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Die Logik der Differenz

Eine Ausstellung von Arbeiten des Atelier Bow-Wow an der ETH Zürich

17. Juni 2013 - Sabine von Fischer
Die Wahrnehmungsmaschine der Ausstellung setzt gerade dort an, wo man sie nicht erwartet, nämlich mit einer Irritation. In der zentralen Halle des Hauptgebäudes der ETH stehen Möbel: Tische, Stühle und Liegen mit teilweise sonderbaren Formen. Wo sind die Exponate der angekündigten Retrospektive des Atelier Bow-Wow?

Der Bruch mit der eingespielten Gebrauchsweise der Halle ist ein intelligenter Schachzug. Für die Arbeiten des 1992 von Momoyo Kaijima und Yoshiharu Tsukamoto gegründeten japanischen Architekturbüros Atelier Bow-Wow wurde in Zusammenarbeit des Instituts gta und der Architekten ein zweiteiliges Ausstellungskonzept erarbeitet. Laurent Stalder betonte in seiner Eröffnungsrede den offenen, nicht abgeschlossenen Erkenntnisweg, den das Büro in den letzten 20 Jahren durchlaufen hat. Dies verlangte nach einem besonderen Ausstellungskonzept. Die Kernthemen des Gebrauchs und der Aneignung setzt der erste Teil der Ausstellung. Der zweite Teil, die Retrospektive, demonstriert das breite Spektrum, innerhalb dessen diese Themen erkundet wurden.

Analyse des Alltäglichen Die genannte Installation in der Halle führt im täglichen Gebrauch eine der Hauptabsichten des Atelier Bow-Wow vor, nämlich den Gebrauchswert von Räumen auszuloten. Die Installation im 1865 als Skulpturenhalle eingerichteten Innenhof des Hauptgebäudes der ETH von Gottfried Semper überrascht durch ihren Bruch mit fast allen bekannten formalen Traditionen der Architektur. Neben originalgetreuen Nachbauten von Sempers Stuhl- und Tischentwürfen gibt es gestreckte, gestauchte, geschrumpfte und verbogene Versionen der Möbel zum Arbeiten und Schwatzen, Sitzen und Liegen. Das Ziel des aus edlem Nussbaum gefertigten Mobiliars ist nicht die Schönheit der Form, sondern des Ausloten des Spielraums, den die Architektur den Nutzern gewährt. Nur ein Gebäudeplan auf einem der Holztische in der Mitte der Möbelinstallation verweist auf die Werkschau in den umlaufenden Korridoren.

Dieser große Plan und eine im Hosentaschenformat gefaltete Übersicht führen durch die in elf Kapitel chronologisch geordnete Werkschau. Die vertrauten Wandvitrinen mit breiten Aluminiumfassungen auf den Korridoren des Erdgeschosses dienen während der Dauer der Ausstellung einmal nicht als Informationsträger für die universitären Verlautbarungen und Veranstaltungshinweise, sondern wurden als Vitrinen für die Präsentation der Zeichnungen, Fotografien, Filme und Publikationen zweckentfremdet. Diese Umdeutung der alltäglichen Informationsträger in museale Objekte ist ein äußerst intelligenter kuratorischer Einfall: So macht die Ausstellung selbst vor, was viele der architektonischen Interventionen des Atelier Bow-Wow beabsichtigen, nämlich Gewohnheiten zu untersuchen und auch zu unterwandern. Neben dem Südportal beginnt der Rundgang mit frühen typologischen Untersuchungen des Büros, in loser chronologischer Ordnung folgen kleine Wohnhäuser, Stadtforschung, im sechsten Kapitel mit dem Titel „Aneignung“ Schnittperspektiven wie jene für das Nora House (2006). Diese Art der Darstellung erlaubt es den Architekten, die Vielfalt verschiedener Wahrnehmungswelten auch zeichnerisch zu inszenieren, wie Laurent Stalder in seinem Einführungsvortrag herausstrich.

Nach einem Abschnitt mit den großformatigen Public Drawings legt die Retrospektive gegenüber dem östlichen Seiteneingang den Wandel vom Interesse am einzelnen Objekt zur sozialen Dimension der Architektur offen. Zwischen einer Darstellung der Vielfalt von privaten Räumen auf den Balkonen des Großwohnungsbaus an der Rue Rebière in Paris (2012), dem Forschungsprojekt und Buch Window Scape (2011) und einem Szenario für das im März 2011 vom Tsunami heimgesuchte Fischerdorf Oshika werden Handlungsspielräume sichtbar, die die Ausstellung im Kapitel „Architektur und Gemeinschaft“ behandelt.

Kulturtransfer andersherum Unvoreingenommene Analysen und differenzierte Studien prägen das Werk des japanischen Büros, das sich nicht mit großer Autorenarchitektur,sondern mit intelligenten Eingriffen, Kleinstbauten und künstlerischen Installationen einen Namen gemacht hat. Momoyo Kaijima ging Ende der 1980er Jahre als Austauschstudentin an die ETH und kam in die Entwurfsklasse von Peter Märkli. Dieser beschrieb anlässlich der Eröffnung nicht nur einige der in Tokio realisierten Kleinsthäuser, sondern auch den Mikrokosmos im 2005 bezogenen Haus, wo das Atelier Bow-Wow in den unteren Geschossen arbeitet und in den oberen wohnt.

Die Rezeption japanischer Architektur hat in der europäischen Architektur eine lange Tradition. Bruno Taut, Frank Lloyd Wright, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Egon Eiermann, Werner Blaser und viele weitere haben sich im 20. Jahrhundert von den modularen Leichtbauweisen und den Raumfolgen japanischer Architekturen, später auch von den metabolistischen Ideen eines organischen Stadtwachstums inspirieren lassen. Die aktuelle Ausstellung zeigt aber, dass der Wissenstransfer im 21. Jahrhundert unter komplett anderen Bedingungen abläuft. Nun ist es die europäische Tradition der Architektur von Gottfried Semper, die von japanischen Architekten aufgegriffen wird. Nicht nur das Mobiliar wurde nachgebaut und in verschiedenen Transformation für weitere Funktionen adaptiert. Auch die Raumnutzung wurde auf den Kopf gestellt, indem nun die Haupthalle als Begegnungsort definiert wurde, während die eigentliche Ausstellung in den Gängen des Semperbaus untergebracht ist.

Das Interessanteste an der Intervention ist, dass deren Urheber nicht mehr klar definiert werden können. Wo endet Semper und wo beginnt Bow-Wow? Wo situiert sich das Museum und wo beginnt der Alltag? Darüber hinaus bringen die Wohnhäuser, die in Tokio auf kleinsten Raum in Baulücken gesetzt sind, einen komplett neuen Ansatz in die aktuelle Diskussion um bauliche Verdichtung ein. Solche Überlegungen lassen sich auch anhand der materialreichen Publikation zur Ausstellung vertiefen. Sie ist als Lesebuch angelegt, das neben den Projekten des Büros dessen theoretische Begriffe darstellt. Dabei wird deutlich, dass die Bezugspunkte der Architekten aus einem hybriden Kosmos stammen, der Differenzen nicht scheut, vielmehr darin Differenzierungen sucht.

Es bleibt zu beobachten, wie sich die Wahrnehmung der einstigen Skulpturenhalle im Zentrum des ETH-Hauptgebäudes verändert hat, wenn die nächste Ausstellung dort stattfinden wird. Und weiter, ob Japan auch im 21. Jahrhundert Inspirationen für europäische Architekten liefert, diesmal zur Frage nach der Rolle der Architekten in der Gestaltung der Stadt.

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Für den Beitrag verantwortlich: ARCH+

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