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db deutsche bauzeitung 12|2011
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Feinsinnig rau

Proben- und Konzerträume in Snape Maltings (GB)

In fantastischer Landschaft zwei Stunden von London entfernt hat sich seit Langem ein Festival für die Freunde klassischer und moderner Musik etabliert. Das zentrale Konzertgebäude ist berühmt für seine satte Akustik und bildete den Beginn einer sukzessiven Konversion eines alten Industriegeländes. Beim Entwurf für zwei der zuletzt umgebauten Gebäude ließen sich die Architekten von der Atmosphäre und vorgefundenen Matrialien leiten und verwendeten größtenteils recycelte Materialien – mit manchmal kaum wahrnehmbar dezentem Ergebnis, das dem Ort vollkommen entspricht.

5. Dezember 2011 - Dagmar Ruhnau
Weite Flächen prägen die Landschaft von Suffolk: Wälder, Hügel, Felder, die grau glitzernde Nordsee und ausgedehnte Marschflächen, von Ried bewachsen. Winzige Orte aus roten Backsteinhäusern tauchen erst in allerletzter Minute aus der grau-grünen Landschaft auf. Die Küste ist von breiten, gemächlichen Zuflüssen zum Meer eingeschnitten. Einer davon, die Alde, diente vor 100 Jahren als vielgenutzter Verkehrsweg für die Produkte der Mälzerei des Örtchens Snape, nach London und auf den europäischen Kontinent. 1965 musste der Betrieb schließen, er konnte der modernen Konkurrenz nicht mehr standhalten. Geblieben ist ein Ensemble alter Industriebauten, Stück für Stück gewachsen – optisch zusammengehalten durch den allgegenwärtigen roten Backstein. Kurze Zeit nach der Schließung kaufte ein ortsansässiger Landwirt das Gelände und stellte das größte der Gebäude dem Komponisten Benjamin Britten zur Verfügung, der für sein 1948 gegündetes und stetig wachsendes Aldeburgh Festival of Music auf der Suche nach einem festen Veranstaltungsort war. Unter der Federführung von Arup Associates entstand ein Konzertsaal für 830 Besucher, der berühmt ist für seine ausgezeichnete Akustik. Verantwortlich dafür ist das geräumige Dach mit einer Neigung von 45 ° und langer Nachhallzeit – endlich, kommentierte Britten damals, bekämen die Töne seiner Musik das Volumen, das sie verdienten. ›

Jenseits von »schick« oder »rustikal«

Von Arup stammt auch der Masterplan aus dem Jahr 1971, der die Entwicklung eines Kunst-Campus vorsah. Schon hier wurden als wesentlicher Eckpunkt für die weitere Konversion so geringe Eingriffe wie möglich definiert. 1979 und 2000 folgten der Umbau von Probenräumen und einer Bibliothek sowie die Erweiterung der Konzerthalle durch ein Restaurant, doch erst vor sechs Jahren bekam die Entwicklung einen erneuten großen Schub: Die Londoner Architekten Haworth Tompkins gewannen einen Wettbewerb für die Umwandlung weiterer leer stehender Bauten, einerseits in Probenräume und andererseits in 65 Wohneinheiten, die als Ferien- und Eigentumswohnungen vermarktet werden. 500 000 Besucher ziehen die Snape Maltings jedes Jahr mit ihrem kulturellen, gastronomischen und Einzelhandels-Angebot an. »Wir waren uns der Gefahr bewusst, dass jede weitere Veränderung die feine Balance aus Musik, Architektur und Landschaft zum Kippen bringen könnte«, beschreibt Steve Tompkins die Annäherung an das Projekt. Das Büro hat sich seit 1991 einen Namen mit behustsamen und intelligenten Konversionen von »vorgefundenem Raum«, so die Umschreibung der Architekten, gemacht. »Weder Metropolenschick noch hübscher Rustikalstil waren hier angebracht.« Und so entstanden Bauten mit großem Respekt vor der industriellen Geschichte und kargen Atmosphäre des Orts, mit einer bemerkenswerten Mischung aus hoher Zurückhaltung und geschickt entwickelter Individualität.

Kunst ist auch Arbeit

Als Leitgedanke diente die Vorstellung, die frisch umgebauten und neu entstandenen Bauten ihren Platz in der Entwicklung der Snape Maltings finden zu lassen, wie die Ergänzungen in den über 100 Jahren zuvor. Das entsprach dem Wunsch der Bauherrin Aldeburgh Music nach unprätentiösen, aber in der Textur reichen Arbeitsräumen, in denen sich die Künstler eine individuelle Sphäre schaffen können. Zugleich war die Bauherrin bereit, ihre Vorgaben hinsichtlich der Nutzung den vorhandenen Räumen anzupassen. In der farblichen und stofflichen Ausgestaltung orientierten sich die Architekten ebenfalls an Vorgefundenem: von rauchdunklem Holz über in mehreren verschiedenfarbigen Schichten gestrichenen Fensterrahmen bis zu moosigen und verrosteten Wellblechdächern.

So sind die Spuren der industriellen Nutzung überall sichtbar, hier und da wurden Wände mit Dampf gesäubert oder durch neue Ziegel ergänzt. Im größeren der beiden 2009 umgebauten Gebäude, dem nach seinem Sponsor benannten Hoffmann Building, sind die Highlights der neuen Eingangshalle, ursprünglich ein Getreidespeicher, alte Holzläden und eine Tür, die verkehrt herum eingehängt vorgefunden und so belassen wurde. Die Halle erschließt vier weitere angrenzende Bauten und verbindet sie zu einem Ganzen, was durch ein neues Mezzanin betont wird, das in allen fünf Gebäuden ein durchgängiges OG bildet. Der vorhandene Backstein wurde durch angemessen ruppige Sichtbetonelemente ergänzt, etwa die Treppe zum OG oder Stürze über Öffnungen in den Wänden zwischen den Gebäuden. Die Decke der Halle bekleiden unregelmäßige Streifen aus geschältem Kastanienholz, eine moderne Interpretation alter Wandbekleidungen, die die Architekten vorgefunden hatten, außerdem eine gelungene Referenz an das Treibholz der Küste. In erster Linie jedoch, betonen die Architekten, ist dies eine akustische Maßnahme.

