Zeitschrift

db deutsche bauzeitung 05|2012
Französische Schweiz
db deutsche bauzeitung 05|2012

Learning from Monthey

Mietwohnungen »les Dailles« in Monthey (Wallis)

Der »bunte Vogel« inmitten durchschnittlicher Geschosswohnungsbauten stellt durch seine räumliche Struktur und seine eher industriell wirkenden Oberflächen vielerlei Bezüge zur Umgebung her. Die Beschränkung auf preiswerte Materialien eröffnete Freiheiten im Umgang mit dem Raum. Es entstanden wohnliche und auch anregende Lebensräume, die luxuriös erschlossen sind und trotz großer Offenheit im Innern viel Privatheit bieten.

9. Mai 2012 - Mathieu Jaccard
Eine Fahrt durch den Chemin des Dailles in Monthey eignet sich hervorragend als Einführung in die Charakteristik der Region. Die 400 m lange schnurgerade Straße verläuft parallel zur Rhône, die mit ihrem Tal als zentrale Ader den Kanton Wallis durchzieht. Am Fuß der links und rechts vom Fluss aufragenden Gebirgsausläufer setzt eine uneinheitliche Besiedelung ein, der kaum zu entkommen ist: Landwirtschaftsbetriebe, Industriegebiete, Einkaufszentren, Einfamilienhäuser und Wohnanlagen sind ohne erkennbare Ordnung durcheinandergewürfelt. Wie zum Beweis für die Versäumnisse der Stadtplanung endet der Chemin des Dailles abrupt an der Gemarkungsgrenze. Genau an dieser Stelle haben die Architekten bonnard woeffray im Jahr 2010 eine Wohnanlage mit 37 Wohneinheiten fertiggestellt. Sie wirkt so, als erschauere sie angesichts des sie umgebenden Durcheinanders.

»Vive Chappaz« ist noch in verblichenen Riesenlettern auf einem der Felsabhänge zu lesen, die hinter dem wenige Kilometer flussaufwärts gelegenen Ort Saint-Maurice aufragen. Der Schriftzug ehrt den Schriftsteller Maurice Chappaz, der unermüdlich – insbesondere in seinem 1976 erschienenen Buch »Die Zuhälter des ewigen Schnees« – die Gewissenlosigkeit und Kurzsichtigkeit anprangerte, mit der man im Wallis mit dem Aufschwung in Wintersport und Fremdenverkehr umgegangen ist. Eben dort, in Saint-Maurice, haben bonnard woeffray schon 1998 mit dem Betriebs- und Unterrichtsgebäude für die Schweizerische Armee die Kritiker auf sich aufmerksam gemacht. An ihm lassen sich einige der Merkmale ablesen, die für die gedanklichen Ansätze der beiden Architekten kennzeichnend sind. Schon allein aus der Tatsache, dass sie an der Ausschreibung teilgenommen haben, ist zu schließen, dass sie auch die weniger prestigeträchtigen Aufgabenstellungen und Konstellationen nicht geringschätzen und daran glauben, dass ein begrenztes Budget hochwertige Architektur nicht ausschließt. Die strenge Geometrie des Quaders verweist auf eine Sparsamkeit bei der räumlichen Aufteilung und bei den konstruktionstechnischen Entscheidungen. Dennoch mangelt es dem Entwurf nicht an Großzügigkeit. Das knallrote Holz der Fassaden macht den Bau zum Blickfang und eröffnet gleichzeitig den Dialog mit dem Grün der umliegenden Felder, zwischen Natur und Kultur. Dass die Fensterläden im geschlossenen Zustand keine Spur einer Gebäudeöffnung mehr erkennen lassen, ist ein Detail, das dem Objekt eine spielerische Dimension verleiht, denn die Aussage der Fassaden ändert sich je nach Nutzung.

V. a. über die Bearbeitung von Wettbewerben hat das Architektenpaar nach und nach eine originelle Sprache entwickelt und sich bei der Umsetzung der Herausforderung gestellt, hochwertige Architektur in eine oftmals mittelmäßige bauliche Umgebung zu integrieren. In der Art wie Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour Las Vegas unter die Lupe genommen haben, nahmen bonnard woeffray in ihr Vokabular die Formen, Materialien und Farben der Industrie- und Gewerbegebiete auf, die sich in einem Großteil des Rhônetals ausgebreitet haben, unterwarfen diese Referenzen dann allerdings einem disziplinierten Umgang mit Zuordnungen, Kosten und Effekten. Hieraus ist eine liebevoll ironische Architektur entstanden, die ihren Anspruch auf Qualität zum Ausdruck bringt, ohne die Nachbarschaft von oben herab zu behandeln. Die Wohnanlage am Chemin des Dailles ist hierfür ein gutes Beispiel.

Wege zur Verdichtung

Mit Lage und Größe nimmt das Gebäude Bezug auf die gegenüberliegenden Berge. Auch der unmittelbare Kontext wird dabei nicht negiert. So wird eine Kanalisationsleitung, die über einen Schacht zugänglich bleiben muss, für einen Durchgang zwischen Straße und Garten genutzt. Südlich davon liegt der Eingang zu einem Gemeinschaftsraum für die Nachbarschaft. Die halb unterirdische Garage, die ansonsten dafür sorgt, dass das EG ein halbes Stockwerk über Straßenniveau liegt, ist an dieser Stelle weggefallen; der Gemeinschaftsraum erreicht dadurch eine Höhe, die seiner Bestimmung gerecht wird.

