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Hochparterre 04|2006
Zeitschrift für Architektur und Design
Hochparterre 04|2006
zur Zeitschrift: hochparterre

Breslau unterwegs nach Europa

Breslau, die polnische Stadt an der Oder, fungiert nicht auf der Hitliste der Städtereisenden. Dabei gibt es gerade für Architekten vieles zu entdecken. Sie finden zum Beispiel die Jahrhunderthalle, eine Werkbundsiedlung und einen Bau von Mendelsohn. Oder die polnische und deutsche Vergangenheit und eine europäische Zukunft.

27. April 2006 - Werner Huber
Wer als Architekt ‹Breslau› hört, denkt an die Jahrhunderthalle oder die Werkbundsiedlung. Mehr fällt dazu kaum jemandem ein und auf die Frage, wo Breslau liegt, wissen nur wenige eine Antwort – jedenfalls in der Schweiz, die von den Wirren des Krieges und dessen Folgen verschont blieb. Ist Breslau Bratislava? Nein, Breslau liegt in Polen, heisst dort Wrocław (sprich ‹Wrotzwuaff›) und ist die Hauptstadt der Wojewodschaft Dolny Śląsk, Niederschlesien.

Das war nicht immer so: Breslau war der Reihe nach tschechisch, polnisch, wieder tschechisch, österreichisch und preussisch. Bis 1945 gehörte Niederschlesien zum Deutschen Reich und Breslau war eine deutsche Grossstadt mit 660 000 Einwohnern. Diese mussten als Folge der von den Alliierten beschlossenen Westverschiebung Polens ihre Stadt nach Kriegsende verlassen. An ihrer Stelle wurden Polen aus den von der Sowjetunion annektierten ostpolnischen Gebieten und aus dem übrigen Land angesiedelt – eine für Deutsche und Polen gleichermassen traumatische Erfahrung. Heute ist Wrocław mit 632 000 Einwohnern nach Warschau, Lódż und Krakau die viertgrösste Stadt des Landes.

Herausgeputzte Fassaden, neues Pflaster auf dem Boden, attraktive Geschäfte und belebte Restaurants – die gute Stube Breslaus, der Rynek (Marktplatz) und der Plac Solny (Salzmarkt), hat seit der Wende von 1989 ihren sozialistischen Grauschleier abgestreift. Auch die Geschäftsstrasse ulica Świdnicka erhielt ein neues Gesicht und zurzeit pflügen die Baumaschinen die ulica Oławska um. Mehrere der immer noch zahlreichen Brachen, die der Krieg hinterlassen hat, sind in den letzten Jahren bebaut worden. Zwar sind das Wratislavia Center, das Qubus-Hotel oder andere Neubauten keine architektonischen Highlights, doch schliessen sie die Strassenräume und geben der Stadt ihre einstige bauliche Dichte zurück. Der Neubau für die juristische Fakultät neben dem barocken Uni-Hauptgebäude zeigt, dass sich die Altstadt auch ausserhalb der beiden Hauptplätze wandelt. An manchen Stellen erinnert Breslau an das boomende Leipzig der Neunzigerjahre, während sich an anderen Ecken, so am Nowy Targ (Neumarkt), noch immer der Geist des Sozialismus festzuklammern scheint.

Polnische Vergangenheit

Weil die Rote Armee im Mai 1945 die ‹Festung Breslau› aus Süden und Westen umklammert hatte, waren die nördlichen und östlichen Quartiere weit gehend intakt geblieben. Hier siedelten sich die ersten Polen an und der Platz vor dem Bahnhof ‹ Wrocław Nadodrze› war das erste Zentrum des polnischen Breslaus. Für die neuen Bewohner war die Stadt fremd; alle Aufschriften waren deutsch, deutsch geprägt war die Architektur. Viele zweifelten, dass sie lange in den ‹wiedergewonnenen Gebieten›, so die offizielle Sprachregelung, bleiben könnten. Die polnischen Machthaber wollten Fakten schaffen und beweisen, dass Breslau eine polnische Stadt ist. Weil die gotischen Kirchen die einzigen Zeugen der polnischen Piastenzeit waren, liessen die Kommunisten ausgerechnet die Kirchen als erstes wieder aufbauen, wie der Architekturprofessor Janusz Dobesz erzählt. Doch bevor der Wiederaufbau im grossen Stil überhaupt einsetzte, musste Breslau, getreu der Losung ‹Das ganze Volk baut seine Hauptstadt›, Millionen Trümmersteine nach Warschau verfrachten. Wegen dem verspäteten Wiederaufbau hinterliess der sozialistische Realismus, der das Baugeschehen zwischen 1949 und 1956 bestimmte, in Breslau nur wenige Spuren, so das Kościuszko-Wohnviertel KDM und die Ostseite der ulica Świdnicka. In den Sechzigerjahren machte man sich an den Aufbau des am stärksten zerstörten nordöstlichen Teils der Altstadt rund um den Nowy Targ, den Neumarkt. Hier wähnt man sich eher in einem Neubauviertel als in der Altstadt. Zwei bemerkenswerte Bauten aus der Zeit der Volksrepublik sind die Überbauung am Plac Grunwaldzki und der Rundbau für das Panoramagemälde der Schlacht von Racławice.

Fast ebenso stark wie der Sturm der ‹Festung Breslau› in den letzten Kriegstagen zerstörten in den Siebzigerjahren die Tiefbauer die Stadt, als sie eine sechsspurige Schnellverkehrsstrasse samt Tramtrassee durch die Altstadt legten, die nach Kazimir dem Grossen benannte . ulica Kazimierza Wielkiego. Im Anschluss an die ‹Trasa W-Z›, wie die Propaganda die Ost-West-Transversale in Anlehnung an das Warschauer Prestigeobjekt der späten Vierzigerjahre nannte, verschwanden in den Achtzigerjahren mehrere Strassengevierte der einstigen Ohlauer Vorstadt unter einem Strassenkreuzungsbau, wie man ihn sonst nur an grösseren Autobahneinfahrten findet.

Deutsche Vergangenheit

Erst mit der Zeit haben die neuen Bewohner die deutsche zu einer polnischen Stadt gemacht. Doch ist gerade in Polen, das bis 1918 während über hundert Jahren als Staat nicht existierte, die Unterscheidung zwischen deutsch und polnisch gar nicht so einfach. So gibt es auch in Poznań, Bydgoszcz und Toruń Bauten aus preussischer Zeit, weil diese Städte als Posen, Bromberg und Thorn bis 1918 Teil des Deutschen Reiches waren.

Einmalig für Polen ist in Breslau jedoch die Dichte an Bauten der Moderne der Zwanziger- und Dreissigerjahre. Mitten in der Altstadt ragt seit 1930 das zehngeschossige ‹Hochhaus› der Breslauer Stadtsparkasse in die Höhe und gleich daneben steht Adolf Radings Mohrenapotheke von 1928 (HP 1-2/01). An der ulica Oławska streckt das einstige Kaufhaus Petersdorff von Erich Mendelsohn seinen Erker in die Strasse und zwei Häuser weiter steht das frühere C & A-Gebäude von 1930. Überdauert haben auch ein Geschäftshaus von Hans Poelzig, das Warenhaus Wertheim von Hermann Dernburg, das Postcheckamt von Max Neumann und das Generalstabsgebäude von Otto Rudolf Salvisberg. Auch die Bauten der Werkbundsiedlung von 1929 mit Hans Scharouns Wohnheim für Ledige und frisch Verheiratete sind in ihrer Substanz weit gehend erhalten. Eines der Wahrzeichen der Stadt ist schliesslich die Jahrhunderthalle, die Stadtbaurat Max Berg 1913 zum hundertjährigen Jubiläum der Völkerschlacht von Leipzig baute.

Die polnische Denkmalpflege hat den Wert dieser Gebäude längst erkannt. Den Bewohnern ist es aber schwierig zu vermitteln, dass sie in einem Architekturdenkmal leben. «Für sie sind Denkmäler alt», erzählt Jadwiga Urbanik, die sich am Institut für Architekturgeschichte des Polytechnikums mit der Werkbundsiedlung befasst. Weil die Einfamilienhäuser privat sind, komme es auch zu Konflikten zwischen den Bewohnern und der Denkmalpflege. Für eine umfassende Sanierung fehlt das Geld, staatliche Hilfe gibt es praktisch nicht. Fachgerecht saniert sind die Jahrhunderthalle und der Scharoun-Bau, bei dem man jetzt laut Jadwiga Urbanik immerhin die bauphysikalischen Probleme im Griff habe und das Farbkonzept mit dem Original übereinstimme.

Europäische Zukunft

Die Perspektiven Breslaus sind günstig: Die politische und administrative Neuordnung Polens hat den Regionen mehr Eigenständigkeit und Budgetkompetenz gebracht. Nach der Öffnung der Grenzen zu Deutschland und Tschechien liegt Breslau in einem Dreiländereck, das dank der Mitgliedschaft in der EU Dynamik gewinnt. Das lange vernachlässigte Niederschlesien liegt heute, gemessen an den ausländischen Investitionen, auf Platz drei, zwar weit hinter Masowien mit Warschau, aber nur knapp hinter dem stark industrialisierten Oberschlesien. Trotzdem sagen demografische Prognosen, dass Breslau in den nächsten dreissig Jahren bis zu 40 000 Einwohner verlieren könnte.

Wer es sich leisten kann, erfüllt sich den Traum vom Haus im Grünen. Dieser Tendenz will die Stadt entgegenwirken, Arbeitsplätze und attraktive Wohnzonen schaffen. «Insbesondere wollen wir den 150 000 Studierenden unserer Stadt eine Perspektive geben, so dass sie nach Abschluss ihres Studiums in Breslau bleiben», hält der stellvertretende Stadtplaner Jacek Barski fest. Als grösstes Problem sieht Barski den Verkehr: Bis anhin musste sich der ganze Transitverkehr in Nord-Süd- und in Ost-West-Richtung durch das Zentrum quälen. Seit zwei Jahren ist die Millenniums-Brücke als Teil eines inneren Umfahrungsringes in Betrieb. Doch bis der ganze Ring fertig gestellt ist, dürften noch Jahre vergehen – ganz zu schweigen vom äusseren Ring, der dereinst die Stadt weiträumig umschliessen soll. Sind diese Strassen erst einmal gebaut, dann könne vielleicht auch die ‹Trasa W-Z› in der Altstadt zu einem Boulevard umgebaut, das Tram sogar in den Boden verlegt werden, sinniert Barski. Den öffentlichen Verkehr will die Stadt mit einem Park-and-Ride-System und mit einer besseren Verknüpfung von Bahn, Tram und Bus attraktiver gestalten. Wer die alten polnischen Vorortszüge und die oft völlig vernachlässigten Bahnhöfe, etwa ‹ Wrocław Nadodrze› kennt, kann sich vorstellen, welche Anstrengungen nötig sind. Doch der Neubau der die Altstadt querenden Tramlinie mit Geldern der EU beweist, dass die Stadt ihre Zukunft anpackt.

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Für den Beitrag verantwortlich: hochparterre

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