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db deutsche bauzeitung 07-08|2013
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db deutsche bauzeitung 07-08|2013

Intelligente Fortschreibung

Verwaltungszentrum Oberer Graben in St.Gallen (CH)

An der Schnittstelle zwischen Altstadt und Bahnhofsvorstadt haben die Baseler Architekten Anna Jessen und Ingemar Vollenweider zwei Geschäftshäuser des frühen 20. Jahrhunderts um zwei Neubauten ergänzt. Die vier zusammengeschalteten Häuser bilden nun ein Ensemble, das durch die subtile Balance zwischen Alt und Neu überzeugt. Die Architekten verwendeten Rasterfassaden – aber dies frei von jeglicher Stereotypie, wie man sie heutzutage allerorten findet.

1. Juli 2013 - Hubertus Adam
Im ausgehenden 19. Jahrhundert veränderte sich die ökonomische Struktur des Kantons Sankt Gallen radikal. War die Handstickerei seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zum wichtigsten Wirtschaftsfaktor avanciert, so führte nun die Industrialisierung des Stickereigewerbes zu einem Urbanisierungsschub in der bisher kleinstädtisch geprägten Kantonshauptstadt. Ein neuer Bautypus entstand: das Kontorhaus, in dem die in den Industriebetrieben ringsum produzierten Textilien ausgerüstet, konfektioniert, zur Schau gestellt und zum Versand bereit gemacht wurden. Hauptabsatzmarkt der boomenden St.Galler Textilindustrie waren die Vereinigten Staaten, und so trugen viele der mächtigen Stickereihandelshäuser amerikanische Namen: Washington, Chicago, Pacific, Oceanic.

Vorbilder für die Kontorhäuser gab es in der Schweiz nicht – man orientierte sich stattdessen an den Metropolen der damaligen Welt, an Chicago und Berlin. Im Westen der Stadt, zwischen Bahnhof und dem Altstadtkern, entstand ein neues Stadtviertel, das völlig neue Maßstäbe setzte und auch heute noch – trotz massiven Eingriffen in den 60er und 70er Jahren – durch seine grandiosen, dem Späthistorismus, dem Jugendstil und der Reformarchitektur vor dem Ersten Weltkrieg zuzuweisenden Bauten zu faszinieren vermag.

Zu den wichtigsten Akteuren zählten der aus Nordböhmen stammende, vom Wiener Bauen des Fin de Siècle geprägte Wendelin Heene, die Züricher Architekten Pfleghard & Haefeli sowie die 1887 in Karlsruhe gegründete Bürogemeinschaft der Schweizer Architekten Robert Curjel und Karl Moser, die 1907 angesichts lukrativer Bauaufträge eine Zweigniederlassung in Sankt Gallen installierten. Als Bauleiter für ihre ostschweizer Aufträge fungierte der aus dem Schwarzwald stammende Architekt Anton Aberle, der sich 1909 selbstständig machte und noch im gleichen Jahr ein als Geschäftshaus für eine Buchbinderei und Kartonagefabrik am Oberen Graben errichtete – dort, wo früher der Stadtgraben das westliche Ende der Altstadt markiert hatte. Vier Jahre später vollendete Aberle ein unmittelbar benachbartes Stickereigeschäftshaus. Beide Gebäude sind unzweideutig von Curjel & Moser inspiriert und folgen dem in Sankt Gallen gängigen Typus der mit Sandstein bekleideten, in ihrer Formensprache zwischen Neubarock, Jugendstil und Reformarchitektur oszillierenden Stahlbetonskelettkonstruktionen.

Etwas zeitversetzt bedeutete der Erste Weltkrieg den Niedergang für die örtliche Textilindustrie. 1944 übernahm die kantonale Verwaltung Aberles Bauten am Oberen Graben und nutzte sie fortan für das Justiz- und Sicherheitsdepartement.

Vereinigte Vielfalt

Weil die Bausubstanz nach mehr als einem halben Jahrhundert weder den räumlichen Bedürfnissen noch den sicherheitstechnischen und energetischen Standards genügte, führte der Kanton 2003 einen Wettbewerb im einstufigen Verfahren durch, den das junge Baseler Büro jessenvollenweider für sich entscheiden konnte. Ziel war nicht nur die Sanierung des Bestands, sondern auch dessen Ergänzung durch Neubauten auf beiden Seiten. Planung und Realisierung verzögerten sich durch die Neuorganisation der Kantonalen Verwaltung verantwortlich waren. Am Ende fiel die Entscheidung, das Sicherheits- und Justizdepartement, sowie das Gesundheitsdepartement mit ihren Ämtern und Abteilungen im Gesamtkomplex unterzubringen. Einige Bereiche, so das Straßenverkehrsamt mit Zulassungsstelle, die Meldestelle und das Migrationsamt, weisen eine hohe Besucherfrequenz auf, andere – etwa die Justizbehörde – unterliegen verstärkten Sicherheitsvorkehrungen. Die Aufgabe der Architekten bestand also nicht nur darin, Alt- und Neubauten zueinander in Beziehung zu setzen, sondern auch in einer den Betriebsabläufen entsprechenden räumlichen Optimierung.