Erstklassige Akustik, Essenz der Architektur

Die Anforderungen an die akustischen Bedingungen der beiden Proben- und Konzerträume im Hoffmann Building waren hoch: Nichts weniger als aufnahmetauglich mussten sie sein. Also bekamen sie neue Dächer, die siebenmal schwerer sind als die ursprünglichen. Eine Schale aus 150 mm Spritzbeton auf der Dachkonstruktion und entkoppelte Auflager sorgen für den notwendigen Schutz gegen Außengeräusche. Während das Dach über dem kleineren Raum, dem Jerwood Kiln Studio, in dem bis zu 80 Zuhörer Platz haben, äußerlich die alte charakteristische Dachform beibehalten hat, ist das große Britten Studio mit 350 Sitzplätzen ein Neubau, der anstelle einer laut Architekten »architektonisch weniger wertvollen« Scheune aus den 50er Jahren entstand. Form und Akustik wurden der der (größeren) Konzerthalle nachempfunden, sodass unter realistischen Bedingungen geprobt werden kann. Die Außenwand ist zweischalig aufgebaut: Ziegel, Dämmung, Beton. Die Ziegelwände wurden mit Kalkmörtel gemauert, damit die Steine noch ein weiteres Mal verwendet werden können. Auch die Verglasung der Fenster musste akustisch perfekt sein – der Bezug nach draußen für die Musiker und Tageslicht in den Räumen war den Architekten wichtig (ebenso wie ein reduzierter Energieverbrauch). Beide Räume können den jeweiligen akustischen Anforderungen – Orchester-, Chor- oder Klaviermusik, Oper, Theater, Lesungen, Video- und Crossover-Vorführungen – angepasst werden, wofür sie mit einer speziellen Holzkonstruktion ausgekleidet wurden. Bewegliche Lamellen mit unterschiedlicher Lochung absorbieren tiefe Frequenzen, strukturieren die Wände und verleihen den Räumen eine raue Intimität. Darüber hinaus sorgen Vorhänge und verschiebbare Fahnen für weitere Dämpfung, falls nötig. Für die Lüftung wurde eine extrem geräuscharme Ausführung vorgeschrieben. Der spielerische und dabei differenzierte Umgang mit den Materialien zeigt sich insbesondere im Britten Studio. Hier bedeckt die akustische Vertäfelung nur die obere Hälfte der Betonwand, die zur vielfältigen Schalldiffusion leicht gefaltet ist und deren Oberfläche zum Boden zunehmend grobkörniger wird. Die Körnung des Ortbetons wurde mittels Dampfstrahlen freigelegt und erinnert an die mit grobem Kies bedeckten Strände der Gegend. All diese Details stehen zwar im Dienst der Akustik, erzeugen durch Materialwahl und Komposition aber eine dichte architektonische und atmosphärische Qualität – robust und dabei fein austariert. Doch die widerstandsfähige Anmutung des EG ist auch zu erwartendem Hochwasser geschuldet – der Beton etwa ist wasserundurchlässig. Gedeckt sind die Dächer mit in der Landwirtschaft eingesetzten Bitumenbahnen und handgefertigten grauen Schieferplatten, die umgedreht verlegt wurden, »um eine gar zu polierte Optik zu vermeiden«, wie es die Architekten formulieren.

Zimmer mit Aussicht

Das Hoffmann Building wurde im Mai 2009 eingeweiht. Im August folgte die Eröffnung des Dovecote Studios, das einen vorläufigen Endpunkt zwischen den bereits umgebauten Gebäuden und dem runden Dutzend weiterer Bauten, die langsam zerfallen, bildet. Vom Dovecote Studio, einem ehemaligen Taubenhaus, war noch weniger übrig: nur ein Stumpf aus Ziegeln, mit fehlenden Fenstern und von Pflanzen überwachsen. Die Architekten beließen diese Elemente im vorgefundenen Zustand und setzten eine komplette, vor Ort aus vorgefertigten Dach- und Wandelementen zusammengeschweißte Hülle aus Cortenstahl hinein. Mit ihrer hellroten Färbung wächst sie wie ein abstrahiertes Abbild des ursprünglichen viktorianischen Taubenhauses zwischen den bescheidenen Industriebauten aus ihrem Sockel und verweist damit auf das benachbarte Skulpturengelände am Rand des Rieds. Im Innern des Studios verkleiden helle Sperrholzplatten die gedämmte Stahlhülle. Die Nutzung ist flexibel: Zu den knapp 30 m² Fläche gehören Miniküche und WC sowie eine Galerie, die das 7 m hohe Volumen teilt. Zurückgezogenes Arbeiten ist hier für Komponisten, Autoren oder Musiker ebenso möglich wie temporäre Ausstellungen oder kleine Konzerte – und durch die große Tür zum Hof lässt sich der Raum nach außen erweitern. Ein großes Dachflächenfenster sorgt für gleichmäßiges Nordlicht, und ein Fenster über Eck öffnet den Blick hinaus über das Ried, über die Marschen und ganz weit nach draußen auf die Nordsee.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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