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Die Stadt als Totaltheater

Distribution als Triebkraft eines umfassenden Urbanismus

19. März 2012 - Susan Nigra Snyder, Alex Wall
Immer mehr Güter müssen immer schneller an immer mehr Orte gelangen. Unser Konsumverhalten, zusammen mit der neuen, auf weltweiter Vernetzung basierenden Produktionsweise, verursacht einen beschleunigten, immerwährenden Materialfluss entlang globaler Transport- und Informationskanäle. Dadurch gewinnt die Logistik eine herausragende Bedeutung. Dieser zu wenig beachtete „Backstage“-Bereich bildet den komplementären Raum zur repräsentativen Schauseite unseres Konsums, die Kehrseite der Stadt der Einkaufszentren, der Malls und des Tourismus, der virtuellen Welt der Werbung und des TV- und Internet-Shopping.

Die Voraussetzung für unseren täglichen Konsum sind Landschaften des Transports und der Logistik: Lagerhallen und Autobahnen, belebt von Güterzügen, LKWs und Lieferwagen, die sich im Einklang mit den penibel kontrollierten Zeitplänen der Just-in-Time-Produktion bewegen. In diesem Essay beschreiben wir diese Logistiklandschaft in einem städtischen, regionalen und kontinentalen Maßstab, um die Beziehung zwischen Infrastruktur und Stadt zu untersuchen. Wir wollen herausfinden, wie sich die Folgen der unzähligen Alltagsverrichtungen unserer Konsumkultur auf den Prozess der Urbanisierung auswirken und wie sie neue Formen städtischen Lebens hervorbringen. Wir behaupten, dass die Vertriebssysteme – zusammen mit Entertainment, Tourismus sowie Forschung und Entwicklung in Wissenschaft und Technik – die Basis für einen neuen Urbanismus bildet.

Die duale Stadt des Konsums und der Distribution

Die Blocks am Times Square genau nördlich der 42nd Street sind voll von Geschäften und Themenrestaurants, und es wimmelt dort von Menschen, die sich offenbar nach einer Themenparkversion von Stadt sehnen, die sauber, kontrolliert und umweltfreundlich ist.

In einem Artikel über die erstaunliche Verwandlung des New Yorker Times Square und der 42nd Street von einer übel beleumundeten Zone von Sex, Drogen und Kriminalität in „eine der angesagtesten Entertainment- und Shoppingzonen“, weist der amerikanische Architekturkritiker Paul Goldberger darauf hin, dass die Macht des Marktes – und nicht die bewusste Planung von Stadtaktivisten, Politikern und Planern – eine neue urbane Form hervorgebracht hat.

Die Wiedergeburt des Areals offenbart „die Entwicklung der amerikanischen Stadt von einer primär von Geschäft und Handel dominierten Sphäre zu einer, die hauptsächlich für Tourismus, Entertainment und Konsum da ist.“ Sauberkeit, Kontrolle und Unterhaltung, wie sie Shopping-Malls garantieren und bereitstellen, werden immer stärker auf Stadtzentren übertragen und von Touristen und Besuchern regelrecht erwartet.

Diese Zonen des Tourismus, des Entertainment und des Konsums werden charakterisiert durch eine klare Trennung von repräsentativer Schauseite und dienenden Backstage-Bereichen. Im Fall Manhattans wird die von Goldberger konstatierte Reinheit der öffentlichen Bühne am Times Square von einem Backstage-Bereich unterstützt, der die Bewegung von Gütern gewährleistet, von ihrer Ankunft in Großraum New York bis zum Bestimmungsort ihres Konsums.