Differenziert und geöffnet

jessenvollenweider sind beide Herausforderungen auf kongeniale Weise gelungen. Die beiden ergänzenden Volumina – im Süden entlang des Oberen Grabens, im Nordwesten entlang der Frongartenstraße – ergänzen die beiden Bestandsgebäude zu einem Ensemble aus vier Bauten, die als eigenständige Elemente erkennbar bleiben, sich aber doch zusammenfügen. Gewiss tragen die Neubauten zur Verdichtung bei, klären die bisher disparate städtebauliche Situation und orientieren sich an der Idee der Blockrandbebauung. Die große Qualität der Lösung besteht aber darin, dass es hier nicht um die Verabsolutierung einer heute gerne als Allheilmittel angesehenen städtebaulichen Typologie geht. Wie selbstverständlich gelingt es jessenvollenweider, an der Gartenstraße an ein ehemaliges Bankgebäude der 70er Jahre anzuknüpfen, während sie im Nordwesten, an der Frongartenstraße, die Hofsituation öffnen und den Eingang zum Straßenverkehrsamt auf der Rückseite der Aberle-Bauten anordnen.



Auf subtile Weise, ganz unspektakulär, offenbart sich die Intelligenz der architektonischen Lösung beim genauen Hinsehen. Denn die Rigidität einer Blockrandbebauung wird hier mit verschiedenen Mitteln gemildert, ja infrage gestellt. Zum einen treffen orthogonale und gekurvte Elemente aufeinander – eine Kombination die sich nicht nur am Eckbau Oberer Graben/Frongartenstraße, sondern auch bei anderen Gebäuden aus der Boomzeit der Stickereiwirtschaft in Sankt Gallen findet; zum zweiten tragen zurückspringende Attikazonen sowie Dachterrassen zur volumetrischen Differenzierung des Gesamtensembles und zu seiner Adaptionsfähigkeit bei; zum dritten schließlich lösen die Architekten die klassische Opposition von Innen und Außen, von Repräsentations- und Hoffassade auf, indem sie den Block an der Frongartenstraße öffnen. Sukzessive verschiebt sich hierbei die Rasterstruktur des Anbaus im Hof zu einer Lochfassade.

Weiche Übergänge

Wie subtil jessenvollenweider vorgehen, zeigt sich nicht zuletzt an der differenzierten Gestaltung der Neubaufassaden im Verhältnis zu den Altbauten. Das historische Eckgebäude Oberer Graben 32 ist latent horizontal gegliedert, und so antworten sie mit dem Neubau Frongartenstraße 5 komplementär mit einer vertikal betonten Struktur. An die vertikal bestimmte Fassade Oberer Graben 36 schließt sich hingegen der horizontal gegliederte Bauteil Oberer Graben 38 an, der überdies zum Sichtbetonbau der 70er Jahre an der Gartenstraße vermittelt. Beide Neubauten sind in Mischbauweise erstellt: Die Hauptstruktur als Ortbeton, die zurücktretenden Elemente wurden vorgefertigt und vor Ort vergossen. Durch Behandlung des mit Kalkstein als Zuschlagstoff versehenen Betons mit dem Stockhammer erzielten die Architekten eine fast textile Oberflächenstruktur, welche mit den Werksteinfassaden der Altbauten ebenso harmoniert wie mit der Betonstruktur des Baus aus den 70ern und überdies als Reverenz an die St.Galler Textilindustrie verstanden werden kann. Letzteres gilt auch für die ornamentalen Details der Kastenfenster aus Baubronze, welche der rationalen Fassadenstruktur ein poetisches Element beigesellen. Das gleiche Muster findet sich auch als Serigrafie in der Schalterhalle des Straßenverkehrsamts.

Ziel im Innern war es, die vorhandene Raumdisposition zu klären und möglichst sinnvoll mit den räumlichen Ergänzungen zu verbinden. Die Räumlichkeiten des Straßenverkehrsamts sind im Hofgeschoss angeordnet, die der Ausweis- und Meldestelle im vom Oberen Graben aus zugänglichen EG. Die Besprechungsräume, welche von allen Dienststellen genutzt werden, finden sich im 1. OG. Schwarzer Terrazzo prägt die öffentlichen Bereiche, während in den Büros Linoleum verlegt wurde; Fensterrahmen, Fußleisten und Handläufe bestehen aus Eichenholz.

Das spektakulärste Element – und zugleich die größte Intervention im Rahmen der bestehenden Substanz – stellt der imposante Lichthof dar, welcher die vormals bestehenden Treppenhäuser der Gebäude Oberer Graben 32 und 36 ersetzt und den räumlichen Schwerpunkt des Ensembles bildet. Wie auch das Nebentreppenhaus Oberer Graben 38 wird das Atrium von einem Stabwerk aus gelblich glänzenden und verdrehten Stahlstäben eingefasst. Als Kunst am Bau schweben reflektierende, an Vögel erinnernde Objekte von Adrian Hostettler (Hellraum, St.Gallen) im Lichtraum. Über Reflektoren von oben natürlich belichtet, verleihen sie dem Atrium ein elegantes und poetisches Gepräge. Es avanciert zu einer schillernden Druse innerhalb eines zurückhaltenden und doch selbstbewussten Ganzen.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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