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TEC21 2012|48
Durchmesserlinie II
TEC21 2012|48
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Lebensraum für Zugereiste

Im Gleisfeld zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof und Altstetten haben viele seltene Tiere und Pflanzen einen Lebensraum gefunden. Das Areal gilt als wertvolle Pionierfläche im Mittelland und steht unter Naturschutz. Durch neue Bauten und Gleise für die Durchmesserlinie werden jedoch Teile davon versiegelt. Mit verschiedenen Massnahmen versuchen die Projektbeteiligten zu erreichen, dass es Fauna und Flora nach den Bauarbeiten mindestens so gut geht wie zuvor. Doch der Platz wird immer knapper.

23. November 2012 - Daniela Dietsche
Zwischen dem Hauptbahnhof Zürich und Altstetten können Reisende derzeit jeden Tag beobachten, wie der Brückenbau für die Durchmesserlinie voranschreitet (vgl. «Schritt für Schritt über das Gleisfeld», S. 16). Aber nicht nur auf und über den stark befahrenen Gleisen des Zürcher Vorbahnhofs herrscht reges Treiben, sondern auch auf den vielen Teilflächen zwischen den Schienen. Diese bilden kein einheitliches Biotop, sondern unterschiedliche Lebensräume mit einer erstaunlichen Artenvielfalt. Doch man muss genau hinsehen, denn eins haben die dort lebenden Tiere und Pflanzen gemeinsam: Sie sind eher unauffällig.

Wertvolle 3000 x 300 Meter für Pflanzen und Tiere

Insgesamt 150 000 m² der 900 000 m² Bahnfläche zwischen dem Zürcher Hauptbahnhof und Altstetten gelten als naturnahe Flächen. Auf den Freiflächen entlang den Gleisen ist es sehr trocken und warm, denn es gibt keine Schatten spendenden Bäume. Die Böden sind mager und speichern kaum Feuchtigkeit. Die Bedingungen ähneln denen der steinig-sonnigen Jurahänge. Der Lebensraum lässt sich mit Pionierstandorten in Flussauen vergleichen, erklärt Barbara Huber, SBB-Projektleiterin Umwelt. Die natürliche Auendynamik entsteht durch Hochwasser, die, wenn sie zurückgehen, magere Kiesbänke hinterlassen. Dort siedeln sich Pionierpflanzen an – bis zum nächsten Hochwasser. Auf dem Bahnareal sorgen Menschen für die nötige Dynamik, indem sie es als Maschinenpark- oder Lagerplatz für Baumaterial nutzen. Dieses Umfeld zieht spezialisierte Tiere und Pflanzen an, die andernorts im Mittelland selten geworden sind. Weit verbreitet ist die lockere Pioniervegetation auf Kiesflächen oder die Besiedelung ungenutzter Randstreifen und schmaler Böschungen durch Ruderalpflanzen wie die Eselsdistel (Onopordum acanthium), die Wilde Möhre ( Daucus carota), den Schmalblättrigen Hohlzahn (Galeopsis angustifolia), den Scharfen Mauerpfeffer (Sedum acre), die Wegwarte (Cichorium intybus) oder den Rainfarn ( Tanacetum vulgare). Zudem werden hier drei in der Schweiz gefährdete Tierarten gezielt gefördert: die Blauflüglige Sandschrecke (Sphingonotus caerulans), die Mauereidechse ( Podarcis muralis) und die Wildbienen (in der Schweiz sind über 580 Arten bekannt).

Vor Baubeginn den Zustand erfassen

Die Planenden der Durchmesserlinie standen vor der Herausforderung, die neuen Brücken und Gleise bauen und gleichzeitig die erforderlichen Strukturen für die ökologisch wertvollen Populationen erhalten zu sollen. Dabei geht es nicht vorrangig um den Schutz der Tiere, denn umgesiedelt werden sie nicht – es gilt vielmehr, ihre Lebensräume zu erhalten. Bereits als der Bahnhofausbau für das Projekt Bahn 2000 bevorstand und dieser die Freiflächen zu beeinträchtigen drohte, begannen sich die SBB damit zu beschäftigen, wie Fauna und Flora geschützt werden könnten. Denn das Bundesgesetz vom 1. Juli 1966 über den Natur- und Heimatschutz (NHG) gibt vor: Falls sich eine Beeinträchtigung schutz würdiger Lebensräume durch technische Eingriffe unter Abwägung aller Interessen nicht vermeiden lässt, hat der Verursacher für besondere Massnahmen zu deren bestmöglichem Schutz, für Wiederherstellung oder für angemessenen Ersatz zu sorgen.

Anfang der 1990er-Jahre liessen die SBB die von den damals geplanten Grossprojekten betroffenen Flächen erstmalig hinsichtlich ihres ökologischen Werts untersuchen. Die Umweltfachleute der SBB legten ein Raster (50 m × 25 m) über den Perimeter und bewerteten jede Zelle. Auf der Grundlage dieser ökologischen Aufnahmen entstand ein Bewertungsund Ausgleichsmodell, das eine begrenzte Anzahl von Lebensraumtypen für trockene Standorte beinhaltet. Dieses Schema kam anschliessend bei allen Grossprojekten im Abschnitt Altstetten–Zürich HB zur Anwendung. Die Fachleute betrachteten jeweils den Vegetationsdeckungsgrad in der Rasterzelle und prüften, ob es dort Habitatstrukturen für Tiere gibt. Stellvertretend für die besonders gefährdeten und verletzlichen Arten werden drei Zielarten mit Kleinstrukturen gefördert: das heisst Spezies, die auf diesem Areal typisch und einfach nachzuweisen sind sowie auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten stehen. Auf ihre Anforderungen an den Lebensraum wurden die Ersatzmassnahmen zugeschnitten. Die durch bauliche Eingriffe verloren gegangenen Flächen werden bisher noch innerhalb des SBB-Areals ersetzt. Doch der Raum, auf dem ökologischer Ersatz möglich und sinnvoll ist, werde immer knapper, sagt Projektleiterin Huber. Der Konflikt zwischen dem Naturschutz und dem wirtschaftlichen Druck auf diese Flächen in bester innerstädtischer Lage sei nicht gelöst, und es sei durchaus legitim, über eine andere Nutzung dieser Bereiche nachzudenken.

Lebensräume für Tiere erhalten und gestalten

Mit Massnahmen, die den natürlichen Bedingungen nachempfunden sind, schaffen die Projektbeteiligten neue Lebensräume. Diese Eingriffe wurden im Umweltverträglichkeitsbericht grob festgelegt und im landschaftspflegerischen Begleitplan (vgl. «Instrument LBP», TEC21 5/2008) detailliert beschrieben. Für eine der drei Zielarten, die solitär lebenden Wildbienen, werden beispielsweise künstliche Nisthilfen aufgestellt, und das Gebiet wird mit Altholz und Sandlinsen einladend gestaltet. Die Blauflüglige Sandschrecke hingegen liebt grosse, offene Kies- oder Sandflächen mit geringem Pflanzenbewuchs. Sie ernährt sich von Gräsern und Kräutern. Doch solche Flächen sind rar auf dem SBB-Areal, und die Bauarbeiten setzen dem Insekt zu.

Eine erste Erfolgskontrolle nach den Bahn-2000-Arbeiten ergab, dass die Population kleiner geworden war. Wie sich der Verlust weiterer Flächen auswirkt, kontrollieren die SBB nach Abschluss der Arbeiten zur Durchmesserlinie erneut. Für die Zielart Mauereidechse ist vor allem die Möglichkeit zur Vernetzung relevant. Die Umweltbehörden schreiben daher vor, dass entlang wichtiger Korridore ein unbefestigter Kiesstreifen als lineares Vernetzungselement anzulegen sei, denn auf Belag oder Schotter wandern die Tiere nicht. Zudem werden Gitterkörbe mit Steinen oder Steinpackungen in der Böschung platziert, die als frostsichere Winterquartiere dienen können.

Neben diesen drei festgelegten Zielarten wird derzeit auch die Gelbbauchunke (Bombina variegata) gefördert. Sie wurde im beschriebenen Perimeter gefunden und steht ebenfalls auf der Roten Liste der gefährdeten Tierarten. Da aber die Lebensräume im Gleisfeld eher trocken und warm sind, hat die Fachstelle Naturschutz von Grün Stadt Zürich angeregt, zu ihrer Unterstützung kleine Feuchtareale anzulegen. Die SBB haben dies aufgegriffen, und bereits im vergangenen Frühjahr konnte die Umweltbaubegleitung nachweisen, dass die Gelbbauchunken die für sie erstellten Tümpel beim Bahnhof Altstetten angenommen haben, um sich fortzupflanzen. Renaturierung und Allmählicher Wa ndel Flächen, die während den Bahnhofausbauten als Baupiste oder Deponie genutzt wurden, werden nach Abschluss der Bauarbeiten renaturiert. Auf den beanspruchten Flächen entsteht durch gezieltes Aussaat neue Vegetation. Das einheimische Saatgut hierfür wird eingekauft, denn es muss sich dabei um regionale Ökotypen wie Ruderalflora oder Wildblumenwiese handeln, sagt Barbara Huber. Es ist jedoch durchaus möglich, dass die neu angesäten Pflanzen nicht so wachsen wie geplant. So kann beispielsweise in einem Kies-Sand-Gemisch, das aufgebracht wird, bereits fremdes Saatgut erhalten sein. Problematisch werden fremde Pflanzen allerdings erst, wenn sie die einheimischen Arten verdrängen. In der Plangenehmigungsverfügung ist deshalb auch die Neophytenkontrolle als Auflage enthalten. Wichtig für die Vegetation ist der regelmässige Unterhalt, damit sich die gebietsfremden Pflanzen nicht zu stark ausbreiten. Die einzelnen Flächen werden aber nicht künstlich auf dem Stand des Sekundärbiotops gehalten.

Mit der Zeit können die Böden durchaus fetter werden, und mit zunehmender Biomasse verändern sich die Lebensräume. Für die Zielarten kann das zu einem Problem werden, das die SBB aber in Kauf nehmen. Sollten offene Kiesflächen einwachsen, so ginge das auf Kosten der Blauflügligen Sandschrecke; werden die Flächen nicht geschnitten und Drahtgitterkörbe überwuchert, fehlen den Eidechsen die heissen Steine, um sich zu sonnen.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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