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TEC21 2013|26
Station im Tunnel
TEC21 2013|26
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

«Getrennte Stadtteile wieder verbinden»

Unter dem Hauptbahnhof Zürich wird im kommenden Jahr der unterirdische Durchgangsbahnhof Löwenstrasse eröffnet. Als die Planung des Neubaus ­begann, waren seine Lage und seine Abmessungen bereits festgelegt. Wie Architekt Jean-Pierre Dürig erläutert, beschränkt sich der Entwurf jedoch nicht auf Verschönerungsmassnahmen für die räumlich sehr enge Anlage, sondern setzt auch wichtige städtebauliche Akzente.

21. Juni 2013 - Judit Solt
TEC21: In vielen Schweizer Städten wurden in den letzten Jahren Infrastrukturanlagen der SBB aufgehoben. Bauten, die bisher als Puffer zwischen den Bahnlinien und den Quartieren fungiert hatten, wurden abgebrochen. Die Quartiere rücken immer dichter an die Gleise ­heran, und die gebaute Präsenz der SBB im Stadtbild nimmt ab. Die Bahnhöfe gehören zu den Orten, wo die SBB sich noch baulich darstellen können. War architektonische Repräsentation beim Bahnhof Löwenstrasse ein Thema?

Jean-Pierre Dürig: Nein. Einen oberirdischen Bahnhof zu bauen kam aus städtebaulichen Gründen nicht infrage. Zudem ist der Verkehr heute überwiegend Umsteigeverkehr; um ­kurze Umsteigzeiten zu gewährleisten, mussten die Perrons möglichst nah an- bzw. über­einander angeordnet werden. Aus Platzgründen haben sich die SBB für eine unterirdische Lösung entschieden, wie bereits beim ersten Durchgangsbahnhof, dem 1990 eröffneten Bahnhof Museumstrasse für S-Bahn-Linien, und wie beim Bahnhof SZU für die Sihltal- und die Üetlibergbahn. Es gab keine andere Möglichkeit. Dank der Durchmesserlinie kann aber der provisorische Bahnhof Sihlpost mit den vier Zusatzgleisen aufgehoben werden. Dort entsteht ein neuer Stadtteil, die Europaallee. Wo die Stadt am dichtesten und die Infrastruktur am besten ausgebaut ist, soll der Platz nicht für Abstellgleise verschwendet werden. Umgekehrt führt die zusätzliche Verdichtung dazu, dass noch mehr Infrastruktur benötigt wird. Unter diesem Druck können es sich die SBB gar nicht leisten, nur an Repräsentation zu denken. Das Hauptanliegen ist Effizienz: Wie befördert man möglichst viele Menschen zu den Stosszeiten? Übrigens gibt es noch Platz für einen dritten unterirdischen Durchgangsbahnhof zwischen den beiden Bahnhöfen Museumstrasse und Löwenstrasse …

TEC21: Dass das Thema Effizienz bei den Menschenmassen, die heute unterwegs sind, an Bedeutung gewinnt, leuchtet ein. Haben die SBB auch gestalterische Anforderungen an den Bahnhof Löwenstrasse gestellt?

J.-P. D.: Die Auftraggeber wollten selbstverständlich eine schöne, helle, übersichtliche Anlage. Aber die Prioritäten haben sich seit den Pionierjahren des Bahnverkehrs verschoben. Die grosse Haupthalle von 1871, von Jakob Friedrich Wanner im prunkvollen Neorenaissancestil erbaut, mit einem Triumphbogen als Tor zur damals neuen Bahnhofstrasse – diese ­architektonische Haltung stammt aus einer Zeit, als das Reisen noch etwas Exklusives war. Man betrat die Halle, gab sein Gepäck auf und begab sich auf Reise. Noch vor einer ­Generation war man von diesem Bild geprägt. Davon sind auch Robert und Trix Haussmann ausgegangen, als sie die Aufgänge in die Bahnhofshalle gebaut haben. Es gab lange Diskussionen darüber, ob die Rolltreppen parallel zur Halle verlaufen müssten oder nicht. Auch die schwarz-weiss gestreiften, marmorverkleideten Wände und die verspiegelten Decken bezeugen, wie wichtig die Repräsentation damals noch war. Diese Vorstellung vom Reisen gibt es nicht mehr – heute spricht man vom Pendeln. Die S-Bahn ist so erfolgreich, dass die SBB schleunigst neue Kapazitäten zur Verfügung stellen müssen. Relevant ist, dass die Pendlerinnen und Pendler ihren Anschluss nicht verpassen. Unsere Aufgabe war daher nicht, einen repräsentativen Bau zu entwerfen, sondern möglichst viele Menschen bequem und in kurzer Zeit durchzuschleusen. Die wichtigsten Stichworte lauten Personenfluss, ­Sicherheit, Übersicht. Und natürlich braucht es ein Shoppingcenter: nicht nur aus kommerziellen Interessen, sondern auch aus einem Bedürfnis heraus, denn die Pendlerinnen und Pendler müssen sich mit Dingen des täglichen Bedarfs eindecken können.

TEC21: Welche städtebauliche Tragweite hat die Tatsache, dass der Zürcher Hauptbahnhof allmählich von einem oberirdischen Kopf- zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof wird?

J.-P. D.: Auch in Bezug auf den Städtebau hat sich die Fragestellung komplett verschoben. Für Robert und Trix Haussmann war die Haupthalle von Wanner das Zentrum und das Shopville, die heutige Passage Löwenstrasse, lediglich ein darauf ausgerichteter Weg. Im Gegensatz dazu sind wir bei unserem Wettbewerbsprojekt von einem Netz ausgegangen (Abb. 02). Unser Ziel war, viele Eingänge zu schaffen, damit man möglichst ungezielt auf den Bahnhof zugehen kann. Umgekehrt haben wir auch geschaut, dass es im Untergrund keine Sackgassen gibt und dass jede Ecke einen attraktiven Ausgang zur Stadt hat. Das verändert die Wahrnehmung des Bahnhofs massiv – in Bezug auf Funktion und Charakter gleicht er immer mehr einer Metrostation. Das hat seine Berechtigung: Die S-Bahn ist nichts anderes als eine sehr gute Metro, und auch der Fernverkehr bedient mit dem Stunden- und Halbstundentakt hauptsächlich Pendlerströme. Unser wichtigstes städtebauliches Anliegen aber war, die beiden vom Bahnhof getrennten Stadteile wieder zu verbinden. Es sollte kein «hinter den Gleisen» mehr geben, sondern viele gleichwertige Seiten, die zusammenwachsen und sich stark verdichten. Mit dieser Idee haben wir den Wettbewerb gewonnen.

TEC21: Die Lage des Bahnhofs war durch betriebliche Notwendigkeiten gegeben, seine Grösse durch bestehende Bauten und der Verlauf der Gleise durch den Tunnelbau (vgl. Kasten S. 24). Welche Aufgabe blieb Ihnen als Architekten überhaupt noch?

J.-P. D.: Zum Zeitpunkt des Wettbewerbs 2002 war die Geometrie vorgegeben. Die Inge­nieure hatten im Vorfeld festgelegt, wo und wie der Tunnel liegen muss. Dabei hatten sie ­extrem einschränkende Randbedingungen zu berücksichtigen: Die Sihl und die Limmat mussten unterquert werden, ebenso ein Teil der Halle und sechs Gleise, und zwar unter ­laufendem Betrieb. Zudem musste man dem bereits als Vorinvestition erbauten Stadttunnel ausweichen. Daraus ergibt sich für den Bahnhof Löwenstrasse eine Geometrie, die nicht viel mit dem Bestand zu tun hat. An uns lag es, Alt und Neu räumlich zu verbinden.

TEC21: Es ging also in erster Linie um einen städtebaulichen Eingriff, die räumliche Verknüpfung des geplanten Ingenieurbaus mit dem Bestand?

J.-P. D.: Das Schöne an diesen Aufgaben für die SBB ist, dass sie zwischen Städtebau und Architektur angesiedelt sind. Neben dem Bahnhof Löwenstrasse haben wir auch beim ­Bahneinschnitt und den Brücken in Zürich-Oerlikon den Gestaltungsauftrag. Solche Infrastrukturanlagen haben einen grossen Massstab und stellen die Frage nach der urbanen Anbindung. Man muss innerhalb eines streng gesteckten Rahmens das Gegebene möglichst intelligent formen und organisieren. Trotzdem kann – muss – man sich mit ganz grundlegenden architektonischen und städtebaulichen Fragen beschäftigen: Wie betritt man einen Raum, wie ­verlässt man ihn, wie sind seine Funktionen angeordnet, wie vernetzt er sich mit dem ­Stadtkörper? Meiner Meinung nach sind das äusserst schöne, zeitgemässe Frage­stellungen. Selbstverständlich gibt es auch hier formale Aspekte, aber die Arbeit beginnt an einem ganz anderen Punkt.

TEC21: Was war dieser Punkt beim Bahnhof Löwenstrasse?

J.-P. D.: In Bezug auf die Funktionen lautete die wichtigste Frage: Wie bringt man die ­Menschen von unten nach oben? Wie verbindet man die drei Ebenen Tiefbahnhof, Halle ­Löwenstrasse, die Passagen und die bestehende Gleishalle miteinander? Wir konnten die Aufgänge nicht nach Belieben platzieren: Ihre Ausgangspunkte waren durch die Lage des unterirdischen Bahnhofs vorgegeben und ihr Verlauf durch den Autotunnel und die Sihl, die es zu umgehen galt. Weil die unterirdischen Gleise nicht genau unter den oberirdischen liegen, haben wir schräge Lifte eingeführt; so haben mindestens zwei von drei Perrons einen direkten Weg nach unten, und man braucht nicht umzusteigen. Statisch haben die Aufgänge zudem die Aufgabe, das Dach der bestehenden Perronhalle abzufangen. Wir haben deshalb prägnante Sichtbetonkörper ausgebildet, die wie Arme vom Tiefbahnhof über die Passage bis in die Perronhalle hinaufgreifen; sie fassen die Aufgänge und ersetzen, einmal in der Halle angelangt, jeweils eine Stütze. Weil sie irgendwo oben in der Halle ankommen – zum Teil unter einer Stütze, zum Teil auch nicht – haben sie je nach Lage unterschiedliche Formen. Trotzdem bleibt der architektonische Ausdruck gleich, sodass eine gemeinsame Identität entsteht. In der Negativform betrachtet, bildet die Passage zusammen mit diesen Armen eine Art Krake, einen verzweigten Raum, den man zwar spürt, aber nie so sieht.

TEC21: War auch die Raumhöhe des Tiefbahnhofs schon vorgegeben?

J.-P. D.: Von Höhe kann man gar nicht reden – es sind U-Bahn-Dimensionen. Der Bahnhof Löwenstrasse hat noch weniger Höhe als der Bahnhof Museumstrasse. Und selbst dieser sehr enge Querschnitt wird im ausgebauten Zustand noch beträchtlich enger als im Rohbau. Seit der Fertigstellung des Bahnhofs Museumstrasse sind die Vorgaben in puncto Sicherheit strenger geworden, die Entrauchung ist aufwendiger geworden. Damit kein Rauch in den Bahnhof Löwenstrasse dringt, wenn es im Tunnel brennt, wird ein Entrauchungskamin ­gebaut, und über den Perrons des Bahnhofs Löwenstrasse gibt es durchgehende Galerien mit Entrauchungsanlagen. Das macht die Decke noch einmal niedriger. Die Züge stehen definitiv nicht in einer Halle, sondern in einem Tunnel. Wir haben versucht, architektonisch darauf zu reagieren. Darum haben wir entschieden, die Perrons als farbige, warm beleuchtete Inseln auszubilden. Nur der Boden und die Decken der Perrons sind im Licht; die Tunnelwände und die seitlichen Verkleidungen der Galerien sind schwarz, sodass man die Grenzen des Raums nicht sieht und nicht merkt, dass er klein ist.

TEC21: Dieses «Verschönern» ist eine Aufgabe, mit der manche Architekten hadern dürften. Doch für die Menschen, die sich in diesen Räumen aufhalten, ist eine gute Gestaltung umso wichtiger, je enger der Platz und je dominanter die funktionalen Zwänge sind.

J.-P. D.: Das Ziel war eine helle, übersichtliche Wegführung, die die Ebenen miteinander verbindet. Der Perronbereich, wo man sich vielleicht einige Minuten aufhält, bekommt einen warmen Ton mit einer goldfarbenen Metalldecke, die mit dem Licht eine warme, ruhige Atmosphäre erzeugt. Die Passage ist durchgehend neutral und hell – hellgrauer Granitboden, helle Wände, helle Decke. Die Ladenfront ist eine Fassade, bei der die Module für die Öffnungen und das Beschriftungsband festgelegt sind. Die Läden wählen aus einer Palette das für sie Passende aus; ihre Beschriftungen und Schaufenster sind es, die – neben der typischen Signaletik der SBB – Farbe in die Passage bringen. Auch die Aufgänge sind dank Sichtbeton und Granitstufen hell. Dabei mussten wir mit günstigen, langlebigen und unterhaltsarmen Materialien arbeiten. Beim Beton und den Vollstahlstützen des Tiefbahnhofs ist das offensichtlich; die golden leuchtende Perrondecke ist aus Metall und kann überall geöffnet werden, um Nachinstallationen vorzunehmen; und der Granit ist langfristig das günstigste Material für Boden und Treppenstufen, weil er so dauerhaft ist. Bei der Farb­gebung haben wir uns am Bestand orientiert. Das Shopville ist schwarz; wir haben von der Stadt den Auftrag erhalten, es bis zur Passage Gessnerallee zu verlängern, damit es keine Sackgasse bleibt, und wir werden auch die Verlängerung schwarz halten. Der Haussmann-Teil dazwischen ist schwarz-weiss. Uns blieb also weiss. Es soll eine Einheit über das Ganze entstehen – mit feinen Unterschieden.

TEC21: Wie ist die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren organisiert?

J.-P. D.: Der Wettbewerbsentwurf basiert auf den Vorgaben der Ingenieure. 2002–2006 haben wir in engem Austausch mit den Bauingenieuren das Projekt ausgearbeitet, aufgrund dessen die Rohbaupläne erstellt worden sind. Wir sind übrigens auch Generalplaner, der Gebäudetechniker ist in unserem Team dabei. In diesem Sinn ist die Zusammenarbeit ganz traditionell, bis auf die Grösse, die Komplexität und die vielen Beteiligten. Die Bauarbeiten haben 2006 begonnen, der Rohbau wird zum grössten Teil dieses Jahr beendet. Es hat ­verhältnismässig lang gedauert, weil alles unter Betrieb realisiert wurde. Jetzt sind wir am Ausbau. Die Eröffnung findet Mitte 2014 statt.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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