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TEC21 2013|11
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Verlag: Verlags-AG

Vulkanwelt, Gräserwald und Regenbogengarten

Architektur muss keine Geschichten erzählen. Sie kann aber Impulse setzen, damit die Nutzer in einer spezifischen Atmosphäre dazu angeregt werden, sich durch eigene Geschichten die Architektur anzueignen.
«Die Baupiloten» aus Berlin gehen diesen Weg – indem sie sich früh intensiv mit den Nutzerinnen und Nutzern über deren Vorstellungen von Architektur auseinandersetzen.

8. März 2013 - Christian Holl
Architektur sagt etwas darüber aus, wie Menschen ihren Umgang miteinander regeln, wie sie einander und sich selbst sehen beziehungsweise gesehen werden wollen. Architektur kann zu einer Erzählung werden, die von dem berichtet, wie Menschen sie nutzen.

Gemeint ist mit «Erzählung» nicht die Wiedergabe eines Geschehens, sondern eine Form, sein Leben zu begreifen, seine Rolle in der Welt zu verstehen und zu gestalten. Wenn Menschen der Architektur ihre eigenen Geschichten einschreiben, dann kann man davon sprechen, dass sie sich mit einem Gebäude identifizieren. Eine solche Identifikation stellt sich umso eher ein, je besser die Kommunikation zwischen Architekten und Nutzern funktioniert. Behinderungen erfährt der verbale Austausch, weil je andere Vokabulare verwendet werden. Vorstellungen und Wahrnehmung von Architektur sind oft divers, Fachsprache und alltagsweltliche Bedürfnisse artikulieren sich unterschiedlich. Die Möglichkeiten der Verständigung zwischen Profis und Laien loten «Die Baupiloten» an der Schnittstelle von Lehre, Forschung und Praxis in partizipativen Prozessen aus. Die Grundthese dabei ist, dass Atmosphären als zentrales Instrument der Verständigung zwischen Architekt und Nutzer geeignet sind, weil sie die präzise architektonische Festlegung meiden. Auf der anderen Seite können sich Nutzer mitteilen, ohne von der vermeintlichen Notwendigkeit einer korrekten Formulierung überfordert zu werden.

Es lohnt sich, einen Blick auf die konkrete und jeweils spezifische Form zu werfen, mit der die Baupiloten methodisch auf verschiedene Situationen reagieren.

Ausführliche Entscheidungsfindung

An der Nikolaus-August-Otto-Oberschule in Berlin, einer Montessori-Gemeinschaftsschule, sollte, nachdem 2011 ein mehr oder weniger konventioneller Neubau eingeweiht wurde, ein experimenteller Begegnungspavillon entstehen. In einem ersten Schritt hatten die Schüler mit Collagen dargestellt, welche Atmosphäre ein solcher Pavillon ausstrahlen könnte. Diesen Collagen wurden Namen gegeben, die die bildliche Atmosphäre um eine sprachliche erweiterten. Die Schüler und die Studierenden der Baupiloten wählten gemeinsam einen Favoriten aus, und zwar den «tropischen Gräserwald», auf dessen Grundlage die Studierenden erste architektonische Fantasien entwickelten. In einem nächsten Schritt tauschten sich Schüler und Studierende über die Orte aus, die sie regelmässig besuchen, und darüber, was sie ihnen bedeuten, sodass die Studierenden ein Gefühl dafür bekamen, wie Schüler den Raum nutzen. Dann wurden in einem Workshop erneut gemeinsam Entwürfe von Elementen konzipiert mit Qualitäten, die sich Schüler von ihrem Pavillon erwarten – ein besondere Schaukel etwa oder ein Versteck, das die Beobachtung anderer zulässt. Diese Elemente wurden von den Studierenden zu einem modular aufgebauten Konzept für einen Pavillon weiterentwickelt. Nach erneuter Diskussion über die Entwürfe wurde eine Wahl getroffen. Realisiert wurde schliesslich ein aus Holzelementen aufgebauter Pavillon, mit Sitznischen und Rückzugsbereichen unterschiedlicher Grösse, dessen farbige und transluzente Fenster für verschiedene Stimmungen sorgen (Abb. 05).

Straffer Partizipationsprozess

Nicht immer ist ein solch ausführlicher Beteiligungsprozess möglich oder gewünscht. Beim Neubau der Kindertagesstätte (Kita) Lichtenbergweg für etwa 100 Kinder in Leipzig sollte der Partizipationsprozess straff durchgeführt werden, nicht zuletzt, weil innerhalb der Bauherrenschaft Skepsis bestand, ob die Beteiligung für die Bauaufgabe ausreichend belastbare Ergebnisse liefern würde. Das in einem grossen Garten mit vielen Bäumen gelegene Grundstück sollte so bebaut werden, dass es sich in die Nachbarschaft der von Eigenheimen geprägten Strasse fügt. In einer ersten Diskussion wurden mit den Pädagogen, den Bauherrenvertretern (Hochbauamt und Jugendamt), dem Träger und der Kita-Leitung Wünsche und Erwartungen, Prioritäten und Raumnutzungen, der Zusammenhang zwischen pädagogischem Konzept und Architektur erfasst. Ergänzt wurde dies durch atmosphärische Begriffe, die auch gegensätzlich sein konnten – etwa geborgen, lichtdurchflutet, veränderbar. Der Partizipationsworkshop mit den Kindern griff ein bereits vorher in der Kita behandeltes Thema auf: die vier Elemente. Bilder von Traumwelten der Kinder gaben erste Einblicke in deren Wünsche. Die Drei- bis Vierjährigen bauten in Kartons Modelle eines Waldgartens, «mit all den fantastischen Dingen zum Klettern, Liegen, Schaukeln, dem raschelnden Laub oder dem erdigen Boden». Die Vorschulklasse entschied, in Gruppen einen Regenbogengarten und eine Vulkanwelt zu bauen. Die Baupiloten liessen den Kindern Zeit, erinnerten sie aber hin und wieder an das Thema. Dabei sorgten Begriffe wie «Vulkan», «warm», «kuschelig», «Regenbogentreppe» und «Aussichtswolke» dafür, dass der Bezug zum Ausgangspunkt des Prozesses präsent blieb.

Die Modelle wurden anschliessend auch hier Schritt für Schritt über Fotomontagen und Schnittskizzen einer architektonischen Umsetzung zugeführt. Der Bau Kita wurde im Frühling 2011 begonnen und 2012 fertiggestellt.

Nicht nur für Kinder und Jugendliche

Ein drittes Beispiel illustriert, dass der an Atmosphären gebundene Partizipationsansatz, entsprechend variiert, auch mit Erwachsenen durchgeführt werden kann. Bei der Sanierung des zwischen Spree und Tiergarten in Berlin gelegenen, denkmalgeschützten Studentenwohnheims Siegmunds Hof aus den 1960er-Jahren wurden auf der Basis von 300 Interviews mit Studierenden zum gemeinschaftlichen Wohnen mögliche Aktivitäten und atmosphärische Beschreibungen destilliert. Im Planspiel «Spiel deinen Wohntraum – Wohn deinen Spielraum» wählten sie verschiedene Aktivitäten, sortierten sie räumlich und charakterisierten sie atmosphärisch.

Das Ergebnis gab Aufschluss über Prioritäten und Defizite des Bestands und das Verhältnis zwischen Privatheit und Öffentlichkeit innerhalb gemeinschaftlichen Wohnens. So war dem Freizeitsport ursprünglich zu wenig Bedeutung beigemessen worden, und die Studierenden empfanden die Verbindungen zwischen Innen- und Aussenräumen als unzureichend.

Zusätzlich zur energetischen und bautechnischen Sanierung wurden daher die Wohnungen so umgebaut, dass aus einer rigiden Einzelzimmerreihung eine Struktur aus verschiedenen Wohnungstypen entstand, vom Einzelzimmer bis zur Vierzimmer-Wohngemeinschaft. Terrassen schaffen Übergänge zum Garten, die Freibereiche werden durch grosse Sitzmöbel nutzbar, der Platz vor dem Haus öffnet sich zur Strasse, Gemeinschaftsräume werden thematisch differenziert. Die Häuser werden durch die Namensgebung charakterisiert: Es gibt ein Haus für Kunst- und Gartenfreunde, eines für Sportfreaks und eines für Workaholics.

Die drei Beispiele zeigen die Bandbreite, in der die Partizipationsmethoden der Baupiloten angewendet werden; sie dienen dazu, sinnliche und atmosphärische Qualitäten zu finden, die räumlich interpretiert und mit Namensgebungen, Farben sowie Lichtstimmungen umgesetzt werden können. Bei aller Weiterentwicklung der ersten Ansätze bleiben die Bezüge zu den ersten atmosphärischen Aussagen stets bestehen. Prinzipiell kann diese Methode weiter ausgebaut werden, auch für die Gestaltung von Arbeitswelten etwa ist eine Adaption vorstellbar. Die letztlich gefundenen ungewöhnlichen Konstruktionen und Formen sind dabei in direktem Bezug zu den Ideen der Nutzer entstanden, greifen die narrativen Impulse aus Collagen auf und setzen durch deren Übertragung selbst ihrerseits narrative Impulse.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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