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TEC21 2009|24
Auf lange Sicht
TEC21 2009|24
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zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Nachhaltigkeit ist keine gesonderte Disziplin»

Fünf Jahre nach der Bologna-Reform plädiert der SIA für eine Stärkung des dualen Bildungssystems in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. Andrea Deplazes, Präsident der Bildungskommission des SIA und Professor für Architektur und Konstruktion an der ETH Zürich, erläutert die Gründe für dieses Engagement – und warum gerade das duale Bildungssystem besonders geeignet wäre, qualifi zierte Fachleute hervorzubringen, die einen Beitrag zur nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums leisten können.

12. Juni 2009 - Judit Solt
Judit Solt: Im April dieses Jahres hat der SIA das Positionspapier «Bildung für eine nachhaltige Gestaltung des Lebensraums» mit fünf Forderungen zur Bildung in Architektur und Ingenieurwissenschaften veröffentlicht (vgl. Kasten S. 19). Was soll damit erreicht werden?

Andrea Deplazes: Wir wollen eine Debatte darüber auslösen, was die Ausbildung in diesen Berufsgruppen leisten soll, sei es auf universitärer oder Fachhochschulstufe. In der Bildungskommission des SIA, die die Sicht der Berufspraxis einnimmt, sind deshalb mit den Berufsgruppen Architektur und Ingenieurwesen auch die Hoch- und Fachhochschulen vertreten. Wir haben festgestellt, dass noch viele Fragen offen sind. Beispielsweise gibt es unter den Ingenieuren noch grundsätzliche Differenzen in Bezug auf die Berufsbefähigung nach der Ausbildung. Während sich die Architektinnen und Architekten einig sind, dass eine ernsthafte Ausbildung im Rahmen eines Bachelor-Programms allein nicht zu leisten ist, gibt es beiden Ingenieurinnen und Ingenieuren unterschiedliche Positionen. Einige sind der Meinung, eine dreijährige Ausbildung sei geeignet, um qualifizierten Nachwuchs zu formen, denn Berufseinsteiger würden in den Büros ohnehin weiter ausgebildet; andere finden, dass eine gute Ausbildung über das Technische hinaus- und ins Konzeptionelle hineingehen müsse und daher länger dauern würde. Hier muss jede Disziplin eine Haltung finden. Dass eine Ausbildung in drei oder fünf Jahren alles vermitteln kann, ist ohnehin eine Illusion; wir lernen ein Leben lang weiter, nur schon deshalb, weil die Zeit nicht stillsteht und Dinge sich laufend ändern. Wichtig ist die Entscheidung, welches Wissen am Ende einer Ausbildung im Minimum vorhanden sein muss, damit die Berufsbefähigung gegeben ist. Ein ebenso zentrales Thema ist dann folgerichtig der Ausbau eines attraktiven Weiterbildungsangebots: Fachleute aus der Praxis sollen auch nach dem Master die Möglichkeit haben, sich neues Wissen anzueignen. Das wäre eine attraktive, vielleicht sogar lukrative Aufgabe für die Schulen.

Judit Solt: Fünf Jahre nach der Einführung der Bologna-Reform herrscht eine gewisse Ernüchterung: Die ursprüngliche Hauptaufgabe der Fachhochschulen, Baufachleute mit Kernkompetenz in der Ausführung zu formen, wurde zugunsten einer theoretischeren Ausbildung relativiert. Nun werden Stimmen laut, die eine Angleichung der Fachhochschulen an die Universitäten hinterfragen. Das Positionspapier bringt diese Bedenken auf den Punkt: Es spricht sich unmissverständlich für das duale Bildungssystem aus und fordert eine komplementäre Differenzierung zwischen den Bildungsgängen.

