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TEC21 2012|8
Nach der Katastrophe
TEC21 2012|8
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Wohnen auf Zeit

Ein neues Zuhause für Menschen, die alles verloren haben: Wenn Erdbeben oder Orkane das vertraute Umfeld zerstören, müssen die Betroffenen bis zum Wiederaufbau meist in temporären Unterkünften untergebracht werden. Zwei Beispiele aus Japan und Italien zeigen, welche Kriterien bei ihrem Entwurf zählen: Das von Shigeru Ban gegründete «Voluntary Architects’ Network» setzt in Onagawa auf kurze Bauzeit und gemeinschaftliche Einrichtungen, für die Mailänder Ruattistudio Architetti stehen in L’Aquila eine ansprechende Erscheinung und die flexible Nutzung im Vordergrund.

17. Februar 2012 - Claudia Hildner
Nach Naturkatastrophen wie Erdbeben, Überschwemmungen, Wirbelstürmen oder Vulkanausbrüchen kann es bis zum Wiederaufbau der zerstörten Strukturen mehrere Jahre, bisweilen Jahrzehnte dauern. Zwischen der ersten kurzfristigen Unterbringung in Zelten oder Turnhallen und der Rückkehr in die Heimatorte benötigen die Katastrophenopfer temporäre Unterkünfte, um im Winter und bei schlechtem Wetter sicher und gesund leben zu können. Für gefährdete Kommunen empfiehlt es sich, entsprechende Standorte schon im Vorfeld festzulegen und Grundstücke bereitzuhalten, auf denen sich schnell und ohne grossen bürokratischen Aufwand Unterkünfte errichten lassen.

Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, temporäre Wohneinheiten bereitzustellen: Es können vorfabrizierte Standardlösungen – wie etwa Container oder Wohnmodule – angefordert und damit Siedlungen errichtet werden. Oder es können ausgewählte Planerteams die Aufgabe übernehmen, im Rahmen der Möglichkeiten geeignete Wohnlösungen zu schaffen. Zwei Beispiele aus Italien und Japan zeigen, wie temporäre Behausungen nach einer Katastrophe je nach klimatischem, topografischem und kulturellem Kontext unterschiedlich gestaltet sein können. Grundsätzlich sind die Situationen vergleichbar, da es sich bei beiden Nationen um industrialisierte Länder handelt. In Entwicklungsländern zieht man es hingegen oft vor, unmittelbar nach dem Ereignis mithilfe lokaler Materialien und traditioneller Handwerkstechniken sofort Häuser aufzustellen, die auf Dauer bewohnt werden können.

Container für Nordostjapan

Bei dem Tsunami in Nordostjapan im März 2011 sind gemäss offiziellen Angaben etwa 16000 Menschen umgekommen, über 3000 werden noch vermisst.[1] Annähernd 130000 Häuser sind vollständig zerstört worden, davon allein 80000 in der Präfektur Miyagi. Die Bereitstellung einer ausreichenden Menge an temporären Unterkünften verzögerte sich aufgrund des grossen Bedarfs und bürokratischer Hindernisse. Auch die Topografie Japans spielte eine Rolle: Die Verantwortlichen hatten sich für vorfabrizierte eingeschossige Wohnmodule entschieden, da diese sehr schnell realisiert werden können – ausreichend grosse ebene Bauplätze, auf denen diese Standardlösungen platziert werden konnten, standen vielerorts aber nicht zur Verfügung. So auch in der Gemeinde Onagawa in der Präfektur Miyagi, einer Ortschaft mit 10000 Einwohnern, in der der Tsunami etwa 4000 Häuser zerstört hatte. Eine Lösung für dieses Problem fand das Voluntary Architects’ Network (VAN), eine vom japanischen Architekten Shigeru Ban gegründete Organisation zur Unterstützung von Katastrophenopfern.

Als grundlegendes Modul wählten die Architekten von VAN Container für Überseetransporte, die sie aber nicht als eingeschossige Einheiten über die Fläche verteilten, sondern in zwei- bis dreigeschossigen Riegeln zusammenfassten. Diese Bauweise erforderte zwar weiterhin einen ebenen Baugrund, der aber wesentlich besser ausgenützt werden konnte. So konnten in Onagawa auf der Fläche eines Baseballfeldes[2] – da keine anderen freien Flächen zur Verfügung standen, hatte die Gemeinde beschlossen, dieses Sportfeld zu «opfern» – etwa 190 Familien ein neues Zuhause finden. Die Riegel sind schachbrettartig aufgebaut: Zwischen den einzelnen Containern ist jeweils ein leerer Zwischenraum angeordnet, der von einem einfachen Rahmen umschlossen wird. Dieser zusätzliche Raum ist an einer Schmalseite vollständig verglast; auf der anderen Seite befindet sich jeweils der Zugang zu den Wohnungen.

Ein Vorteil bei der Verwendung von Containern ist die kurze Bauzeit – die gesamte Siedlung wurde in etwa zweieinhalb Monaten errichtet. Die Bauten sind so ausgelegt, dass sie über längere Zeiträume als Unterkunft dienen können. Shigeru Ban schwebt vor, dass nicht mehr gebrauchte Einheiten für kommende Schadenereignisse bereitgehalten werden. Da grössere Erdbeben in Japan in regelmässigen Abständen zu erwarten sind, wäre eine solche «mobile» Siedlung durchaus sinnvoll.

Bescheidenes Raumangebot, dafür soziale Integration

Bei den Wohnungsgrössen orientierten sich VAN an den Dimensionen anderer in Nordostjapan bereits verwendeter Notunterkünfte: Es gibt drei Einheiten, die 20, 29 und 40 m² gross sind. Die kleinste Wohnung ist für einen oder zwei Bewohner gedacht, die mittlere Unterkunft soll drei oder vier Personen Platz bieten und das grösste Modul wird an Familien mit mehr als vier Mitgliedern vergeben. In weiten Teilen Europas mögen solche winzigen Wohnungen als eine Zumutung erscheinen – für japanische Verhältnisse sind sie nicht ungewöhnlich.

Die Wände bestehen aus Leichtbauplatten, die Böden sind mit Teppichfliesen belegt. Anders als bei den «herkömmlichen» Notunterkünften der Regierung entschieden sich die Architekten in Onagawa dazu, auch die Einrichtung der Wohnungen zu entwerfen. So wurden die Regale aus verdübeltem Brettsperrholz von Freiwilligen (Architekturstudierenden) zusammengebaut an die Wände geschraubt.[3] Damit sollten den Bewohnern Möbel zur Verfügung gestellt werden, deren Dimensionen im Gegensatz zu gekauften Standardmöbeln auf die schmalen Container abgestimmt sind.

Wichtig war dem VAN bei diesem Projekt, dass zusammen mit den Wohneinheiten auch gemeinschaftliche Einrichtungen bereitgestellt werden: Das Problem vieler temporärer Wohnsiedlungen ist, dass sie als reine «Schlafstädte» konzipiert werden und es keine Orte gibt, an denen man sich treffen, sich austauschen oder etwas veranstalten kann. In der Siedlung in Onagawa gibt es ein Zelt, das als Markthalle dient, ein Gemeinschaftshaus für Veranstaltungen und ein Atelier, in dem zum Beispiel Unterricht stattfinden kann. Ein solches Gesamtkonzept ist umso wichtiger, je länger Menschen in einer temporären Wohnsiedlung untergebracht sein müssen.

Holzbauten in den Abruzzen

Um eine Grössenordnung kleiner als in Nordostjapan erscheinen die Schäden, die das Erdbeben vom April 2009 in Mittelitalien verursacht hat. In der Stadt L’Aquila und ihrer Umgebung hatten die Erdstösse bis zu 15000 Gebäude beschädigt, die meisten davon in den östlich gelegenen Dörfern. Im Rahmen des «Progetto C.A.S.E.» wurden bald nach dem Beben auf geeigneten Baufeldern rund um L’Aquila erdbebensichere Betonplattformen geschaffen, auf denen die neuen temporären Wohnbauten errichtet werden sollten. Diese Bodenplatten ruhen mittels Gleitpendellagern, die die Energie eines Bebens aufnehmen, auf Stahlstützen. Dadurch wird die Betonplatte, auf der das Gebäude steht, von den Stützen und damit vom Baugrund entkoppelt (seismisch isoliert). Diese Lösung wurde gewählt, weil Gleitpendellager relativ preisgünstig sind, weil sie innert drei Wochen produziert und in einem Tag montiert werden können und weil sie für den realisierten Bautyp geeignet waren.

In einem speziellen Realisierungswettbewerb suchte man die entsprechenden Planungs-teams. Die Entwürfe der Teilnehmer wurden anhand eines Punktesystems bewertet: Zu den entscheidenden Kriterien zählten die Baukosten und die Realisierungszeit, beziehungsweise die Zahl der Gebäude, die bis zum Wintereinbruch verwirklicht werden konnten, aber auch die Energieeffizienz, die Ausnutzung des Grundstücks sowie die Flexibilität der Unterkünfte hinsichtlich einer möglichen späteren Nutzungsänderung.

Einer der Entwürfe, der in diesem Wettbewerb erfolgreich war und später verwirklicht wurde, stammt vom Planungsteam Ruattistudio Architetti aus Mailand. Da sie den genauen Ort, an dem das Projekt verwirklicht werden sollte, nicht kannten, entwickelten die Architekten ein standardisiertes Volumen mit einer Grundfläche von rund 20×58 m. Das ist die maximale Grösse der Plattformen, auf denen die neuen dreistöckigen Gebäude zu errichten waren.

Da manche dieser Betonplattformen aber, je nach Grundstücksgrösse, etwas kleiner erstellt wurden, sollten sich die entworfenen Gebäude bei Bedarf auch ohne viel Aufwand um ein paar Meter kürzen lassen. Es war auch geplant, die einzelnen Wohnmodule samt Erschlies-sung auf verschiedene Arten untereinander zu kombinieren. Die Laubengänge der Gebäude sind, soweit möglich, nach Süden ausgerichtet. Der von Ruattistudio Architetti entwickelte Gebäudetyp wurde schliesslich in drei Ortschaften rund um L’Aquila verwirklicht: Zwei der Riegel stehen in Tempera, drei in Roio Poggio und einer in Paganica. Die reine Bauzeit betrug 85 Tage, etwa gleich lang wie bei der Containerlösung in Nordostjapan, nur dass in dieser Zeit deutlich weniger Einheiten verwirklicht werden konnten. Die Umstände am konkreten Standort konnten die Architekten aus Zeitmangel in ihren Entwurf kaum einfliessen lassen – dennoch ist es gelungen, Wohneinheiten zu entwickeln, die einen eigenen Charakter haben und in ihrer Materialität hochwertig wirken. Ansprechender Ausbau, auch auf Dauer nutzbar

«Wir wollten keine Containerbauten, es sollte nicht nach einer temporären Lösung aussehen», sagt Juanita Ceva Valla von Ruattistudio. Die Wahl fiel daher auf eine Holzkonstruktion, die teilweise aus vorgefertigten tragenden Holzbauplatten und teilweise aus mit Gipskartonplatten bekleideten Sandwichelementen besteht. Die Böden sind mit Parkettlaminat belegt. Gespart wurde dort, wo es nicht wehtut: Die Erschliessung erfolgt wie bei dem Projekt in Onagawa über eine vorgesetzte Stahlkonstruktion, die Laubengänge bildet. Weisse Sichtschutzelemente lassen die Fassade in diesem Bereich lebendig, fast elegant wirken. Im Inneren ist die Decke im Rohbauzustand belassen worden, dafür wurde bei den Bädern auf Zellenlösungen verzichtet, die auf den temporären Charakter der Wohnungen hingewiesen hätten. Die reinen Baukosten für die sechs Gebäude betrugen rund 14 Mio. Euro, was mittleren Kosten von rund 2.3 Mio. Euro pro Haus entspricht.

Im Gegensatz zu den Containern in Nordostjapan, die eher eine Übergangslösung darstellen sollen, sind die Bauten in der Umgebung von L’Aquila im Hinblick auf eine spätere Zweitnutzung auf Dauer angelegt. Wenn die jetzigen Bewohner ausziehen, könnten die Wohnblöcke von Ruattistudio Architetti etwa in ein Studentenwohnheim umgebaut werden, denn die Innenwände lassen sich ohne grossen Aufwand versetzen. Bei den neuen Siedlungen rund um L’Aquila fehlt jedoch ein übergeordnetes städtebauliches Konzept mit Begegnungs- und Identifikationsorten. Da der Wiederaufbau der Altstadt von L’Aquila nur schleppend vorangeht, wären gemeinschaftliche Einrichtungen sowie eine gute Anbindung an die lokalen Zentren für das dauerhafte Funktionieren dieser Siedlungen sehr wichtig.

Es gibt keine Patentlösung

Die beiden Projekte in Italien und Japan haben einiges gemeinsam: Sie wurden in sehr kurzer Zeit entworfen und realisiert, sind ganz oder in Teilen vorgefertigt und haben eine ähnliche Struktur. Beide Projekte sind nicht von professionellen Krisenmanagern, sondern von Architektinnen und Architekten initiiert worden. Angesichts der Überforderung oder des Ungenügens der offiziellen Planungsinstanzen sind sie eigene Wege gegangen, um rasch zu helfen und unter erschwerten Bedingungen mehr als das Minimum an Lebensqualität zur Verfügung zu stellen. Angesichts des Ausmasses der Zerstörungen entsprechen die beschriebenen lokalen Projekte dem sprichwörtlichen Tropfen auf den heissen Stein; für die Umsetzung im grossen Massstab fehlen den Initianten (noch) die Mittel und der politische Einfluss. Wenn sich die Unterkünfte während einiger Jahre bewähren, ist die Hoffnung berechtigt, dass derartige Bauten breite Anerkennung finden und zu Standards für die Unterbringung von Katastrophenopfern werden. Für ihre Akzeptanz ist es wichtig, dass sie die lokalen kulturellen, topografischen und klimatischen Gegebenheiten berücksichtigen; deshalb kann es keine uniforme globale Lösung für die Architektur nach Katastrophen geben.


Anmerkungen:
[01] National Police Agency of Japan, www.npa.go.jp
[02] Approximativ ein Viertelkreis mit einem Radius von 90–120 m Länge mit einer Fläche zwischen 3400 und 11 300 m²
[03] Insgesamt arbeiteten 187 Freiwillige während zweieinhalb Monaten in Tagesschichten von 10 bis 20 Personen an diesem Projekt mit

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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