Straßenseitig sorgt eine gebrochene Linienführung für eine lebendige Fassade. Durch die Fragmentierung wird der Bezug zur geringeren Größe der Gebäude in der Umgebung hergestellt. Vor den dunklen Hintergrund der Verglasungen sind horizontal Bänder aus perforiertem Weißblech gezogen. So können einige ausgewählte Fenster bis zum Boden reichen, ohne dass ihr unterer Teil von außen einzusehen wäre. Die straßenseitige Fassade ist im Norden um die Ecke herum gezogen. Auf der Gartenseite werden die perforierten Weißblechbänder zu Balkongeländern. Auch hier ist die lineare Fassadenführung mehrfach gebrochen. Von der Mitte her öffnet sich der Bau, als wolle er die Berglandschaft in die Arme schließen. Die beiden äußeren Gebäudeecken springen jedoch ein Stück weit vor und schirmen in einer Gegenbewegung den Garten von dem Durcheinander in der Ebene ab.

Die gesamte Länge der Fassade wird von Balkonen eingenommen. Die einzelnen Segmente sind jeweils in einem von vier vorgegebenen Grüntönen gehalten. Dieses Mosaik macht den Eindruck, als nähme es das Verschwinden der Natur ringsum vorweg und legte dagegen einen Chlorophyllvorrat an. Anliegen des Entwurfs ist es jedoch nicht, sich Veränderungen entgegenzustellen. Er spricht sich vielmehr klar und deutlich für den Geschosswohnungsbau aus, obwohl im französischsprachigen Teil der Schweiz – auch in Genf und Lausanne – immer noch stark am Einfamilienhaus als ideale Wohnform festgehalten wird. In der Nacht wird die Fassade gartenseitig durch Beleuchtung und die Aktivitäten der Menschen in ihren Wohnungen so lebendig, als lebte man in der Stadt. Diskret wird hier eine Aussage gemacht, nämlich dass Bebauungsdichte und Lebensqualität keine Gegensätze sind. Wenn die Bemühungen nicht auf die Verdichtung ausgerichtet werden, gehen dem Rhônetal auch noch die letzten Flächen verloren, die seine Schönheit ausmachen.

Im EG umfasst der Grundriss fünf Wohnungen in identischer Aufteilung wie in den Stockwerken darüber – dort allerdings mit Balkon statt Terrasse – und den Gemeinschaftsraum. In den oberen vier Stockwerken liegen jeweils acht durchgesteckte Wohnungen. Zunächst entsteht der Eindruck, dass angesichts der komplexen Geometrie der Fassaden, die ihre Fortsetzung in den Wohnungstrennwänden findet, eine systematische Raumaufteilung kaum möglich sein dürfte, ohne dass dies zulasten von mindestens einem Zimmer geht. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch erkennbar, dass die verschiedenen Wohnungsgrößen um ein sich wiederholendes Motiv angeordnet sind und zur Eingliederung der unterschiedlichen Ausrichtung der Trennwände nur wenige Winkel eingesetzt werden. In den vier größeren Wohnungen ist der zur Straße hin gelegene Essbereich ebenso rechteckig wie die Zimmer. In den dazwischen liegenden kleineren Wohnungen weicht nur ein Zimmer von dieser Regel ab. Gartenseitig liegen Wohnzimmer und Schlafzimmer rechtwinklig beieinander. Die Wand zwischen den beiden Räumen steht im Wechselspiel mit den auf den Balkon führenden Glastüren, um die drei Elemente so miteinander zu verbinden, dass sie jeder Situation gerecht werden. In der Mitte sind über einen Eingangs- und Flurbereich die Sanitärräume erreichbar. Die bajonettartige Anordnung der Gemeinschaftsräume zieht sich als diagonale Bewegung durch die Wohnungen, der Effekt wird durch die nicht parallel verlaufenden Wände verstärkt. Die Balkone und das perforierte Blech vor dem Fenster im Essbereich wirken als Filter zwischen innen und außen und umgekehrt. Durch das getönte Glas über der Arbeitsfläche in der Küche und im oberen Teil der Sanitärräume gelangt Tageslicht bis in die Kernbereiche der Wohnung und nimmt Einfluss auf die Farbgebung. Dieses effektvolle Instrument, das gleichzeitig eine kostengünstige Lösung darstellt, ist kennzeichnend für die gesamte Umsetzung des Projekts. Die Treppenhäuser sind wie die Decken in den Wohnungen aus Sichtbeton, die Wirkung der farblich gefassten Geländer wird dadurch verstärkt. Luxuriös sind v. a. die räumliche Qualität und die Großzügigkeit. Die aus der Einhaltung des Minergie-Standards resultierenden Ersparnisse sind im Voraus auf die Größe der Wohnungen eingezahlt. Für die Beheizung ist die Firma SATOM zuständig, ein von den Kommunen der Region zu dem Zweck gegründetes Unternehmen, die Abwärme aus der Hausmüllverbrennung zu verwerten.

Mit dieser Wohnanlage haben bonnard woeffray einmal mehr ihre erstaunliche Fähigkeit unter Beweis gestellt, Gegensätze miteinander in Dialog zu bringen und einen Ausgleich für Extreme zu finden. Ökonomie der Mittel und Großzügigkeit, Bezugnahme auf die Industrie und Achtung vor der Natur, Zuneigung zu den Vorlieben der breiten Masse und intellektuelle Ansprüche sind Beispiele für Themenstellungen, die sie erfolgreich bearbeiten konnten, indem sie sich aus den gegensätzlichen Bereichen jeweils das Beste zu eigen gemacht haben. So mag die Aussage stimmen, dass bonnard woeffray am Schnittpunkt zwischen der Gründlichkeit der Deutschschweiz und dem Einfallsreichtum der Romandie die wohl schweizerischsten aller Architekten sind.

[Aus dem Französischen von Angela Tschorsnig]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

Tools: