Zeitschrift
Schützende Schale
Dachaufstockung in Stuttgart
Hin und wieder entstehen aus einer Notlage die besten Ideen – so auch bei einer Dachaufstockung eines Gründerzeithauses in Stuttgart. Weil sich eine Eigentümergemeinschaft die Renovierung ihres Dachstuhls nicht leisten konnte, kam Architekt Florian Danner zusammen mit einem Studienkollegen zum Zug. Der Deal war so simpel wie genial: Eine »kostenlose« Sanierung im Tausch gegen neuen Wohnraum. Heute haben die Bewohner wieder ein intaktes Dach und die ehemaligen Kommilitonen erfreuen sich an ihren hochmodernen Penthouse-Wohnungen. Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, dass die Aufstockung nicht historisierend die Gründerzeit »nachbaut«, sondern mutig zeigt, in welchem Jahrtausend sie entstanden ist.
Neben dem Wohnbereich mit offener Küche befinden sich im 1. DG in jeder Wohneinheit noch ein abgeschlossener Arbeitsraum mit modernen Lamellendachfenstern (s. S. 39) sowie ein Gäste-WC. Über auskragende Stahlschwerter, die in den neuen Betonkern des aufgestockten Treppenhauses eingelassen sind, erklimmt man das 2. DG. Um die Großzügigkeit der Räumlichkeiten auch hier nicht einzuschränken, hat Architekt Danner das Bett in den Boden eingelassen und den Sanitärbereich ohne Trennwand unmittelbar zugänglich gemacht. Der Nachbar war hier zurückhaltender: Von einem »normalen« Bett aus genießt aber auch er durch Ganzglasfassaden den grandiosen Rundumblick auf Stuttgart. Eine zweite Dachterrasse nach Süden komplettiert jeweils den hohen Wohnstandard.
Genehmigungsmarathon
Soviel vorweg: Das Projekt entspricht der baurechtlichen Vorgabe nach einem Steildach. In Sachen Gestaltung war die Eigentümergemeinschaft sofort begeistert – Baurechtsamt und das Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung blieben lange skeptisch.
Durch die ausgeprägte Topografie – die Kessellage – hat die »schwäbische Metropole« quasi eine fünfte Ansicht. Der Genehmigungsmarathon durch die Baubehörden der Landeshauptstadt endete nach ca. einem Jahr, als sich Bürgermeister Matthias Hahn von der Aufstockung begeistert zeigte. Ursprünglich verbotene Dachterrassen konnten als dem Entwurf geschuldete Restflächen eingestuft werden und außerdem kam man zu der Ansicht, dass die außergewöhnliche Ecksituation des Gründerzeitgebäudes ein außergewöhnliches Dach verträgt. Strenge Auflagen seitens der Behörden waren jedoch, dass der Entwurf 1:1 umgesetzt werden musste und dass nachträgliche Veränderung wie z. B. Satellitenschlüsseln und Sonnenkollektoren einer Genehmigung bedürfen – auch bei späterem Eigentümerwechsel.
Ein Brückenspezialist für die Statik
Leitidee des Entwurfs war die Vorstellung einer massiven, im Querschnitt s-förmigen Schale. Wie aus einem Guss sollte sie eine schützende Haut ausbilden, bei der Wand, Decke und Dach fließend ineinander übergehen. Um das möglichst filigran umzusetzen, zog Florian Danner seinen ehemaligen Statik-Professor Gustl Lachenmann – Spezialist für schlanke Brücken – hinzu. Die Wahl fiel auf eine Stahl-Holzkonstruktion. Nur das aufgestockte Treppenhaus ist betoniert und dient als aussteifendes Element. In diesen Betonkern eingemauerte und zusätzlich auf Stahlstützen gelagerte IPE-300- bzw. IPE-240-Stahlträger bilden das Haupttragwerk der Dachaufstockung. Die Konstruktion der geschwungen Schale – oder Muschel – hingegen besteht aus Leimholzsparren, deren Zwischenräume mit Dämmung gefüllt sind. Der Dachaufbau setzt sich mit Unterspannbahnen, Konterlattung und Lattung nach außen hin fort. Dort, wo das Dach gekrümmt ist, mussten Bögen aus der Lattung gesägt werden. Um eine absolut dichte und gleichförmige Außenhaut zu erhalten, wurde die äußerste Beplankung mit einer 3-5 mm dünnen, lichtgrauen Polyurethan-Spritzbeschichtung überzogen (s. S. 39). Eine statische Herausforderung waren außerdem die teilweise um 27 ° nach innen geneigten Ganzglasfassaden, die ohne schwerfällige Rahmenkonstruktion auskommen sollten. Nachdem sich auf dem Markt verfügbare Produkte als zu teuer erwiesen, entwarfen Architekt, Tragwerksplaner und Fensterbauer eine leichte Tragkonstruktion, bei der die schwere Zweifachverglasung – sie gilt als Überkopfverglasung – auf erstaunlich schlanken Stahlprofilen (Achsabstand = 1,25 m) aufgeklebt ist. ›
Kfw-40-Haus
Beim Energiekonzept spielt eine Luftwärmepumpe die zentrale Rolle. Da die großen Glasflächen einen hohen Sonneneintrag auch im Winter garantieren, können über das Be- und Entlüftungssystem (Wärmerückgewinnung) Heizung und Warmwasser zu einem großen Teil mit der über die Fassaden gewonnenen Energie gespeist werden. Als förderungswürdiges »Kfw-40-Haus« ist der Dachaufbau eingestuft, da der Primärenergiebedarf bei 41 und Heizwärmebedarf bei 44 kWh/m²a liegt.
Die Dachaufstockung gilt heute als Vorreiterprojekt in Stuttgart und gibt Hoffnung, dass weitere solch mutige Projekte genehmigt werden. Vor allem die häufige Vorgabe, Steildächer planen zu müssen, bereitet Architekten Kopfzerbrechen – eine eigene, zeitgemäße Formensprache wird durch strikte Bauvorschriften eingeschränkt oder gar unmöglich gemacht.
Florian Danner hat sich der Herausforderung gestellt: Ohne die rechtlichen Rahmenbedingen zu verletzen, konnte er seine Vorstellungen von moderner Architektur im 21. Jahrhundert überzeugend umsetzen. Heute fügt sich das 2009 fertiggestellte Projekt selbstbewusst in das Stadtbild ein und akzentuiert den historischen Kontext, ohne ihn unangenehm zu dominieren.
Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung
Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkel