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TEC21 2009|44
Schulhaus Leutschenbach
TEC21 2009|44
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Komplexität ohne Rhetorik

Anfang September wurde das Schulhaus Leutschenbach eingeweiht. Dank einer engen Zusammenarbeit des Architekten Christian Kerez und des Ingenieurs Joseph Schwartz ist ein Gebilde entstanden, in dem Raum und Tragkonstruktion sich gegenseitig bedingen. Die Stapelung unterschiedlichster Funktionsbereiche – vom Kindergarten über Schulzimmer, Saal und Bibliothek bis zur Turnhalle – bestimmt Form und Struktur des Gebäudes. So einfach die einzelnen Grundrisse sind, so spannungsvoll entwickeln sich die Raumstimmungen, wenn man sich im Schulhaus bewegt.

30. Oktober 2009 - Judit Solt
Das Schulhaus ist das Ergebnis eines 2003 entschiedenen Wettbewerbs, den Christian Kerez mit einem eigenwilligen Projekt gewonnen hat (vgl. TEC 21 21 / 2003): Im Gegensatz zu den anderen Teilnehmenden schlug er einen einzigen Baukörper vor, der alle Nutzungen in sich vereinigt und dessen Abmessungen durch jene der zuoberst liegenden Turnhalle bestimmt sind. Der fertige Bau zeigt, dass die städtebauliche Entscheidung richtig war: Dank ihrem kompakten, mächtigen Volumen vermag die Schule den grossformatigen Industrie-, Gewerbe- und Wohnbauten der Umgebung ein angemessenes Gegenüber zu bieten, während der gewonnene Freiraum dem Andreaspark zugutekommt, der hier seinen Abschluss und Höhepunkt findet (vgl. Kasten S. 34).

Mit zwölf Primarschul- und zehn Oberstufe-Klassenzimmern, einer Dreifachturnhalle, einem Kinderhort und vier Kindergärten samt Infrastruktur ist das Schulhaus Leutschenbach das zweitgrösste der Stadt. In der Fassade zeigt sich, dass die verschiedenen Funktionen übereinandergestapelt wurden. Dennoch ging es beim Entwurf weder um eine Überhöhung der Unterschiede – wie sie MVRDV beim Niederländischen Pavillon an der Expo 2000 in Hannover erreichten, indem sie sieben niederländische Landschaftstypen aufeinanderschichteten und einen maximalen Kontrast zwischen den Geschossen erzielten – noch um ein nüchternes Spiel um Repetition, Regel und Ausnahme. Auch die Platzierung der Turnhalle zuoberst im Gebäude ist an sich keine Innovation. Die Schulanlage Neumarkt in Biel enthält ein klassisch modernes Sportgebäude aus den 1930er-Jahren, in dem ein Schwingraum, zwei Turnhallen und eine offene Gymnastikterrasse aufeinandergestapelt sind (vgl. TEC21 36 / 2009). In neuerer Zeit haben Stücheli Architekten zwei Sporthallen im Turm des 2005 fertiggestellten Schulgebäudes TBZ am Sihlquai in Zürich untergebracht. Das Besondere am Schulhaus Leutschenbach sind weniger die Themen, die es aufgreift, als die vielschichtige Art und Weise, wie sie miteinander verwoben werden.

Spannung beim Betreten

Vordergründig manifestiert sich diese Vielschichtigkeit auf einer formalen Ebene. Zum einen ist die filigrane Glasfassade, die bauphysikalische Hülle Gebäudes, nur eine von mehreren sich überlagernden Ebenen: Hinzu kommen die Glasbrüstungen der umlaufenden Balkone, das je nach Geschosstyp innen oder aussen liegende tragende Stahlfachwerk und der Sonnenschutz. Zum anderen entsteht durch die Stapelung unterschiedlicher, durch die Linie der Balkone unterstrichener Geschosse eine Betonung der Horizontalen, die durch die schrägen Fachwerkträger wieder relativiert wird (Abb. 5).

Im Inneren sind es die Räume, Nutzungen und Tragstruktur, die sich gegenseitig überlagern und bedingen. Das Erdgeschoss ist niedrig, nicht nur im Verhältnis zur Grösse des Gebäudes, sondern auch in Bezug auf vertraute Raumgewohnheiten. In der Tat wurde von der städtischen Vorschrift, die für solche Fälle ein Volumen von 3 m³/m2 vorsieht, eine Ausnahme gemacht: Die gefaltete Betondecke ergibt am tiefsten Punkt eine lichte Höhe von nur 2.5 m. Die dramatische Auskragung der oberen Geschosse und die leicht nach innen gerückte Fassade tragen zur Vorstellung bei, dass man sich beim Eintreten unter das Gebäude begibt.

Umso verblüffender ist die Weite, die sich auf einmal eröffnet – der Raum scheint, als hätte ihn das Gewicht der anderen Geschosse nach unten gedrückt, seitlich auszuweichen und in den Park hinauszufl iessen (Abb. 03). Die durchgehenden Faltungen der Decke, der bis auf einen zentralen Kern offene Grundriss und die raumhohen Glasfassaden mit rahmenlosen, liegenden Gläsern verstärken den Eindruck, sich in einem Raumkontinuum zu befinden.

Weitblick für die Kleinen

Im Gegensatz zum geduckten, allseitig offenen Erdgeschoss wirken die darüber liegenden Klassenzimmergeschosse hoch und klar gegliedert. Über die doppelläufige Treppe gelangt man in einen grossen mittleren Raum, der zugleich als Treppenpodest, Pausenhalle, Vorzone zu den Klassenzimmern oder fl exibel nutzbarer Unterrichtsbereich dient (Abb. 2). So weitläufig dieser Raum mit seinen rund 160 m² wirkt, erlaubt er gleichzeitig auch – dank Mehrfachnutzung und dem Verzicht auf Erschliessungskorridore – eine beträchtliche Platzersparnis. Rechts und links davon, an den Längsseiten des Gebäudes, sind Klassenzimmer und Nebenräume aufgereiht. An den Schmalseiten stösst der mittlere Raum an die Fassade, zusätzlich dringt gedämpftes Licht durch die grünlichen Profilit-Wände der Klassenzimmer hinein. Der Bezug zum Aussenraum ist auf diesem Geschoss trotz Glasfassade weniger direkt, weil die Faltung der Decke jenseits der Fassade nicht weitergeführt wird – die Untersichten der Balkone sind glatt – und weil das aussen liegende Fachwerk eine zusätzliche Raumbegrenzung darstellt.

Es gibt drei solche Klassengeschosse; sie sind identisch, doch ihre Stapelung ist mehr als stumpfe Repetition. Sie bilden nicht nur eine formale und funktionale, sondern auch eine konstruktive Einheit. Die Stäbe des tragenden Fachwerks fassen die drei Etagen zusammen, was nicht nur in der Fassade, sondern auch im Inneren sichtbar wird: Beim Ersteigen der drei Geschosse zeigt sich, dass das Schulzimmervolumen sowohl im Schnitt als auch im Grundriss gedrittelt wurde.

Das vierte OG enthält wie das EG Gemeinschaftsräume (Abb. 1). Es zeichnet sich durch eine entsprechende Grosszügigkeit und eine analoge Behandlung der Raumbegrenzungen aus: Die durchgehende Faltung der Decke betont die Weitläufigkeit und lenkt den Blick nach aussen. Die Fachwerkträger, die hier – anders als im EG – wegen der zuoberst liegenden Turnhalle nötig waren, sind auf der Innenseite der Fassade angeordnet. Die Turnhalle selbst ist ein heiterer und eindrücklicher Raum, der abends wie eine monumentale Laterne über dem Gelände leuchtet. Umgekehrt eröffnet sich ein Rundblick in die Umgebung, der nicht nur aus ästhetischer Sicht wertvoll ist: Für einmal dürfen die Kinder auf riesige Strukturen wie die Kehrichtverbrennungsanlage hinunterschauen, anstatt von ihnen dominiert zu werden.

Symbiose von Raum und Tragwerk

Das Schulhaus lebt von den vielfältigen Bezügen zwischen seinen räumlichen, funktionalen, statischen und formalen Komponenten. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei dem Tragwerk zu (vgl. «Hohe Schule», S. 35). Dank der engen Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ingenieur, die bereits in der Wettbewerbsphase begann und während des ganzen Projekts fortgesetzt werden konnte, bedingen sich Raum- und Tragstruktur gegenseitig. Dies ist auch bei anderen Bauten Kerez’ der Fall, etwa beim Wohnhaus an der Forsterstrasse in Zürich, wo Wände und Decken ein räumliches Betontragwerk erzeugen, sodass sie raumbildende und tragende Elemente zugleich sind. Beim Schulhaus Leutschenbach ist diese Beziehung jedoch komplexer. Zwar folgt die Statik dem architektonischen Konzept, indem die Anordnung der Tragstruktur die Grundrisslinien nachzeichnet, doch sie behält eine gewisse Ambivalenz. In Kombination mit der transparenten Fassade wirkt das Fachwerk raumbildend, indem es die Grenze nach aussen verdeutlich, doch gleichzeitig tritt es eher als optischer Filter denn als Abschluss in Erscheinung. Durch mattes Profilit-Glas hinterlegt, wie dies in den Klassenzimmergeschossen und im 4. OG der Fall ist, verstärkt sich dagegen sein trennender Charakter als (aufgelöste) Wand.

Auch in Bezug auf das Thema der Stapelung nimmt die Tragkonstruktion eine schillernde Stellung ein. So vereint das Fachwerk nicht nur die drei funktional zusammengehörenden Schulzimmergeschosse, sondern verbindet sie formal auch mit der Turnhalle. Auf diese Weise sind sämtliche Unterrichtsgeschosse – im Unterschied zu den beiden komplementären Gemeinschaftsgeschossen EG und 4. OG – durch eine aussen liegende Tragkonstruktion gekennzeichnet. Dadurch entsteht eine Verbindung zwischen den Geschossen bzw. zwischen den beiden grossen Hauptvolumina. Dies wiederum legt eine neue Deutung nahe: Das Gebäude ist nicht mehr nur als Stapelung von Geschossen lesbar, sondern auch, wie der Architekt anmerkt, als zwei übereinander stehende «maisons sur pilotis».

Eine der Qualitäten des Schulhauses besteht darin, dass sein Reichtum an Bezügen und Andeutungen sich nicht aufdrängt, sondern sich erst langsam erschliesst. Spannungsvoll ist die Bewegung von einem Raum in den anderen; die einzelnen Räume jedoch sind ruhig und zurückhaltend materialisiert. Die Baustoffe – Beton, Stahl, Glas, Kunststein – sind prägnant, ohne erdrückend zu wirken. Wo immer möglich, wurde vereinfacht. Die gefalteten Betondecken enthalten viel Infrastruktur (vgl. «Reiches Innenleben», S. 40), doch im Normalfall, das heisst bei geradeaus gerichtetem Blick, erscheinen sie monolithisch: Zu sehen sind einzig kleine Sprinkler. Die Beleuchtungskörper und Lüftungsöffnungen sind in die Faltungen der Decken integriert und nur sichtbar, wenn man den Kopf hebt. Ebenfalls in die Falten geschmiegt und im Beton kaum zu erkennen sind graue Akustikplatten, die angesichts der durchgehend harten Oberfl ächen die Nachhallzeiten senken sollen. Ob der Lärmpegel damit genügend gesenkt werden kann, wird sich im Gebrauch zeigen. Sicher dagegen ist, dass die Schulkinder in diesem Gebäude einiges über Baukunst lernen können.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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