Etwa 18 Kilometer südwestlich von Manhattan liegt die vermutlich größte und sichtbarste Logistiklandschaft der USA. Das nahe der Stadt Newark gelegene Logistikareal ist ein Beispiel für eine immer dichter werdende und eng vernetzte städtische Landschaft, wo rund um die Uhr Hochbetrieb herrscht. Obgleich die Komponenten dieses gigantischen Ensembles – Flughafen, Highways, Hafenanlagen und Verschiebebahnhöfe – an herkömmliche Industriegelände erinnern, führen die zunehmend zeitsensiblen Anforderungen der globalen Wirtschaft dazu, dass sie sich in einem Zustand ständiger Innovation und unablässiger Experimente befinden; nicht von ungefähr war der Hafen zum Beispiel 1956 der Geburtsort des Containers, der die Grundlage für den heute vorherrschenden intermodalen Güterverkehr bildet. Die Port Authority, die Hafenbehörde von New York und New Jersey, zu der vier Flughäfen, zehn Hafenanlagen sowie sechs Brücken und Tunnel gehören, muss schnell auf neue Entwicklungen im Konsum und in der globalen Warenproduktion reagieren. Es handelt sich um ein Netzwerk, das sich in das dichte städtische und vorstädtische Gewebe einer Region integrieren muss, in der 17 Millionen Menschen leben. Es kann daher kaum überraschen, dass die Bruttofläche, die der Port Authority unterstellt ist, in etwa der Größe von Manhattan entspricht.

Im Kreuzungspunkt von Information und Gütern: Eine neue Stadttypologie

Im Unterschied zur Port Authority mit einer Gesamtfläche von ca. 4.000 Hektar, die zwischen bestehende Gemeinden eingebettet und an die New Yorker Wasserstraßen angebunden ist, wurde der ebenfalls über 4.000 Hektar große Handels- und Logistikkomplex Alliance in Texas auf bis dahin unerschlossenem Land errichtet.

Alliance scheint ein funktionierender Prototyp einer neuen, auf dem Schnittpunkt von Information und Gütern fußenden städtischen Typologie zu sein, die das Resultat von Veränderungen in Produktion und Konsum ist.

Alliance basiert auf mehreren Schlüsselsystemen: Just-in-Time-Produktion, Bodentransport und weltweite Luftfracht. Rings um diesen Infrastruktur-Knotenpunkt sind sogenannte „Intermodal Business Parks“ eingerichtet, planmäßige Reaktionen auf globale Märkte und internationale Beschaffungslogistik. Im Unterschied zu herkömmlichen Industriegebieten sind die neu errichteten Produktions- und Vertriebshallen akkurat in landschaftlich gestaltete, an einen Universitätscampus erinnernde Gelände eingebettet. Der Komplex wächst rasant und vergrößert sich um angrenzende Wohnbezirke und Einkaufsviertel, die zwischen den Industriezonen angelegt sind. Die zukünftige Lebensqualität dieser Wohngebiete hängt ab von der erfolgreichen Integration einer Infrastruktur, die die Nachfrage von Fabriken und Städten befriedigt, die weit davon entfernt liegen.

Da sich das Muster der Urbanisierung geändert hat – von der radialzentrischen Stadt des 19. und 20. Jahrhunderts zu einer verstreuten regionalen Besiedlung mit multiplen Zentren –, transformieren Vertrieb und Konsum die traditionelle Stadt in vierfacher Weise: im Maßstab der Straße, indem sie den LKW-Verkehr drastisch erhöhen und somit das Funktionieren des städtischen Systems jeder Großstadt tagtäglich empfindlich beeinträchtigen; in einem städtischen Maßstab, indem sie die Frontstage- und die Backstage-Bereiche von Städten verändern; in einem regionalen Maßstab, indem sie ein Gerüst für die Entwicklung neuer Städte bilden; und schließlich in einem globalen Maßstab, indem sie die Hierarchie von Städten innerhalb der Wirtschaft eines Landes neu ordnen. Was sich dabei herauszubilden scheint, ist eine Gruppe von „Backstage-Städten“ – auf den Umschlag von Waren spezialisierte Dienstleistungsstädte –, die in einem regionalen und nationalen Maßstab die „Frontstage-Städte“, d. h., die Zentren der Geschäftswelt und Kultur, des Entertainments und der Erholung mit allem Nötigen versorgen.

Die globale Dimension und Bedeutung dieser neuen Landschaften des Transports und der Logistik lässt sich beispielsweise anhand der Metropolregion Pearl River Delta im Süden Chinas aufzeigen, die sich auf Finanzwirtschaft, Produktion und Export spezialisiert hat. Das Pearl River Delta ist der kommerzielle Umschlagplatz zwischen China und dem Rest der Welt. Neben neuen Straßen und Eisenbahnlinien werden auch neue intermodale Containerhäfen und Flughäfen mit substanzieller Luftfrachtkapazität gebaut, alles unterstützt von einem Glasfaserkabelnetz. Wird diese zusammenhanglose Stadtlandschaft des Warenaustauschs zum „repräsentativen urbanen Gesicht des 21. Jahrhunderts“ avancieren, wie Manuel Castells gefragt hat? Über das bloße Verständnis der standortspezifischen Logik dieser neuen Entwicklungen hinaus sind wir der Überzeugung, dass die Logistiklandschaft ein Erprobungsgelände für neue Formen der Urbanisierung und möglicherweise für eine Architektur ist, die das städtische Leben verändern wird.

Veränderungen in der Logistiklandschaft

Die vorstehenden Ausführungen aus dem Jahre 1998 beschrieben die Auswirkungen von Distribution und Logistik auf die städtische Form: die Trennung zwischen inszenierten Stätten des Konsums und der für die Warenherstellung und -anlieferung zuständige Backstage- Infrastruktur. Während des letzten Jahrzehnts hat es in diesem Zusammenhang zwei wesentliche Veränderungen gegeben:

Verbraucherlogistik

Die digitale Vernetzung und Soziale Medien haben die vormals klar definierten Grenzen der Frontstage/Backstage-Stadt aufgeweicht. Die Verbraucherlogistik bezieht über Smartphone-Apps, RFID-Tags, Barcodes, Social Media, Websites und Blogs den Konsumenten in den Güterfluss ein und lassen ihn an der Preisgestaltung, Lagerhaltung und dem Vertrieb teilhaben; sie verlagert durch die umfassende Information – in einem Ausmaß, das die Möglichkeiten des Service in einem herkömmlichen Laden sprengt – den Schwerpunkt des Handels und verwandelt dadurch Ladengeschäfte in eine Art „Showrooms“ für den E-Commerce.
Als Schauplätze des Handels sind Städte schon immer physische Orte des Austauschs auf mehreren Ebenen gewesen. Die über persönliche Geräte zugängliche digitale Technologie erzeugt einen iterativen Kontext, in dem urbane Lebensstile und städtische Form in einen neuen Dialog eintreten und dabei das Physische und Virtuelle und die öffentliche urbane Bühne und die Backstage-Bereiche zu einem nahtlosen räumlichen Kontinuum verschmelzen. Der sofortige Zugang zu Informationen verändert das Tempo und die Rhythmen des Stadtlebens. Die Stadt als eine von der unschönen Infrastruktur der Backstage-Vorgänge befreiter Schauplatz des Konsums wird ersetzt durch temporäre, flüchtig-durchlässige Prozesse, die unaufhörlich von neuen Informationen angetrieben werden, um neue soziale Situationen und Orte zu erschaffen.

Logistikkreislauf

Es herrscht zunehmend Konsens über die Wichtigkeit, jede unserer Handlungen hinsichtlich ihrer Folgen für den Planeten zu beurteilen.

Dieser Konsens hat die traditionellen Backstage-Bereiche der Abfallwirtschaft und des Recycling in den Vordergrund des Konsums verschoben. Diese Verwischung der Grenzen zwischen zwei einstmals getrennten Bereichen hat zu einer Neuausrichtung der Liefer- und Vertriebsketten geführt.

Das System der „vorwärtsgerichteten“ Distribution – der Prozess, bei dem Rohmaterialien, Einzelteile und fertige Produkte von Zulieferern zum Herstellern und von dort über Vertriebsfirmen zum Verbraucher fließen – wird um seinen Gegenpart, die „rückwärtsgerichtete“ Distribution, erweitert. Bisher war die Entsorgungslogistik zuständig für die Beseitigung von schadhaften oder veralteten Produkten sowie den ständig wachsenden Bereich des Recycling. Es hat sich jedoch ein neues Segment herausgebildet, das das Einsammeln von gebrauchten Produkten und deren Recycling als Bestandteil der Markenstrategie in den Mittelpunkt stellt. Wenn der Verbraucher in einer vom Hersteller bereitgestellten, eigens dafür entworfenen Verpackung ein Produkt zurücksendet, das am Ende seines Produktlebenszyklus angelangt ist, so ist ein Teil des traditionellen Entsorgungsprozesses in den Vordergrund der Konsumsphäre gerückt. Dieser Materialfluss verwandelt die Distribution von einem linearen – von der Gewinnung des Rohmaterials über die Produktion bis zur Müllkippe – in einen zirkulären Prozess, der nicht mehr auf einer Müllkippe endet, sondern Abfälle und verbrauchte Produkte wieder zum Rohmaterial macht (nach dem Prinzip „cradle to cradle“ – von der Wiege zur Wiege).

Der Schwerpunkt in der Gleichung von Vertrieb und Handel auf der einen und Konsum auf der anderen Seite hat sich verlagert. Die tragbare digitale, über Soziale Medien erfolgende Kommunikation bringt Transparenz in das System; sie schafft Verbindungen zwischen der virtuellen und physischen Welt, und sie verbreitet Informationen, die gesellschaftliche Wertvorstellungen verändern.

Der mit dem logistischen Wissen ausgestattete Verbraucher wägt die Folgen seiner Handlungen ab: Welches ist der beste Preis, woher stammt dieses Produkt und was geschieht mit ihm, wenn ich es nicht mehr brauche? Die Hersteller und Vertriebsfirmen müssen spezifischer auf diese sich wandelnden Verhaltensmuster reagieren.

In der herkömmlichen Stadt war der Verbraucher ein passiver Bewohner einer von oben nach unten organisierten Welt; heute wird jeder aktiv in die Distributionskette eingebunden und entscheidet mit darüber, wie man die gebrauchten Produkte wieder dem Produktionszyklus zuführt. Wenn wir unserer ursprünglichen, aus der Welt des Theaters entlehnten Analogie von der dualen Stadt folgen, die in eine öffentliche Bühne und in einen dienenden Backstage-Bereich geteilt ist, so muss man sich die Stadt heute eher wie ein Totaltheater vorstellen, in dem die Trennung zwischen Zuschauerareal und Bühnenraum nicht mehr gegeben ist. Diese Verwischung von Unterschieden zwischen Elementen des Netzwerks verlangt eine neue ganzheitliche und integrierte Vision von Architektur und Stadt, die dynamische räumliche und soziale Implikationen haben wird.


[Aus dem Amerikanischen von Fritz Schneider und Anh-Linh Ngo.
Leicht gekürzte, bearbeitete und aktualisierte Fassung des Textes „Emerging Landscapes of Movement and Logistics“. Zuerst erschienen in Architectural Design Profile, Nr. 134, 1998, S. 16-21.]

[Susan Nigra Snyder ist Architektin und Städteplanerin. Sie lehrte an der Universität Pennsylvania und forscht zu den Themen Konsum, öffentlicher Raum und Urbanismus.
Alex Wall studierte Architektur und Kunstgeschichte. Seit 2000 ist er Professor am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und leitet dort das Urban Design Studio. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien 2005 Victor Gruen and the Transformation of the American Cityscape and Landscape bei Actar.]

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