungsweisende Beispiele zusammengetragen haben. Sie wurde unter der Schirmherrschaft des American Institute of Architects (AIA) in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Konsulat ins Englische übersetzt. Im Februar 2007 war die Ausstellung zu Gast in New York, im September 2007 in Minneapolis, im März 2008 in Washington DC und im Juni 2008 in Boston. Weitere Stationen werden Portland, Dallas und San Francisco sein.
[2] Dieser Beitrag wird von den Steuereinnahmen finanziert und deckt die Unterrichtskosten pro Kind wie bei einer öffentlichen Schule ab; weitere Mittel holen sich die Charter Schools von privaten Donatoren und Stiftungen in Form von Spenden. Der Staat prüft jährlich, ob die Schulen die Charterbedingungen einhalten. Wenn nicht, kann der Charter aufgehoben werden.
[3] Das klassische Gutscheinmodell von Milton Friedman beruht auf der Idee, dass das Steuergeld den Bildungsträgern (Schulen, Universitäten) nicht mehr direkt zufliesst, sondern auf dem Umweg der Auszubildenden (Subjekt- statt Objektsubventionierung). Der Bildungsgutschein ist persönlich und nicht übertragbar; die Auszubildenden geben ihn an einer frei wählbaren, staatlich anerkannten Bildungsstätte ab, die ihn bei der Staatskasse gegen Geld einlöst. Auf diese Weise sollen Chancengleichheit unter den Auszubildenden und pädagogischer Wettbewerb unter den Bildungseinrichtungen gewährleistet werden.
[4] Hinweis von Prof. Rudolf Isler, Pädagogische Hochschule Zürich, und Urs Dörig, Pädagogische Hochschule Thurgau
[5] Hinweis von Prof. Edith Ackermann, Visiting Scientist, School of Architecture and Planning, Massachusetts Institute of Technology. Vgl. http://media.mit.edu/~edith sowie blog: linkedith.kaywa.com
[6] Die Sachlage ist vergleichbar mit dem Kanton Zürich anno 1836, als der Kanton eine «Anleitung über die Erbauung von Schulhäusern» publizierte – komplett ausgerüstet mit Plänen. Dieses Festhalten an Normen und Standardlösungen war damals nötig, da die Schule für die Gemeinden eine neue Aufgabe darstellte und die wenigsten Baufachleute eine Vorstellung davon hatten, wie eine Schule gebaut werden soll.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

Tools: