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Die Krise der Repräsentation
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Komm in die Gänge

Wunder in der Stadt der Tiefgaragen

2. November 2011 - Christoph Twickel
Büropaläste in Glas und Stahl säumen die Straße, dazwischen Verwaltungsgebäude im klassischen norddeutschen Klinker. An jedem dritten Gebäude hängen Werbeplanen, die „hochwertige Büroflächen“ mit Slogans wie „Hier spielt die Musik“ oder „Arbeiten auf hohem Niveau“ feilbieten. Nur eines der Banner fällt aus dem Rahmen. Es hängt an einem vor Jahren eingerüsteten Gründerzeit-Wohnhaus mit schmutziger Fassade: „10.000 Quadratmeter unsaniertes Wohn- und Arbeiterquartier, seit Jahren für Sie leer. Ab null Euro den Quadratmeter. Schon zu 80 Prozent kreativ belegt.“ Dort, wo bei den anderen Bannern das Logo des Maklers steht, ist hier ein roter Punkt zu sehen. Darauf steht in weißer Schrift: „Komm in die Gänge“ – das Markenzeichen des wohl berühmtesten Häuserkampfes im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends: die Besetzung des Hamburger Gängeviertels.

Überall in der Republik spricht man vom „Wunder von Hamburg“ und bestaunt den Überraschungscoup, den die Besetzerinnen und Besetzer im Sommer 2009 landen konnten. Unter dem Slogan „Komm in die Gänge“ hatten sie an einem Wochenende im August zu einem „Hoffest“ in das langsam verfallende historische Arbeiterviertel eingeladen. „Über hundertfünfzig Künstler und Kreative“, heißt es in einer Erklärung, „bespielen ab Samstagmittag das Gängeviertel mit ihren Bildern, ihrer Musik und ihren Performances, um dieser Stadt zu zeigen, welches Potenzial hier an seiner Entfaltung gehindert wird.“ Das Fest geht zu Ende – doch die Gastgeber machen keine Anstalten, ihre Installationen abzubauen.

Von einer „Besetzung“ will niemand sprechen. Man bleibt einfach. Auch wenn sich Vertreter der städtischen Liegenschaftsverwaltung SAGA und Sprinkenhof AG lauthals beschweren und „Maßnahmen“ ankündigen, bleiben diese aus – und nicht nur das. Noch am selben Tag versichert die Sprecherin der Hamburger Kulturbehörde, es habe „zu keinem Zeitpunkt“ seitens der Behörden eine Anforderung „zur Räumung oder Durchführung anderer polizeilicher Maßnahmen gegeben“. Statt Wasserwerfern und Polizeiknüppeln kommen Solidaritätsnoten. Der Malerstar Daniel Richter hatte sich schon im Vorfeld als Schirmherr zur Verfügung gestellt, Filmemacher Fatih Akin unterstützt öffentlich die Aktion – und selbst die damalige Hamburger Kultursenatorin von Welck bekundet „großes Verständnis“.

Ein erstaunlicher Vorgang. Gilt doch seit fast drei Jahrzehnten in deutschen Großstädten: Jedes besetzte Haus ist innerhalb von 24 Stunden zu räumen. Mit der sogenannten „Berliner Linie“ von 1981 wollte man einer Bewegung Herr werden, die damals „zum allgemeinen Volkssport der jüngeren Generation“ geworden war.

Und so scheint es eine Ironie der Geschichte zu sein, dass der Häuserkampf heute – vierzig Jahre später – ausgerechnet inmitten einer innerstädtischen Premiumlage eine Wiedergeburt erlebt. Doch das ist kein Zufall. Die Besetzer des Gängeviertels, von denen viele zuvor als Zwischennutzer in ehemaligen Industriebrachen und Abbruchhäusern gelebt und gearbeitet haben, wählen bewusst einen Teil der Stadt, den die Linke und die Subkultur längst als Konsumzone abgeschrieben haben, um ein Schlaglicht auf die neoliberale Stadt und ihren Umgang mit Geschichte und mit Baudenkmälern zu werfen.

Anfang 2003 hatte die Finanzbehörde der Freien und Hansestadt das Areal im Höchstbieterverfahren an einen Käufer veräußert, der es als Spekulationsobjekt verfallen ließ und schließlich an einen niederländischen Immobilienfonds weiterverkaufte. Nach dessen Planungen sollten achtzig Prozent der Altbausubstanz weichen und lediglich ein paar Fassadenelemente dekorativ zwischen den neuen Bürotürmen platziert werden. Obwohl die meisten der bestehenden Gebäude denkmalgeschützt sind, befreite die Stadt das Bauprojekt weitgehend von städtebaulichen Auflagen.

Für Heiko Donsbach eine Todsünde: „Das gehört zu dieser furchtbaren Tendenz, die Städte ihrer Geschichte zu berauben“, sagt der Gängeviertel-Besetzer. Der 51-jährige Architekt kann lange und detailreich von der historischen Bausubstanz dieses letzten Restes der Gängeviertel sprechen, die sich im 19. Jahrhundert vom Hafenrand bis in die Innenstadt zogen, bis die Stadtväter sie nach dem Hafenarbeiterstreik von 1895 weitgehend abreißen ließen. Donsbach ist ein Veteran und das Gängeviertel ist nicht seine erste Besetzung. „Heute ist es wesentlich schwieriger, etwas zu entwickeln, was emanzipatorischen Charakter hat“, antwortet er, wenn man ihn nach dem Unterschied zur Hausbesetzer-Bewegung der siebziger und achtziger Jahre fragt. „Die Zeiten, in denen man noch einigermaßen glaubwürdig Ärger androhen konnte, wenn geräumt wird, die sind definitiv vorbei.“

Bei den Gängeviertel-Besetzern heute gestaltet sich das Verhältnis zum System komplexer. Die meisten sind zwischen zwanzig und Mitte dreißig und scheinen zumindest äußerlich nichts mit einer autonomen Polit- und Besetzer-Szene zu tun zu haben. Der skateboardfahrende Pflegetherapeut, die Grafikdesignerin, die mal was anderes gestalten will als die Werbebroschüren ihrer Kunden, der Mitarbeiter einer Eventagentur, der in seiner Freizeit Kunst-Happenings organisiert, die freien Designer und Künstler, denen bezahlbare Ateliers und Arbeitsräume fehlen, dazu ein Haufen Musiker und DJs, Freaks und Lebenskünstler: Die Besetzer und Supporter des Gängeviertels rekrutieren sich ausgerechnet aus jenem bohemistischen Milieu, um das laut Richard Florida Metropolen heute besonders werben müssen, wenn sie wirtschaftlich oben mitspielen wollen. Nicht zuletzt deshalb fasst die Politik die neuen Häuserkämpfer in Hamburg mit Samthandschuhen an. Die Räumung des Gängeviertels wäre ein Imageschaden für eine Stadt, die sich in bunten Broschüren gerne als „pulsierende Metropole“ für „Kulturschaffende aller Couleur“ anpreist.

Statt in eine politische Konfrontation mit der Stadt zu gehen und ihre Mechanismen von Aufwertung und Verdrängung zu „enttarnen“, so wie es die alte Linke gemacht hätte, spielen die Gänge-Aktivisten mit dem Image, die diese als „kreative Stadt“ von sich in die Welt setzt. Sie nutzen eben genau die Aufmerksamkeit, die Metropolen seit einigen Jahren den „kreativen Milieus“ schenken, um einen neuen politischen Raum zu konstituieren und den Diskurs über Kreativität und Stadt gegen den Strich zu bürsten.

Das sanfte Auftreten hat die Gängeviertel-Besetzung anschlussfähig gemacht für ein bürgerliches Spektrum. Doch es ist nicht nur eine strategische Entscheidung. Es entspricht dem Selbstbild vieler Gänge-Aktivistinnen und Aktivisten. Die meisten von denen, die die Besetzung geplant und initiiert haben, kommen weniger aus linken Zusammenhängen als aus temporären Kollektiven und Ateliergemeinschaften, mit denen sie zwar bereits seit Jahren praktische Erfahrung in der Aneignung von brachliegenden Gebäuden gesammelt, diese Praxis bis dato aber nicht mit politischen Forderungen verknüpft haben. Als Zwischennutzer, die immer nur bleiben konnten, bis die Gebäude abgerissen oder saniert wurden, sahen sie in regelmäßigen Abständen ihre Eroberungen verschwinden – und mit ihnen die Arbeit, die sie hineingesteckt hatten. Mit dem Entschluss, vom Zwischennutzer zum Besetzer zu werden, erklären sie diese Arbeit zum Politikum, zur legitimen Aneignung von städtischem Raum, zur sozialen Investition. Mit der Verbindung von quasi-bürgerlichem Auftreten und praktischer Aneignung jenseits von Recht und Gesetz hat die „Komm in die Gänge“-Initiative neues politisches Terrain betreten. Einerseits argumentiert man als Zusammenschluss besorgter Bürger, die sich ehrenamtlich um das Gemeinwohl, um den sozialen Ausgleich und das historische Erbe der Stadt kümmern. Andererseits agiert man nicht aus der Position privilegierter Bürgerlichkeit, wie sie ehrenamtlichen Zusammenschlüssen meistens innewohnt, sondern als Grassroots-Netzwerk, das sich selbst hilft. Das Bild von der kreativen Community, die im Gängeviertel eine Künstlerkolonie durchsetzen will, ist damit eine mediale Vereinfachung und ein Missverständnis. Von der ersten Pressemitteilung an benennt die Initiative ihr Projekt als „ein selbstverwaltetes, öffentliches und lebendiges Quartier mit kulturellen und sozialen Nutzungen“ und solidarisiert sich mit den Initiativen, die sich im Laufe des Jahres 2009 zum „Recht auf Stadt“-Netzwerk zusammengeschlossen haben.

Zum Jahreswechsel 2009/10 gelingt es der bunten Gemeinschaft ausreichend öffentlichen Druck aufzubauen, um den Senat der Freien und Hansestadt Hamburg zu einer Rückabwicklung des Verkaufs an den Investor zu bewegen. „Jetzt haben wir die Möglichkeit, ein neues Konzept für das Gängeviertel zu verwirklichen“, erklärt die grüne Stadtentwicklungssenatorin Anja Hajduk nach der Vertragsunterzeichnung. „Unter Berücksichtigung der Kriterien Stadtentwicklung, Denkmalschutz, Künstlernutzung und Wirtschaftlichkeit wollen wir eine tragfähige Lösung für das Gängeviertel finden.“ Tatsächlich folgt auf den symbolträchtigen Rückkauf ein Verhandlungsmarathon zwischen Stadt und Besetzern, in dem die Positionen einander recht kantig gegenüberstehen. Während der Senat von einem Entwicklungsmodell ausgeht, welches nach der Sanierung durch die städtische Wohnungsgesellschaft SAGA oder einen privaten Investor der „Komm in die Gänge“-Initiative eine Teilnutzung als Mieter anbietet, pochen die Besetzer darauf, das gesamte Viertel mit einem genossenschaftlichen Finanzierungsmodell zu übernehmen und in Selbstverwaltung zu belegen. Zum einen wehren sie sich dagegen, das Ensemble der städtischen Wohnungsgesellschaft zu überlassen, die es jahrelang und absichtsvoll hat verfallen lassen. Zum anderen argumentieren sie, dass eine Community, die auf engstem Raum Wohnungen, Arbeitsplätze, soziale Institutionen und öffentliche Veranstaltungen zusammenbringt, nur funktionieren kann, wenn ihre Mitglieder kollektiv bestimmen, was und wer dort wie mitmacht.

Im März 2010 präsentiert die Initiative ein Konzept, das vorsieht, das Gängeviertel als Genossenschaft zu entwickeln. Die Genossenschaftsmitglieder, so der Plan, bringen die Eigenkapitalsumme auf, auf deren Basis dann mit Förderdarlehen u.a. der Wohnungsbaukreditanstalt die Baukosten finanziert werden können. Die Tilgung erfolgt über die Mieteinnahmen, deren Reinertrag jährlich 616.000 Euro betragen würde. Die Mieten will man – je nach Nutzung und Leistungsfähigkeit – staffeln: Während die soziokulturell genutzten Flächen nicht teurer als 3 Euro pro Quadratmeter sein sollen, zahlen Gewerbemieter bis zu 12 Euro. Die Ateliers und Wohnungen liegen dazwischen, mit maximal 4 bzw. 6,50 Euro. Voraussetzung für die Umsetzung dieser Pläne ist, dass die Stadt der Initiative das Areal für eine symbolische Summe bzw. per Erbpacht überlässt.

Doch diese Forderung findet auf Seiten der Stadt wenig Anklang. In den Verhandlungen lehnt die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU) eine Anhandgabe zugunsten der Besetzer ab und verkündet Anfang April 2010, sie wolle für die Sanierung und Entwicklung die Stadtentwicklungsgesellschaft Hamburg (STEG) als Treuhänder einsetzen. Ein auf den ersten Blick naheliegender Vorschlag: Statt weiter auf eine private Lösung zu setzen, will sich die Stadt nun eines bewährten Sanierungsträgers bedienen, den sie selbst einst als Instrument der „sanften Stadterneuerung“ ins Leben gerufen hat. Die STEG, Ende der Achtziger auch als Antwort auf die Besetzungen der Hafenstraße und der Roten Flora gegründet, sollte seinerzeit Protesten von Anwohnern gegen die Aufwertung ihrer Viertel vorbeugen. Mit Bürgerbeteiligungsverfahren, Runden Tischen, Sanierungsbeiräten, Quartiersmanagement-Büros und geförderten Wohn- und Gewerbemieten in dafür ausgewiesenen Sanierungsgebieten versuchte sie, Maßnahmen zur „Stadterneuerung“ möglichst anwohnerverträglich durchzuführen. Tatsächlich hat sich jedoch an den von der STEG betreuten Sanierungsgebieten Schanzenviertel und Karoviertel gezeigt, dass diese „sanfte Stadterneuerung“ ein wirksames Instrument zur Gentrifizierung ist. In den Verhandlungen zwischen Stadt und Gänge-Initiative waren zwei Punkte besonders schwierig: Zum einen ist da die Frage der selbst verwalteten Belegung und Nutzung. Auf bloße Absichtserklärungen seitens der Behörde und des Sanierungsträgers wollen sich die Gänge-Besetzer nicht verlassen. Sie fordern eine vertragliche Zusicherung, dass das Quartier auch nach der Instandsetzung autonom bleibt. Zum anderen pochen sie auf Vertragsbedingungen für die Instandsetzung, die verhindern, wirtschaftliche Sachzwänge für eine Kommerzialisierung oder Veräußerung des Gängeviertels ins Feld zu führen.

Ausgerechnet Richard Florida macht sich in einem ZDF-Interview zum Kronzeugen eines Paradigmenwechsels. Befragt nach dem im Gängeviertel vorgestellten Manifest „Not In Our Name, Marke Hamburg“ erklärte der US-Ökonom: „Künstler investieren ihren Schweiß, ihr Gespür und ihr Herzblut in ihre Viertel. Warum gibt man ihnen keinen Anteil an den Gebäuden? Wie wäre es denn, wenn sie Eigentumsrechte für ihre Arbeit beanspruchen könnten? Und warum sollte Hamburg nicht die erste Stadt sein, die genau das ausprobiert?“

Ein besonders geschickter Vereinnahmungs-Schachzug auf dem Weg zu einer neoliberalen Creative City? Oder die konkrete Utopie eines Gemeinwesens, in dem auch Arbeit jenseits der Wertschöpfungsketten einen Anspruch auf Teilhabe darstellt? Wie auch immer man Floridas Vorschlag interpretiert, in jedem Fall fällt er aus dem Rahmen dessen, was städtische Behörden derzeit umzusetzen willens und in der Lage sind. Und womöglich liegt gerade darin auch eine Chance des Gängeviertels: Dass es in den Städten sowohl das Bedürfnis als auch die Notwendigkeit gibt, Orte zu schaffen, die sich nur schwer in geregelte Eigentums- und Nutzungsverhältnisse überführen lassen, weil sie ökonomisch und sozialpolitisch aus dem Raster fallen. „Temporäre autonome Zonen“ – ein Begriff aus den frühen Neunzigern –, die zu verstetigen auch die Gefahr birgt, einen Rahmen zu schaffen, der die Unvorhersehbarkeit zerstört, von der sie leben. Andererseits geht es darum, bezahlbare Räume und öffentliche Orte zu erstreiten und zu sichern, um ein Beispiel zu geben, dass eine andere Stadtentwicklung möglich ist. Das Gängeviertel muss sich institutionalisieren, um das eigene Überleben und das der Häuser zu sichern. Gleichzeitig muss es gegen die institutionelle Erstarrung arbeiten, um ein Raum der Möglichkeiten bleiben zu können.

Dieser Text ist eine gekürzte und redigierte Fassung des gleichnamigen Kapitels aus dem Buch „Gentrifidingsbums oder eine Stadt für alle“, Edition Nautilus, Hamburg 2010. Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.Christoph Twickel, freier Autor, begleitete als Journalist die Hamburger „Recht auf Stadt“-Bewegung. Er schreibt u. a. für die taz, die Frankfurter Rundschau, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Brand eins und das Greenpeace Magazin.

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