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TEC21 2011|36
Genève s'éveille
TEC21 2011|36
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ein zweites Stadtzentrum

Das Industriegebiet Praille - Acacias - Vernets (PAV) ist eines der grössten Stadtentwicklungsprojekte Europas. Unmittelbar südlich der Innenstadt gelegen, soll es in den nächsten Jahren zu einem dichten, gemischten Stadtteil für die 2000-Watt-Gesellschaft ausgebaut werden.

2. September 2011 - Ruedi Weidmann
Auf der Ebene südlich der Arve zwischen Genf, Carouge und Lancy befanden sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts einzelne Fabriken, Werkstätten und Schrebergärten. In den 1930er-Jahren wurden die Flüsschen Aire und Drize eingedolt, 1950 bis 1960 entstand der Güterbahnhof, ab 1960 liess der Kanton die Ebene mit einem Raster von Industriegleisen und Stichstrassen erschliessen und die Flächen im Baurecht an Lager- und Transportfirmen vergeben.[1] Das 230 ha grosse Gebiet liegt nur 2 bis 3 km vom Genfer Stadtzentrum entfernt in den Gemeindegebieten von Genf, Carouge und Lancy und ist zu 82 % im Besitz der öffentlichen Hand (Abb. 2). Es ist keine Brache, sondern wird von 1800 Betrieben mit fast 20 000 Angestellten genutzt, und es gibt rund 3000 Wohnungen. Mit seinen meist flachen Gebäuden und grossen Verkehrsflächen birgt es dennoch ein enormes Potenzial für die Stadtentwicklung.

Nach nur sechs Jahren Planung (vgl. Kasten zur Projektgeschichte) konnte das Gebiet dieses Jahr von der Industrie- in eine gemischte Zone umgezont werden, die deutlich mehr Ausnutzung erlaubt und so Anreiz für neue Nutzungen und dichtere Bauten schafft. Das PAV hat im Kantonalen Baudepartement seit 2008 eine eigene Direktion (DGPAV, heute DPAV). Die kleine, multidisziplinäre, junge und motivierte Gruppe ist für die Koordination zwischen den vielen involvierten kantonalen und kommunalen Amtsstellen sowie den betroffenen öffentlichen und privaten Betrieben verantwortlich. Von einem internationalen Expertenkollegium begleitet, treibt sie die Planung voran und entwickelt eine rege Informationstätigkeit.[2] Angestrebt wird nicht etwa eine Tabula-rasa-Strategie – das wäre wegen der laufenden Baurechtsverträge gar nicht möglich, und manche der vorhandenen Nutzungen sind auch durchaus weiterhin erwünscht. Vielmehr soll sich der Bestand nach und nach verdichten.

Ein neues Stadtzentrum

In dieser Innenstadterweiterung soll eine nachhaltige und verkehrsarme Lebensweise im Sinn der 2000-Watt-Gesellschaft möglich sein. Die detaillierten Rahmenbedingungen werden gegenwärtig in Studien, Studienaufträgen, Wettbewerben und partizipativen Workshops erarbeitet. Sie beschäftigen sich mit einzelnen Teilgebieten oder Sachfragen wie der Qualität des öffentlichen Raums oder der Entwicklung multifunktionaler Bautypologien und konkretisieren laufend den Masterplan von 2007 (Abb. 3). Die Grundprinzipien stehen aber fest: Bis in 20 Jahren soll das Gebiet 25 000 Bewohner und 25 000 Arbeitsplätze zählen und von der Dichte, dem Nutzungsmix und der Sozialstruktur her der heutigen Innenstadt entsprechen. Um das Verhältnis «1 Einwohner / 1 Arbeitsplatz» zu erreichen, ist bei den Neubauten, bezogen auf den ganzen PAV-Perimeter, ein Wohnanteil von 80 % nötig. Das ergibt rund 10 000 neue Wohnungen und ebenso viele neue Arbeitsplätze. Um Verkehr zu vermeiden, sollen Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Erholen wieder näher zusammenrücken, wenn möglich in Fuss- oder Velodistanz. Es werden Ausnützungsziffern von 2 bis 4 angestrebt, im zentralen Gebiet «Etoile» mit Hochhäusern und deutlich höherem Büroanteil soll sie gar 5 [5] betragen. Das sind Dichten, die im gesamten 20. Jahrhundert in der Schweiz als unvereinbar mit Lebensqualität galten. Es sind durchweg gemischte Überbauungen vorgesehen. Als mögliche Typologie der Bebauung wurde ein Turm entwickelt, der Wohnungen und Büros enthält, mit einem mehrstöckigen Sockelbau, in dem sich Dienstleistungen befinden, und einem von Läden und Restaurants genutzten Erdgeschoss. Je nach Ort, Parzellenform und im Zusammenspiel mit bestehenden Bauten können auch ganz neue Typologien entstehen, die mit ungewöhnlichen funktionalen Mischungen experimentieren. Der neue Stadtteil soll keinesfalls Gutbetuchten vorbehalten sein. Auf öffentlichem Grund wird deshalb ein Drittel der Wohnungen subventioniert sein, ein Drittel gemeinnützig und ein Drittel freitragend.