Andrea Deplazes: Vor der Bologna-Reform gab es keinen dringenden Anlass, das duale Bildungssystem infrage zu stellen. Beide Bildungswege – der universitäre und jener über Handwerk, Lehre und die damaligen HTL – haben sehr gut funktioniert und sich perfekt ergänzt. Entsprechend hatten die Universitäten und die HTL klare Profile: Überspitzt formuliert bildeten die einen Theoretiker, Forscher oder Entwerfende aus, die anderen Praktiker. Diese Rollenteilung wurde in der öffentlichen Wahrnehmung teilweise auf ein holzschnitt-artiges Modell mit fragwürdigen Klischees reduziert. Doch im Grundsatz war sie sinnvoll.
Heutzutage kommt es ja kaum noch vor, dass eine einzige Person für alle Projektphasen – Konzeption, Ausführungs planung, Ausführung – allein zuständig ist; umso wichtiger ist daher, dass innerhalb des gleichen Berufes unterschiedliche, sich ergänzende Ausbildungsschwerpunkte kompetent vertreten sind.
Ich bin überzeugt, dass die hohe Qualität der Schweizer Baukultur unter anderem dem dualen Bildungssystem zu verdanken ist. Es ist ein Grund dafür, dass Schweizer Architekten und Ingenieure nicht nur als Ideenlieferanten in Thinktanks sitzen, wie das zum Beispiel in den USA der Fall ist, wo die Fachleute ihre Kernkompetenz längst eingebüsst haben. Dass sie die Übersetzung ihrer Projekte bis in die Realisierung und sogar darüber hinaus verfolgen können und wollen, sichert die Kohärenz, die Kontinuität und ebendiese Qualität langfristig. Mit Kernkompetenz meine ich die unauflösliche Wechselbeziehung von Entwurf, Konstruktion und Integration von Fachdisziplinen (E+K+I). In allen diesen Kernbereichen sind aber auch Schwächen in den aktuellen Ausbildungs gängen festzustellen, und das betrifft nicht nur die Fachhochschulen, sondern durchaus und im gleichen Mass auch die Universitäten.

Judit Solt: Hat die Bologna-Reform die Fachhochschulen besonders stark getroffen?

Andrea Deplazes: Leider sind die Fachhochschulen durch Bologna noch zusätzlich unter Druck geraten. Denn Bologna ist ein EU-Programm im universitären Bereich, das kein duales Bildungssystem kennt. In der Schweiz ging diese Tatsache im Eifer der Bologna-Etablierung offenbar unter. Seither stehen die Fachhochschulen unter latentem Druck, sich tendenziell in Richtung von Hochschulen entwickeln zu müssen. Die Akademisierung der Fachhochschulen hat diese jedoch nicht aufgewertet, sondern lediglich ihr Profil geschwächt. Nun müssen wir, aus Sicht der Berufspraxis, ernsthaft über die Stärkung der Fachhochschulen nachdenken. Es gibt jedoch Interessenkonflikte: Die gegenwärtige Entwicklung der Fachhochschulen hängt stark von ihrer Förderung durch die einzelnen Kantone ab, und deren bildungspolitische Ziele stimmen nicht ohne Weiteres mit den Schwerpunktsetzungen der Berufsverbände überein. Drängende Fragen – etwa in Bezug auf die Qualitätssicherung, die Förderung von Studiengängen nach Massgabe von praxisorientierten Inhalten oder das Angebot von Masterstudiengängen – sind weiterhin ungelöst. Selbstverständlich betrifft das nicht alle Fachhochschulen in gleichem Mass. Tendenziell konnten sich die Fachhochschulen finanzstarker Kantone besser mit der neuen Situation arrangieren.

Judit Solt: War diese Verunklärung des dualen Bildungssystems eine zwingende Folge der Bologna- Reform, oder hätte sie vermieden werden können?

Andrea Deplazes: Selbstverständlich hätte sie vermieden werden können. Dafür hätte man allerdings vorher überlegen müssen, was die eigentlichen Ziele unseres dualen Bildungssystems sind. Dieser Aufgabe widmet sich im Nachhinein nun der sogenannte Architekturrat, der auf Initiative der Schulen gegründet wurde und sich aus Vertretern der Hochschulen, der Fachhochschulen und des SIA (vgl. TEC21 3-4/2009) zusammensetzt. Ein entsprechender Rat im Ingenieurbereich wäre möglicherweise ebenso wünschenswert. Der Architekturrat versucht, gemeinsam zu einer Klärung der Ausbildungsschwerpunkte zu gelangen. Diese gilt es so zu legen, dass sich die Kompetenzbereiche der verschiedenen Ausbildungsgänge ergänzen: Sofern nämlich eine hinreichende Schnittmenge gegeben ist, können Fachleute miteinander kommunizieren und ihre spezifischen Fähigkeiten koordiniert ins Spiel bringen. Gerade bei der zentralen Frage nach dem Stellenwert von Generalisten- und Spezialistentum vertreten Ingenieure und Architekten divergierende Auffassungen. Im Ingenieurwesen können Gebiete wie Geomatik, Tief- und Hochbau in gewissen Fällen so klar getrennt werden, dass sie nur noch in den physikalisch-mechanischen Grundlagen Gemeinsamkeiten aufweisen und tatsächlich unterschiedliche Disziplinen darstellen. Im Gegensatz dazu sind sich Architektinnen und Architekten tendenziell einig, dass die Architekturausbildung immer den ganzen Bau als komplexes Gesamtsystem berücksichtigen muss – vergleichbar mit dem Medizinstudium, das sich anfangs auf den ganzen Menschen konzentriert und erstspäter eine Spezialisierung zulässt. – Es wäre schon ein grossartiger Fortschritt, wenn wir uns im Grundsatz auf dieses komplementäre, duale Bildungsmodell einigen könnten!

