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db deutsche bauzeitung 08|2012
London olympisch
db deutsche bauzeitung 08|2012

Olympischer Wellenschlag

London Aquatics Centre

Das Schwimmstadion bildet mit seiner expressiven Formensprache eine Landmarke an einem der Hauptzugänge zum Olympiapark. Durch den immensen Stahlverbrauch für die aluminiumgedeckte Dachkonstruktion und enorme Kostensteigerungen geriet der Bau in die Kritik. Nach den Spielen werden die unschönen Zuschauertribünen entfernt. An ihre Stelle treten Glasfassaden; die feinen Betonschwünge des Innenraums werden dann auch von außen sichtbar, die Eleganz des Bauwerks kann sich voll entfalten.

1. August 2012 - Jay Merrick
Das Aquatics Centre ist zweierlei zugleich: exquisite Architektur, aber auch grobes Flickwerk. An die einem Mantarochen ähnliche Form des ursprünglichen Entwurfs, der für 3 000 Zuschauer geplant war, wurden buchstäblich riesige, ausladende Körbe mit steilen Sitzplatzreihen angehängt, in die man nun 17 500 Personen zwängen kann. Die meisten davon werden nur einen entfernten, schwindelerregenden Blick auf die Schwimmer und Springer bekommen.

Diese temporären Tribünen werden im nacholympischen »Legacy Mode« wieder entfernt. Und erst dann wird sich die Geometrie des Aquatics Centre voll entfalten und ein architektonisches Werk von beeindruckender Dramatik offenbaren. »Unser Ziel war immer ein umwerfendes Dach – eine Welle, Wasser, irgendeine Art Meeresgetier«, sagt Zaha Hadid. Aus ihren Worten spricht die Auffassung, dass Architektur grundsätzlich vom Gestischen, vom Ausdruck leben sollte. Doch es ist nicht nur die große Geste, die dieses Gebäude so besonders macht. Was es wirklich auszeichnet, ist die Schönheit und Qualität seiner Materialien und seiner Ausführung.

Zaha Hadids »Meerestier« ist 160 m lang und bis zu 90 m breit. Es gibt keine sichtbaren Stützen, die die 3 200 t Stahl und 70 000 Bolzen halten. Das Dach liegt an nicht mehr als drei Stellen auf: auf zwei schlanken Betonkernen nahe des nördlichen Gebäudeendes und auf einer Betonwand an seinem südlichen Ende. Diese konstruktiven Anker sind kaum wahrnehmbar, sie gehen quasi im Wellengang des Gebäudes unter.

Dieses bravouröse Stück Architektur schlug in einem Wettbewerb unter Vorsitz von Richard Rogers die Entwürfe von 40 anderen Büros, darunter z. B. auch Behnisch Architekten. Zaha Hadids ursprünglicher Entwurf umfasste ein fast doppelt so großes Gebäude wie das jetzige Projekt, mit einem 300 m langen Dach, das die Wettkampf- und Sprungbecken sowie ein Wasserpolo- und ein Trainingsbecken überdecken sollte. Letzteres befindet sich nun unter der Brückenpiazza, über die die Zuschauer vom Bahnhof Stratford her auf das Olympiagelände gelangen. Der Originalentwurf umfasste bereits temporäre Tribünen, nahtlos in die organische Architektur eingefügt, doch Budgetkürzungen zwangen die Architekten dazu, vereinfachte Tribünenkonstruktionen zu entwickeln, die mit einem weißem Vinyl-Kompositmaterial bekleidet sind.

Erfreuliches Innenleben

Die meisten Zuschauer werden das Aquatics Centre über die Umgänge in den temporären Tribünen betreten. Deren Zugänge liegen im Osten des Gebäudes auf Geländeniveau, auf der gegenüberliegenden Seite auf der Brückenebene.

Der verglaste Haupteingang unter dem vorkragenden Dach im Westen, der präsenteste und architektonisch dramatischste Teil seines Äußeren, ist zunächst einmal den besonderen Gästen vorbehalten. Er ist das Erste, was die Besucher zu Gesicht bekommen, und zwar ganz nah, nachdem sie den Olympiapark durch die chaotischen Markenlandschaften der gigantischen Shoppingmall Westfield erreicht haben – das wahre Tor zu den Olympischen Spielen.

Die Architektur des Aquatics Centre wirkt wie eine Art Gegengift für diesen kommerziellen Zynismus und weist expressive Qualitäten auf, die man nicht immer an Zaha Hadids Bauten entdeckt. Betrachtet man das Zentralgebäude für das BMW-Werk in Leipzig oder das Feuerwehrhaus in Weil am Rhein, so besteht kein Zweifel daran, dass diese eine Polemik ausdrücken sollen: Architektur als gezielte Politisierung von Raum, Form und kreativen Beweggründen.

Nicht so im Aquatics Centre. Hier hat man nicht das Gefühl, das Design müsse die architektonischen Theorien von Zaha Hadid und ihrem wichtigsten Mitarbeiter, Patrik Schumacher, belegen. Stattdessen trifft man auf eine genussvolle Fusion von Form und Material, und auf ein Bewusstsein für die Anforderungen des Schwimmsports, das sich in vollkommener Anmut ausdrückt. Angesichts der wunderschön geformten Sprungbretter beispielsweise wird das vertraute Hadid-Schumacher-Mantra von »Kraftlinien« oder »Feldstrukturen« irrelevant. Es sind die handwerklichen Qualitäten des Aquatics Centre und die langen, wellenförmigen Kontraktionen des Dachs, die die Wahrnehmung dominieren. Das wogende Dach definiert Räume rund um das Sprungbecken und das Wettkampfbecken mit seinen zehn Bahnen. Die Geometrie des Dachs und der betonierten Taillen der Arena ist komplex, doch die Oberflächen sind perfekt ausgeführt. Finnforest lieferte die 35 000 exakt beschnittenen Holzlamellen, die die Untersicht des Dachs bilden – in ihren Kraftlinien findet sich nicht der kleinste Fehler. Der Beton fühlt sich seidig an und würde mit Sicherheit Oscar Niemeyer begeistern, der zu Zaha Hadids Helden zählt.

Die konstruktive Gymnastik des Aquatics Centre ist genauso spannend wie die architektonische Form. Wenn große Bauten so anspruchsvolle Formen haben wie dieser, ist die wesentliche Frage recht schlicht: Wie haben sie das gemacht? Beim Blick auf eine Schnittzeichnung fällt als Erstes die enorme Stahlmenge in der Doppelkurve des parabolischen Dachs ins Auge. Hier gibt es eine Verbindung mit der Dachkonstruktion des Phaeno in Wolfsburg: Die deutsche Architektin Sara Klomps gehörte bei beiden Projekten zum Kern des Entwurfsteams.

Die Stahl-Fachwerkträger des Dachs, die zum Teil 40 m lang und 70 t schwer sind, wurden auf riesigen Montagegerüsten gebaut. Nachdem die halbe Dachkonstruktion fertiggestellt war, wurde ein Teil der Gerüste entfernt, um die Grube für das Sprungbecken auszuheben. Das Dach wurde über den verbleibenden Gerüsten so lange abgesprießt, bis der Beckenaushub abgeschlossen war. Anschließend wurde es ein zweites Mal angehoben, bevor es in seine endgültige Lage gebracht und abgesenkt wurde.

Das Aquatics Centre ist ohne Zweifel ein architektonisches und konstruktives Wunderwerk. Doch da es für zwei unterschiedliche Zwecke – die Olympischen Spiele und die Zeit danach – entworfen wurde, ist es noch zu früh, ein vernünftiges Urteil über die architektonische Qualität des eigentlichen Gebäudes zu fällen. Schließlich lässt sich nur sein Innenraum in seiner Gänze erleben. Zaha Hadid und ihr Projektleiter Jim Heverin haben der Landschaftsgestaltung in der unmittelbaren Umgebung der Arena viel Aufmerksamkeit gewidmet, doch ist der vollständige »Architekturpanorama«-Effekt ebenfalls noch nicht wahrnehmbar.

»Architektur muss etwas an sich haben, das das menschliche Herz anspricht«, sagte der große japanische Architekt und Stadionbauer Kenzo Tange. Diese direkte Wirkung auf die Herzen wird von den Tribünen des Aquatics Centre verhindert, und bis die Olympischen Spiele vorbei sind, kann dieses Gebäude nur als Jekyll-und-Hyde-Architektur bezeichnet werden – von außen verwirrend und ausdruckslos wie eine Mall, doch innen aufregend genug, die Herzen der olympischen Schwimmer ein bisschen schneller schlagen zu lassen, wenn sie auf ihren Startblöcken zum Sprung ansetzen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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