Zeitschrift

hochparterre 10|2010
Zeitschrift für Architektur und Design
hochparterre 10|2010
zur Zeitschrift: hochparterre

Auf den zweiten Blick

Mike Guyer, Jurypräsident der Distinction Romande d’Architecture über die Szene im Welschland: «Die Architektur ist verspielter.»

20. Oktober 2010 - Roderick Hönig
2006 schrieb der Architekturprofessor Martin Steinmann anlässlich der ersten Distinction romande d’architecure (Dra): «L’architecture romande n’existe pas.» Stimmen Sie dem zu? Nein. Die 256 Eingaben zeichnen auf den ersten Blick kein klar erkennbares Bild, aber die Architektur in der Romandie zeigt Merkmale, welche sie von derjenigen in der Deutschschweiz, im Kanton Graubünden oder im Tessin unterscheiden.

Welche? Die Architektur ist weniger ernsthaft, unbeschwerter, verspielter, von einem südländischeren Lebensgefühl geprägt. Man geht unvoreingenommener mit architektonischen Vorbildern und Referenzen um. Ihre Architekten sind bescheidener in den architektonischen Ambitionen und oft entspannt pragmatisch.

Welchen Stellenwert hat Architektur in der Westschweiz im Vergleich zur Deutschschweiz? In der Romandie wird weniger gebaut als in Zürich oder Basel. Demzufolge ist die Auseinandersetzung mit Städtebau und Architektur weniger intensiv, die Architektur in den Tagesmedien weniger präsent. Umso stolzer sind die politischen Vertreter der Gemeinden und Städte auf ihre einmal realisierten öffentlichen Gebäude. Die Architektur in der Romandie wächst langsamer, stiller, bodenständiger, aber in den Inhalten oft verdichteter und in der Tradition abgestützter.

Welche rolle spielt die Architekturhochschule EPFL? Sie ist das fachliche und theoretische Zentrum, an dem sich alle mitunter orientieren. Viele der Protagonisten — auch solche, die jetzt ausgezeichnet wurden — haben in Lausanne studiert und lehren jetzt an der Schule. Der Austausch zwischen der Romandie und der Deutschschweiz ist an der EPFL in Form des Studenten- und Lehreraustausches am fortgeschrittensten. Die EPFL ist durch ihre dynamische Entwicklung — in der Architektur dokumentiert durch das Erasmus-Programm und dem prestigeträchtigen Bau des Learning Center — durchaus mit der ETHZ vergleichbar und hat eine Ausstrahlung, die weit ins Ausland reicht.

Gibt es eine Architekturszene? Ja, die DRA ist der Beweis dafür. Die Szene ist in den ländlichen Gebieten verstreut, verdichtet sich aber in Genf, Lausanne, Neuenburg und Freiburg. Jede Region hat eine Handvoll herausragender Büros, die das lokale Architekturgeschehen prägen.

Gibt es Tendenzen in der Westschweizer Architektur? Die ausgezeichneten Projekte: zwei Schulen, ein Bürogebäude, ein Chalet, ein Stadion, Einfamilienhäuser und ein Umbau zeichnen sich nicht durch ein primär «lautes» Auftreten aus. Ihre Qualitäten sind erst auf den zweiten Blick erkennbar. Das gewählte Entwurfskonzept ist in allen Massstabsebenen mit unterschiedlicher Gewichtung präsent. Es entstehen Vielschichtigkeiten, die bei der Begehung der Gebäude immer wieder zu Überraschungen und neuen Erkenntnissen führen, die in den Plänen und Fotografien der Portfolios nicht erkennbar waren. In der Nutzung und Typologie sind die ausgewählten Gebäude verschieden, ihnen gemeinsam sind aber Lösungen, die eine allgemein gültige Relevanz haben. Es ist eine Tendenz, die geprägt ist durch Inhalt und nicht durch Form.

2006 hat Martin Steinmann geschrieben, dass die Kategorie Wohnungsbau quasi fehlt, weder Gemeinden noch Genossenschaften nähmen ihre Verantwortung wahr. Hat sich das gegenüber 2010 geändert? Leider nein. Wer die Verhältnisse in Zürich und Basel kennt, ist ernüchtert. Das Regelwerk für Wohnungsbau in der Westschweiz, also welche Mieterträge man erwarten kann, was das Land kostet, was das Bauen überhaupt kostet, führt zu so harten Bedingungen, die kaum qualitätvolle Architektur zulassen. Hier braucht es ganz klar ein grösseres Engagement von der Bauherrenseite, sei sie privat oder öffentlich. Der Bedarf nach gutem Wohnraum, in Genf, aber auch in kleineren Städten, ist grösser als nirgendwo, doch gute Architektur braucht geschütztere Räume. Dazu kommt, dass der Mietermarkt sehr konservativ ist und Bauherren deswegen das Risiko von innovativen Grundrissen scheuen.

Was konnten Sie von der mehrtägigen Jury - reise mit in die Deutschschweiz nehmen? Ich habe einen Teil der Schweiz besser kennengelernt, den ich äusserst vielfältig und sehr interessant finde. Wir haben während der Reise Landschaften und Architekturen in einer kontinuierlichen Bewegung wahrgenommen. Die verschiedenen Regionen wurden wie in einem Zeitraffer aneinandergereiht. Die Erinnerungen sind mir wie ein Film erhalten geblieben.

Für die «Distinction» haben sich Verbände und Kantone zusammengetan und sich auf einen Preis konzentriert. In Zürich schreiben Stadt und Kanton je einen eigenen Architekturpreis aus und konkurrenzieren sich gegenseitig. Was hilft der Vermittlung der Architektur mehr? Die DRA ist eines der nachhaltigsten Konzepte für einen Architekturpreis. Alle, die in irgendeiner Weise involviert waren, sei es von Behörden-, Planer- oder Bauherrenseite, sind vom Verfahren und der Auszeichnung überzeugt. Ein wichtiger Pulspunkt ist die Koppelung der DRA an eine Medienbegleitung, die über die Fachkreise hinausgeht. Eine Ausstellung mit allen nominierten Bauten wandert durch die Schweiz und das Ausland. L’Hebdo legt die Begleitpublikation bei und erreicht so über 200 000 Leser, zudem porträtiert die Zeitschrift wöchentlich eine Auswahl Büros beziehungsweise Projekte. Damit wird der Wirkungsgrad der DRA beträchtlich erhöht. Auch öffnen die Besitzer der nominierten Projekte ihre Häuser an bestimmten Daten für die Öffentlichkeit.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

Ansprechpartner:in für diese Seite: Roderick Hönighoenig[at]hochparterre.ch

Tools: