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TEC21 2008|47
Ghost Architecture
TEC21 2008|47
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Versunkene Kirche

17. November 2008 - Clementine Hegner-van Rooden
Die East of England Development Agency[1] schrieb 2003 den internationalen Ideenwettbewerb «Landmark East» aus. Neue Sehenswürdigkeiten sollten auf sich und die Region aufmerksam machen und die Attraktivität von Ostengland als Touristenregion steigern. Anne Niemann und Johannes Ingrisch wollen eine versunkene Kirche wiederaufbauen. Das Schweizer Bauingenieurbüro Staubli, Kurath & Partner unterstützt das deutsche Architektenteam dabei. Die Küste von Ostengland ist stark von Erosion betroffen. Jedes Jahr geht ein bis zu 3 m breiter Küstenstreifen aus sandigen Klippen und Stränden an die Nordsee verloren – mit ihm auch ganze Dörfer. So ist die mittelalterliche Stadt Walton-on-the-Naze an der Küste der Grafschaft Essex – wie zum Beispiel auch die alte Königsstadt Dunwich, Easton Bavents oder Old Felixstowe – über die Jahrhunderte teilweise im Meer versunken. 1789 versank die All-Saints-Kirche von Walton, und werden keine schützenden Massnahmen gegen die Küstenerosion getroffen, wird in den nächsten 50 Jahren auch der 1720 erbaute, unter Denkmalschutz stehende Leuchtturm Naze Tower ins Meer stürzen.

Attraktives Symbol für notwendigen Küstenschutz

Mit ihrem attraktiven Vorschlag «Lost Town» – eines der vier Siegerprojekte, die nun realisiert werden sollen – wollen die deutschen Architekten Anne Niemann und Johannes Ingrisch an die versunkenen Städte Ostenglands erinnern und auf den notwendigen Küstenschutz auf - merksam machen. Als symbolisches Kunstwerk, das zeigt, was Naturgewalt bewirken kann, soll die All-Saints-Kirche in Originalgrösse am ursprünglichen Standort wiederaufgebaut werden. 800 m von der Küste entfernt (Bild 1) sollen 41 vertikal aus dem Meer ragende Rohre die Kirche formen. Die Aussenhaut der Stelen wollen die Architekten in poliertem Edelstahl ausführen; darin würden Licht und Farben an den Oberflächen reflektiert. Gemäss den Architekten soll die Skulptur so je nach Lichtstimmung ihr Erscheinungsbild verändern, und Sonne, Himmel und Meer sollen Teil des Kunstwerks werden (Bild 3). Die Bauingenieure des Schweizer Ingenieurbüros Staubli, Kurath & Partner planen grundsätzlich die Stelen als edelstahlummantelte Betonsäulen. Mit ihrem runden Querschnitt böten sie geringe Angriffsfläche für Meerwasser und Wellen; in Edelstahl mit entsprechender Qualität geliefert, wären sie korrosionsbeständig und hielten der salzhaltigen Umgebung stand. Das Variantenstudium für die tragenden Säulen ergab zwei Konstruktionen, die die aussergewöhnlichen Einwirkungen[2] am besten aufnähmen und wesentlich günstiger wären als Volledelstahlrohre, wie sie im Wettbewerb vorgesehen waren: armierte Ortbetonsäulen mit GFK-Hülle als Schalung für den Stahlbetonpfahl und als Korrosionsschutz (Bild 6) oder vorfabrizierte, stahl- oder kohlefaserarmierte Spannbetonmasten (Bild 7). Welche Variante realisiert würde, hängt vom ausführenden Unternehmen ab, da die Ausführungsweise für Konstruktionsdetails bei Wasserbauten sehr entscheidend ist; sie werden entsprechend erst bei Vergabe konkretisiert.

Die Edelstahlummantelung muss von der Stahlarmierung getrennt werden. In der ersten Variante erfolgt dies bei der Säule mit einer GFK-Hülle, die auch bei gerissenem Beton Kriechströme zwischen Armierung und Edelstahlhülle verhindert. Für die zweite Variante setzen die Ingenieure Kohlefaserarmierung ein. Der Zwischenraum soll mit Fliessmörtel ausinjiziert werden. Da dadurch aber unkontrollierte Hohlräume entstehen können und allenfalls Salzwasser in das Fundament eindringen kann, wird auch diese Ausführung erst nach Ausführungsvergabe definitiv festgelegt. Die Trennung des in das Fundament eingebundenen Edelstahlrohrs von der Fundamentarmierung erfolgt mit einer ausreichenden Überdeckung beziehungsweise Distanzhalterung (bis 20 cm notwendig).

Gesiterhaftes wird konkret

Die Stahlrohrskulptur soll in einer Schiffswerft an der Küste hergestellt werden. Gründe für die Vorfabrikation liegen in der erhöhten Genauigkeit, der verbesserten Kontrollierbarkeit und den geringeren Kosten. Aus 1.20 m hohen Blechträgern wollen die Ingenieure einen Trägerrost von etwa 8.5 × 24.5 m und einem Raster von 2.7 m konstruieren (Bild 4). Auf jedem Knoten sehen sie jeweils ein aufgeschweisstes Rohr vor. Die als grosse «Stahlbürste» erscheinende Konstruktion würde nach der mehrwöchigen Montage bei ruhiger See an ihren vorgesehenen Standort geschifft. Dazu sind Pontons oder Krane notwendig, die, je nach Stelenkonstruktion und allfälliger Trennung der Gesamtkonstruktion in Teilstücke, 300 bis maximal 1000 t Tragkraft aufbringen müssten.

Wegschwimmen verhindern

Parallel zu den Arbeiten in der Werft soll das Fundament der Kirche vorbereitet werden. Um es in dieser aussergewöhnlichen Lage erstellen zu können, müsste vorerst der Arbeitsbereich im Meer eingespundet werden. Geplant ist eine 31 × 14.5 m grosse Baugrube, gebildet aus eingerammten Spundwänden (PU18). (Bilder 4 und 5) Ausgesteift mit Longarinen (HEB 500), würden diese im Inneren für eine ruhige Wasseroberfläche sorgen und damit die Arbeit erheblich erleichtern, denn sämtliche Arbeiten vor Ort müssten unter Wasser ausgeführt werden. In einer zweiten Phase sollen von einem Kranschiff aus 20 provisorische Holzpfähle (Durchmesser 40 cm) in den Seegrund gerammt werden. Die Einbindetiefe wird durch Messen des Eindringwiderstandes oder anhand von Proberammungen definiert. Anschliessend soll der Seegrund mit einem Saugbagger einen Meter tief ausgebaggert werden. Auf den danach etwa 40 cm über den Seegrund ragenden Holzpfahlspitzen würde die angeschiffte «Stahlbürste» versetzt und ausgerichtet. Der gesamte Trägerrost – der Fuss der Kirchenskulptur – soll dann unter Wasser einbetoniert werden, wobei die Spundwände in dieser Phase als verlorene Stirnschalungen dienen. Abschliessend würden sie über Oberkante Fundamentplatte abgetrennt – sie dienen dann als Abrasionsschutz und als Schutz vor Unterkolkung.

«Lost Town» soll bis 2012 erstellt werden – die Planer wollen Englands Medienpräsenz infolge der Olympischen Spiele nutzen. Die Finanzierung ist jedoch noch nicht gesichert. Da die regionale Entwicklungsbehörde (EEDA1) nur die Hälfte der Gesamtkosten von etwa 3.2 Mio. Pfund (6.4 Mio. CHF) übernimmt, muss das Projektteam die restlichen Gelder selber auftreiben – erste Gespräche mit möglichen Sponsoren und die Bewerbung um öffentliche[3] und EU-Gelder erfolgten bereits. Sobald diese bewilligt sind – voraussichtlich im Januar 2009 –, wird als nächster Schritt die Baugenehmigung beantragt. Dafür sind Umweltstudien und zusätzliche statische Berechnungen notwendig.

Anmerkungen
[1] EEDA ist die verantwortliche Behörde für regionale Entwicklung von Ostengland (Befordshire, Cambridgeshire, Essex, Hertfordshire, Norfolk und Suffolk).
[2] Wellenhöhen bis über 5 m mit Wasserströmungen mindestens kurzfristig, aber laufend wiederkehrend von 5 m/s bis 15 m/s; Hochwasser in Schweizer Flüssen erzeugen Strömungen von 3 m/s bis max. ca. 5 m/s.
[3]In diesem Fall das Förderprogramm «sea change», das Kunst in Küstenorten fördert

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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