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TEC21 2010|10
Die Schweiz wird knapp
TEC21 2010|10
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Rufer in der Wüste

Die Pioniere der Schweizer Raumplanung waren Rufer in der Wüste. Es dauerte Jahrzehnte, bis sie Gehör fanden. Ihr Mut und Pioniergeist wären auch heute wieder gefragt, denn die Raumplanung steht an einem Wendepunkt.

Armin Meili war Architekt und Pionier der schweizerischen Raumplanung. Was bringt einen namhaften Architekten und erfolgreichen Direktor der «Landi 39» dazu, sich über Jahrzehnte hinweg mit Hingabe einem Anliegen zu verschreiben, von dem er in seinen Lebenserinnerungen selbst urteilte, es habe ihn zum «Rufer in der Wüste» gemacht? Meili war der festen Überzeugung, dass es nur mit Hilfe der Landesplanung – wie die Raumplanung damals hiess – gelingen könne, die weitere «Verhüselung» der Landschaft zu verhindern, «die Schönheit unserer Heimat» zu erhalten und die künftige Entwicklung des Landes so zu gestalten, dass sie «dem Wohlergehen des einzelnen Menschen bestmöglich Rechnung trägt». Aufgabe der Landesplanung sei es, die unterschiedlichen Nutzungsansprüche an den Boden zu koordinieren und «die Anlagen der Städte, der landwirtschaftlichen Gebiete, der Verkehrswege zu Land und Wasser sowie in der Luft mit Bedacht der Entwicklung anzupassen und aufzubauen»[1].

Als Meilis Publikation «Allgemeines über die Landesplanung» 1933 erschien, stiessen diese Zielsetzungen in Fachkreisen rasch auf Sympathie; der Kreis der Freunde der Landesplanung wuchs stetig. Doch in der Verfassung wurde die Raumplanung erst 1969 verankert. Weshalb dauerte es so lange?

Ungezügeltes Wachstum

Die Raumplanung war nie eine Massenbewegung «von unten», sondern formierte sich in den 1930er-Jahren als kulturpolitische Bewegung einer Elite, die für den Schutz der Heimat plädierte und die Landesplanung zu einem Teil der Geistigen Landesverteidigung erhob. In der Zwischenkriegszeit und nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten der Landesplanung jedoch gesetzliche Regelungen – insbesondere die von Armin Meili bereits 1941 geforderte verfassungsrechtliche Grundlage –, aber auch der Rückhalt in der breiten Öffentlichkeit. Denn staatliche Planung war nach den langen Krisen- und Kriegsjahren unbeliebt, man wollte die wiedergewonnenen Freiheiten ohne Einschränkungen ausleben. Und Planung wurde seit ihren Anfängen in den 1930er-Jahren mit staatlichem Dirigismus und Enteignung assoziiert. Die 1950er-Jahre brachten Wirtschaftswachstum und Konsumgesellschaft – und wurden damit zur Wiege der Umweltproblematik. Denn in keinem Jahrzehnt zuvor war die Veränderung der natürlichen Umwelt durch das Wachstum der Industrie, die Intensivierung der Landwirtschaft, die Motorisierung des Individualverkehrs und den Wandel der Lebensformen so tief greifend gewesen. Zwischen 1950 und 1970 wuchs die Bevölkerung der Schweiz von 4.7 auf 6.3 Mio. und die Zahl der Autos um 700 %, die überbaute Fläche verdoppelte sich. Von 1954 bis 1959 wurde das Netz der Nationalstrassen geplant, ohne dass deren Lenkungswirkung auf die Siedlungsentwicklung thematisiert wurde. Kritische Auseinandersetzungen mit den Folgen des Wachstums blieben in den 1950er-Jahren Ausnahmen. Lediglich der Lawinenwinter 1951 / 52 bewirkte eine Sensibilisierung für Naturgefahren.

Erste Schutzverordnungen

Die Planer bemühten sich während dieser Zeit trotz fehlenden rechtlichen Grundlagen nach Kräften. Mit viel Innovationsgeist machten sie sich an die Entwicklung des erforderlichen Instrumentariums und bauten auf Erfolgen auf, die bereits in den 1940er-Jahren erzielt worden waren, etwa bei der Sicherung von Frei- und Grünflächen mit der Schutzverordnung Greifensee (1941), der Juraschutzverordnung (1942) oder dem Bericht «Landschaftsschutz am Zürichsee» (1945). 1943 war die Schweizerische Vereinigung für Landesplanung (VLP) mit Armin Meili als erstem Präsidenten gegründet worden. Ihr Ziel war, die noch junge Landesund Regionalplanung durch Studien und eine Zusammenarbeit mit Bund, Kantonen und Gemeinden zu fördern. In zahlreichen Gemeinden und Regionen bzw. Kantonen nahmen in den 1950er-Jahren Regional- und Ortsplanungen ihre Anfänge. Als grosser Erfolg ist auch die Revision des Hochbautengesetzes des Kantons Basel-Stadt (1959) zu werten, mit der eine Verkleinerung der Bauzonen erreicht wurde.

Mit manchen Anliegen scheiterten die Planer aber. 1956 setzte der Regierungsrat des Kantons Zürich eine Expertenkommission für Regionalplanungsfragen ein mit der Aufgabe, «Vorschläge zu unterbreiten über Massnahmen, die geeignet wären, der weiteren unerwünschten Zusammenballung von Menschen entgegenzuwirken». Im Abschlussbericht empfahl die Kommission 1960 eine «dezentrale Besiedelung» mit Wetzikon und Bülach als starken Regionalzentren neben Zürich und Winterthur. Dieses siedlungspolitische Konzept fand jedoch die Unterstützung der Politik nicht, sodass die notwendigen Vorleistungen der öffentlichen Hand, etwa der Ausbau des Verkehrssystems, nicht erfolgten. Wetzikon und Bülach blieben unattraktiv für Investitionen in den Wohnungsbau. Das Glatttal lag näher: Die heutige Glatttalstadt nahm ihren Anfang.

Die Folgen des Booms

In den 1960er-Jahren wurde das übermächtige «Vorwärts!», das die unmittelbare Nachkriegszeit geprägt hatte, von einem «Wohin?» abgelöst. Die anhaltende Überhitzung der Bauwirtschaft schuf Probleme. Zwischen 1960 und 1963 wurden in den eidgenössischen Räten insgesamt acht Motionen und Postulate eingereicht, die die Bodenspekulation, die Steigerung der Bodenpreise und die Notwendigkeit einer Bodenpolitik betrafen. Zersiedlung, Umweltzerstörung und Bodenpreisexplosion überschritten die Schmerzgrenze aller Bevölkerungsteile. Spätestens als aus dem Wasserhahn verschmutztes Wasser rann und selbst auf entlegensten Waldlichtungen Häuser entstanden, wurde den Bürgern bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Der «planlosen Bauerei» sollte Einhalt geboten werden.

Das Jahr 1963 markiert einen Wendepunkt. Im März wurde die Typhusepidemie in Zermatt zu einem umweltpolitischen Schlüsselerlebnis. Im Juli reichten SP und Gewerkschaftsbund zusammen das «Volksbegehren gegen die Bodenspekulation» ein. Die Initiative verlangte, dass der Bund «unter Mitwirkung der Kantone Massnahmen zur Verhinderung einer ungerechtfertigten Steigerung der Grundstückpreise, zur Verhütung von Wohnungsnot und zur Förderung einer der Volksgesundheit und der schweizerischen Volkswirtschaft dienenden Landes-, Regional- und Ortsplanung» treffe.

Ein immer grösserer Kreis von Führungspersönlichkeiten erkannte die Gefahren der «planlosen » Besiedelung und setzte sich für die Landesplanung ein. In Rudolf Stüdeli, ab 1960 Direktor der VLP, fand die Landesplanung einen engagierten Lobbyisten. Die Politik näherte sich der Raumplanung als staatspolitischer Aufgabe zögerlich, aber stetig an, auf Bundesebene ausgehend von der Wohnbauförderung. 1965 wurde Fritz Berger Delegierter des Bundesrats für den Wohnungsbau. Sein Ziel war es, möglichst rasch genügend Wohnungen von guter Qualität am richtigen Ort zu erstellen. Berger erteilte dem 1961 an der ETH Zürich gegründeten Institut für Orts-, Regional und Landesplanung unter der Leitung von Martin Rotach (dem späteren Delegierten des Bundesrats für Raumplanung) den Auftrag, «schweizerische Siedlungskonzepte mit Leitbildern» auszuarbeiten. Diese bildeten die Grundlage für das planerische Leitbild der «dezentralisierten Konzentration»[2]. Im Vordergrund stand die Idee der Planung eines räumlichen Endzustandes. Es zeigte sich jedoch in der Folge, dass diese Herangehensweise zu sehr vom Glauben an die Beherrschbarkeit des Modernisierungsprozesses und die Steuerbarkeit des sozioökonomischen Systems beseelt war und letztlich am Föderalismus scheiterte.

Raumplanung wird endlich verankert

Die Initiative gegen die Bodenspekulation wurde 1967 von Volk und Ständen abgelehnt. Trotzdem wirkte sie als Beschleuniger für die Institutionalisierung der Raumplanung. Im Kalten Krieg, der geprägt war von Antikommunismus und der Angst um die freiheitliche, demokratische Gesellschaftsordnung, ortete die politische Elite eine «redaktionelle Lücke» in der Bundesverfassung, in der eine ausdrückliche Eigentumsgarantie fehlte. Sie sah die Gelegenheit, dieses Loch im Zuge einer verfassungsrechtlichen Regelung der Landesplanung zu stopfen. Denn so viel war klar: Eine Regelung landesplanerischer Anliegen musste Aussagen zu den öffentlichrechtlichen Beschränkungen des Grundeigentums treffen, die aus der Planung resultieren würden. 1969 wurden die ergänzenden Verfassungsartikel 22ter, der das Grundeigentum und Entschädigung bei Enteignung garantierte, und 22quater mit der Grundlage für die Raumplanung zusammen vom Volk angenommen. Zur vollständigen Institutionalisierung fehlte nun noch ein Bundesgesetz über die Raumplanung.

Notrecht gegen Zersiedelung

Die Ausdehnung der Siedlungsfläche schritt, wenn auch nach dem Ölschock von 1973 abgeschwächt, munter fort. Es war deshalb ein Akt von politischer Weitsicht, dass der Bundesrat 1972 den Bundesbeschluss über dringliche Massnahmen auf dem Gebiet der Raumplanung erliess. Mit ihm wurde – wenn auch nur durch notrechtlichen Erlass und für einen Teilbereich – erstmals Raumplanungsrecht des Bundes verwirklicht. Im Fokus standen gefährdete Landschaften; der Bundesbeschluss schuf die Grundlage für die Ausscheidung grosser Schutzgebiete durch die Kantone. Wie nötig diese Weitsicht war, zeigte sich, als das Volk 1976 die Vorlage für das Raumplanungsgesetz ablehnte. Erst die zweite Vorlage wurde 1979 angenommen. Seit 1980 trennt das Raumplanungsgesetz Siedlungsgebiet von Nichtsiedlungsgebiet und gibt Bund, Kantonen und Gemeinden ein Instrumentarium an die Hand, das eine geordnete Besiedlung und einen haushälterischen Umgang mit dem Boden erlaubt.

Pioniere mit Mut und Ausdauer

Dem Einsatz der Pioniere ist es zu verdanken, dass der Raumplanung der Weg geebnet wurde und die Schweiz heute ein attraktiver Wirtschafts-, Wohn- und Erholungsstandort ist. Zahlreiche Eingriffe mit verheerenden Folgen für das Siedlungs- und Landschaftsbild konnten damit verhindert werden. Trotzdem beurteilen viele Raumplanungspioniere, die im Rahmen des ETH-Forschungsprojektes zur Geschichte der Raumplanung Schweiz befragt wurden, die Erfolge rückblickend alles andere als euphorisch. In der öffentlichen Meinung wird Raumplanung nach wie vor kritisch beäugt. Und gegenwärtig fühlen sich viele RaumplanerInnen wieder als «Rufer in der Wüste». Denn die Zersiedlung konnte bislang nicht im erwünschten Mass eingedämmt werden. Mit der hängigen, breit abgestützten Landschaftsinitiative ist eine ähnliche Situation entstanden wie in den 1960er-Jahren bei der Initiative gegen die Bodenspekulation: Die Politik bemüht sich heftig, der als radikal empfundenen Initiative mit einer Teilrevision des Raumplanungsgesetzes eine weniger mutige Variante entgegenzustellen. Doch zeigt der Blick auf die 1950er- bis 1970er-Jahre, dass in der Raumplanung Wirkung nur mit mutigen Schritten – und mit viel Ausdauer – zu erreichen ist.


Anmerkungen:
[01] Armin Meili: Landesplanung in der Schweiz. Separatdruck NZZ, 1941
[02] Raumplanerisches Leitbild der Schweiz CK-73. Eine Grundlage für das Gespräch zwischen Bund und Kantonen. Hg. Martin Rotach, Delegiertier für Raumplanung. Bern 1

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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