Judit Solt: Sollen die Fachhochschulen demnach Fachleute ausbilden, die auf die Ausführung spezialisiert sind?

Andrea Deplazes: Ja und nein: Es kommt darauf an, was wir unter Spezialisierung verstehen. Sind Spezialisten Leute, denen jegliches Grundlagenwissen fehlt und die nur von einem eng abgesteckten Gebiet etwas verstehen? Oder sind es Generalisten, die ihre Kompetenz fachspezifisch vertieft haben? Sprechen wir von einer Atomisierung des Wissens oder von der Setzung gezielter Schwerpunkte? Meiner Meinung nach sollten die Ausbildungsgänge – der konzeptbetonte der Universitäten und der ausführungsbetonte der Fachhochschulen – zusammen ein Gesamtes ergeben. Im Zentrum steht darum bei beiden nach wie vor die Stärkung der Kernkompetenz (E+K+I), nur mit jeweils unterschiedlichen, gegenseitig ausbalancierten Schwerpunkten. Dabei müssen die Schwerpunkte so gelegt werden, dass es eine hinreichend grosse Überlappung gibt. Die aktuelle Umsetzung der Bologna-Reform gefährdet jedoch den Aufbau dieses komplexen, verknüpften Wissens, weil sie tendenziell die Zergliederung der Studiengänge in unabhängige Leistungsmodule fördert. Doch Inhalte, die entkoppelt sind und die man nicht mehr zueinander in Bezug setzen kann, sind wertlos.

Judit Solt: Zeichnen sich in der Praxis bereits erste Folgen dieser Schwächung des dualen Bildungssystems ab?

Andrea Deplazes: Katastrophale Folgen zeigen sich schon jetzt am Beispiel Bauleitung. Frühere HTL-Absolventinnen und -Absolventen hatten ein breites Grundwissen darüber, wie man ein Projekt in Baureife überführt und realisiert; dank diesen umfassenden Kenntnissen waren sie geradezu dafür prädestiniert, sich auf den äusserst anspruchsvollen Beruf des Bauleiters, der Bauleiterin zu spezialisieren. Mit der Akademisierung haben viele Fachhochschulen diese Kompetenz abgegeben, und es stellt sich die Frage, wo zukünftige Bauleiterinnen und Bauleiter ausgebildet werden sollen.
Die höhere Berufsbildung hat das Vakuum erkannt und bietet entsprechende Lehrgänge an. Doch kann man diesen verantwortungsvollen Beruf erlernen, indem man eine Lehre absolviert und anschliessend eine Bauleiterschule besucht? Eine Schnellbleiche in Kostenund Zeitmanagement nützt doch nichts, solange das Verständnis für die konzeptionellen Grundlagen fehlt. Wenn man den inneren Zusammenhang eines Projekts, seine Abhängigkeiten, Hierarchien und Prozessfolgen nicht kennt, kann man es nicht erfolgreich abwickeln, jedenfalls nicht im Sinne einer nachhaltigen Gestaltung unserer Umwelt. Man scheint schlicht vergessen zu haben, dass die Realisierung eines Bauprojekts – die gemäss SIA 102 beziehungsweise SIA 103 einen beträchtlichen Anteil des Auftragsvolumens ausmacht – eine ebenso wertvolle Leistung darstellt wie die vorangehenden konzeptionellen Phasen. Die Verknüpfung von konzeptionellen, organisatorischen, strukturellen und materiellen Zusammenhängen ist äusserst anspruchsvoll. Die Vermittlung der bauleiterischen Kompetenz muss daher zwingend wieder zurück auf die Stufe der Fachhochschulen angehoben werden.

Judit Solt: Inwiefern hat das alles mit der nachhaltigen Gestaltung des Lebensraums zu tun?

Andrea Deplazes: Nachhaltiges Bauen ist keine Disziplin, die man gesondert erlernen kann. Man muss die Interaktion verschiedener Einflüsse verstehen und steuern können. Einzelne Parameter separat zu betrachten, genügt nicht – Zusammenhänge sind eben nur dann sinnvoll, wenn sie wirklich zusammenhängen. Es braucht also Fachleute, die über ein breit abgestütztes Wissen verfügen und die Fähigkeit mitbringen, sich mit einem komplexen Beziehungsgeflecht auseinanderzusetzen. Erst dann kann man definieren, in welchem Sinn ein Gebäude nachhaltig sein soll: Oft müssen widersprüchliche Zielsetzungen – etwa energetische versus kulturelle Nachhaltigkeit – gegeneinander abgewogen werden. Ob etwas nachhaltig ist oder nicht, muss daher unter vielen Gesichtspunkten verhandelt werden. Leider wird derBegriff Nachhaltigkeit heute fast nur noch inflationär, ideologisch oder propagandistisch, eingesetzt. Das behindert oft die klare Formulierung der Zielsetzungen und der Wege, diese zu erreichen.

Judit Solt: Mit der Definition von Standards und Labels wird diese Komplexität auf handhabbare Grössen reduziert. Das hat Vorteile, wirft aber auch Fragen auf. Zum einen sind Labels teilweise an wirtschaftliche Interessen von Herstellerfirmen gebunden und erfordern eine technische Aufrüstung von Bauten, die nicht in jedem Fall erforderlich gewesen wäre. Zum anderen sind Standards naturgemäss starr und auf wenige Aspekte beschränkt; damit werden innovative Lösungen, die zwar nachhaltig sind, die Bedingungen für eine Zertifizierung aber nicht erfüllen, von vornherein ausgeschlossen. Beides lässt die politische Förderung solcher Festlegungen fragwürdig erscheinen.

Andrea Deplazes: Standards und Normen sind politische Lenkungsinstrumente und als solche gute Mittel, um Anliegen in der Praxis breit durchzusetzen. Entscheidend ist aber auch hier, dass man sich zuerst über das Anliegen Klarheit verschafft und sich erst dann mit den Mitteln beschäftigt. Festzulegen ist das Ziel – ob man auch die Wege dahin festlegen muss, bezweifle ich sehr. Wenn die Erfüllung von Standards die einzige Möglichkeit ist, ein Gebäude bewilligungs fähig und nachhaltig fit zu machen, ist der Fortschritt zu Ende: Standards legen Grenzen und Leitplanken fest, Forschung aber heisst, Grenzen zu verschieben und Leitplanken auseinanderzuwuchten. Universitäten und Fachhochschulen betreiben zum Beispiel wertvolle Forschung zum Thema Energieeffizienz, die man nicht einfach in Standards verpacken kann.

Judit Solt: In welche Richtung tendiert die entsprechende Forschung an der ETH?

Andrea Deplazes: Im Bereich Energieeffizienz beispielsweise wird mit einem Simulationsprogramm gearbeitet, das von Anfang an im Entwurf einsetzbar ist und sehr schnell Auskunft über die Implikationen einer Änderung geben kann – etwa über die energetischen Konsequenzen einer Variation des Fassadenöffnungsgrads oder eines veränderten Fassadenaufbaus. Dieses Tool liefert ad hoc Informationen, die früher wochenlang berechnet werden mussten, und verleiht der Zeichnung eine neue Wertigkeit. Dabei ist es nicht ideologisch besetzt: Es schreibt also nicht vor, man dürfe die Dämmung nicht weglassen, sondern sagt nur, welche bauphysikalischen und energetischen Folgen das hätte. Die Wertung liegt beim Entwerfenden; er oder sie legt fest, welche Eigenschaften des Gebäudes verändert werden sollen, damit es die erwünschte Energiebilanz aufweist. Im Gegensatz zu Standards, die jeden Parameter festlegen, kann hier gezielt und projektspezifisch operiert werden. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass eine historische Backsteinmauer bei einer Sanierung nicht unbedingt gedämmt werden muss, wenn die gewünschte Gesamtwirkung auch anders erreicht werden kann. Mit solchen Instrumenten arbeiten die Studierenden heute gern und ganz selbstverständlich; ich bin zuversichtlich, dass sie sich sehr bald schon in der Praxis etablieren werden.
Standards sollen dem aktuellen Forschungsstand folgen, nicht umgekehrt. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch Forschung in einem Wettbewerbsumfeld geschieht. Es ist lebenswichtig, dass gute Ideen und neue Verfahren möglichst ungehindert ihren Weg in die Praxis finden. Und ebenso zentral ist, dass sich auch in der Forschung die Rollen der unterschiedlichen Schulen stärker ausprägen: Die Universitäten näher bei der Grundlagen-, die Fachhochschulen eher bei der angewandten Forschung. Einmal mehr: Wir müssen das duale Bildungssystem, das wir jahrzehntelang erfolgreich gepflegt haben, innerhalb des Bologna-Gerüstes wieder neu aufbauen. Es zu vernachlässigen, war ein fundamentaler Fehler.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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