Das Gebiet wird künftig von den Ceva-Stationen Lancy-Pont-Rouge und Carouge-Bachet, drei Tramlinien und einem engen Netz von Velo- und Fusswegen mit neuen Passerellen über die Arve und die Bahn erschlossen. Es wurde in sieben Quartiere mit je eigenem Charakter unterteilt. Zwei grüne Achsen durchziehen es und verbinden es mit den regionalen Grünzügen entlang der Arve und auf der Moräne von Lancy. In diesem grünen Kreuz fliessen der Langsamverkehr und die renaturierten Flüsschen Drize und Aire, daran angedockt liegen Plätze, Parks und Gärten, Schulen, Kultureinrichtungen und Sportanlagen. Ergänzend dazu soll eine zweite Abfolge öffentlicher Räume das Quartier strukturieren. Dieser sogenannte «Ring» verbindet den Park «Bois de la Bâtie» im Norden mit dem Fussballstadion im Sü - den. Viel Gewicht wird der Lebensqualität im öffentlichen Raum beigemessen. Für dessen sorgfältige und benutzerfreundliche Gestaltung sind Projektwettbewerbe vorgesehen. Besonders platzintensive und lärmige Betriebe erhalten Unterstützung bei der Umsiedlung in andere Gewerbezonen. Bleiben können unter anderem rund zehn Recyclingfirmen, die man aber an einem Ort konzentrieren möchte. Für die Bauzeit soll ein Recyclinghof eingerichtet werden, denn rund 30 % des Abbruch- und Aushubmaterials soll vor Ort wieder Verwendung finden. Die Gleisanschlüsse will man zur Reduktion von Lastwagenfahrten nutzen, sie sollen aber modernisiert und zu einer Logistikplattform konzentriert werden.

Planungsablauf und erste Projekte

Bis 2013 muss der Quartierrichtplan erarbeitet sein, bis spätestens 2015 die sieben Quartierpläne. Um aus den kommenden Veränderungsschritten laufend Lehren für die weitere Entwicklung ziehen zu können, hat die DPAV diese Pläne als dynamische Instrumente ausgebildet. Sie geben kein starres Bild vor, sondern vielmehr eine starke Vision der strukturierenden Elemente, etwa die Qualität der öffentlichen Räume, an der sich einzelne Projekte jeweils orientieren sollen. Die Inkraftsetzung des Masterplans 2007 hat bereits etliche private Projekte ausgelöst. Diese werden gegenwärtig an die neuen Vorgaben angepasst. Erste Bauprojekte können bereits vor 2015 starten, Bedingung ist ein Projektwettbewerb nach SIA-Norm. Generell soll in Genf die Wettbewerbskultur gefördert werden, vor allem im Wohnungsbau, wo die Romandie in den letzten Jahren kaum Innovatives hervorgebracht hat.[6] In diesem Zusammenhang wird auch eine Debatte über die einschränkenden Bestimmungen im gemeinnützigen Wohnungsbau nötig sein.

Lernschritte über den Röstigraben

Noch ist von alldem nichts zu sehen, und noch begegnet man allenthalben der eingangs zitierten Skepsis. Doch die Zeichen dafür, dass der Wind gedreht hat bzw. die lange Flaute vorüber ist, sind deutlich. Seit einiger Zeit stimmt das Volk allen Vorlagen zur Raumentwicklung zu, dieses Jahr etwa einer Einzonung im lange heiligen Grüngürtel. Der Kantonsrat hat die Umzonung des PAV ohne Gegenstimme beschlossen. Und ganz offensichtlich ist eine neue Generation von weltoffenen Planerinnen und Planern am Werk, die die Stadtentwicklung in der Deutschschweiz kritisch verfolgt und genau besichtigt haben, nun aber deutlich weiter gehen wollen. So gesehen, erweist sich die Flaute als Chance für einen Lernschritt. Genfs Erwachen wird deshalb der ganzen Schweiz guttun. Selbst wenn einige der vielen Projekte noch nach alter Genfer Manier im Sand verlaufen sollten, wird es sich in nächster Zeit lohnen, über den Röstigraben zu schauen, um sich über ausgeschriebene Wettbewerbe zu informieren und um von den Erfahrungen zu profitieren, die man in den Genfer Entwicklungsgebieten machen wird.


Anmerkungen:
[01] Ausgeführt von der zu diesem Zweck gegründeten Fondation des terrains industriels Praille et Acacias (Fipa), heute Fondation pour les terrains industriels de Genève (FTI)
[02] «Le PAV s’expose» Nr. 1, Januar 2011 sowie: www.ge.ch/pav
[03] Tracés 20/2005, S. 6–16
[04] www.enf.ch > projekte > städtebau > Masterplan PAV
[05] «La ville en Arve»
[06] Vgl. auch Mike Guyer: «2e Distinction romande d‘architecture», Tracés 18/2010, S. 26 (www.baugedaechtnis.ethz.ch)

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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