Zeitschrift

TEC21 2014|24
Jugoslawische Moderne
TEC21 2014|24
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Ausgeschlagenes ­Erbe

Eine Studienreise führte den Autor zu den Bauwerken der Spätmoderne, die in Kroatien zur Zeit des jugoslawischen Staats errichtet wurden. Ein Reisebericht mit biografischen Notizen.

13. Juni 2014 - Marko Sauer
Gerüche sitzen am tiefsten im Gedächtnis. Wie der Geschmack der in Tee getunkten Madeleine erinnert mich gerösteter Kaffee an meine Kindheit in Zagreb, dessen Duft bei Hochdruck über der ganzen Stadt lag, oder der Geruch nach Zunder, wenn die Monteure auf der anderen Strassenseite Stahl schweissten. Auch heute noch stellt sich in mir unvermittelt ein Gefühl von Heimat ein, wann immer ich eine Schlosserei betrete. Für einen kurzen Moment taucht dann aus der Erinnerung der Wohnblock mit dem steinernen Treppenhaus und den Kakteen hinter den Fenstern auf, die Strasse mit den Schlaglöchern, die an der Polizei vorbei zur Tramhaltestelle führte. Meine Kindheit fand auf beiden Seiten der Alpen statt: in der Schweiz und – im Rhythmus der Schulferien – bei meinen Verwandten in Kroatien. Die Reise zu den Bauwerken der Spätmoderne Jugoslawiens öffnete mir eine neue Sicht auf meine erste Heimat, denn mein Bild wies grosse weisse Flecken auf.

Erste beide Reisetage: Zagreb, Innenstadt und Erweiterung der sozialistischen Ära

Zu Beginn ein Spaziergang durch die Innenstadt und die erste Stadterweiterung aus dem 19. Jahrhundert. Offensichtlich inspirierte die Donaumonarchie diese Ära von Zagreb, die baumbestandenen Prachtstrassen säumen fünfgeschossige Wohnhäuser mit Hochparterre und bröckelndem, meist gelblichem Putz. Die Blockränder sind geschlossen, doch ab und zu lässt eine Durchfahrt, im Zagreber Dialekt «Haustor» genannt, einen Blick in die Innenhöfe zu. Wir sind lang unterwegs und laufen in die Nacht hinein, vorbei an modernistischen Einzelstücken, die den Rhythmus der Häuserzeilen unterbrechen. An einer Strassenecke weicht die Baulinie zurück und lässt Platz für einen kleinen Park. Eine zehngeschossige Scheibe ragt dahinter auf: das Wohnhaus der Nationalbank aus dem Jahre 1963 von Ivan Vitic´. Er komponierte eine einspringende Ecke im Blockrand, gesäumt vom Scheibenhochhaus, das als Schlüsselwerk der Spätmoderne in Jugoslawien gilt. Die hölzernen Schiebeläden fallen aus der Fassade, rotweisse Bänder sperren den Bereich ab, wo man Gefahr läuft, von ihnen erschlagen zu werden.

Am zweiten Tag folgt ein Ausflug in die sozialistische Erweiterung der Stadt jenseits der Save. In der topfebenen Fläche wechseln sich Zeilen und Punkthochhäuser ab, dazwischen – mehr als nur Abstandsgrün – Parks mit Gemeinschaftsbauten und Spielplätzen. Die Leute sitzen im kleinen Quartierzentrum von Zaprud¯e und pflegen die Lieblingsbeschäftigungen der Kroaten: Kaffee trinken, rauchen und plaudern. Ein friedliches Bild, ohne die Konflikte von Retortenstädten an anderen Orten. Offenbar wirken die Rezepte der Modernisten, wenn sie bis zu Ende gebaut werden – wenn nicht nur die rentablen Wohnungen entstehen, sondern auch die gemeinschaftlich genutzten Nebenbauten wie Kinderkrippen und Quartierzentren. Und da in Zaprud¯e der Staat als Auftraggeber, Planer und sogar als Unternehmer wirkte, wurde das gesamte Paket geliefert. Vor Ort treffen wir Bogdan Budimirov, der den Stadtteil in den 1960er-Jahren mit Plattenbauten made in Yugoslavia erstellt hatte. Im Versammlungssaal erläutert der Architekt das Prinzip des Vorfertigungssystems Jugomont ’61. Er erklärt die Besonderheiten einer Baustelle für Tausende von Wohnungen: Bauen bedeutet für den vitalen Mann mit dem dichten, schlohweissen Haar Balkendiagramme, Netzpläne, Stücklisten. Er hat Wohnungen geschaffen für die Menschen, die nach dem Systemwechsel in die Zentren zogen, weil die Planwirtschaft Bauern zu Fabrikarbeitern machte. Auch wenn er dies mit keinem Wort erwähnt: Budimirov hat nicht bloss Häuser errichtet, sondern eine Gesellschaft umgebaut. Die Wände hinter ihm säumen Fotos des kroatischen Militärs. Sie zeigen Bilder der Rückeroberung der Krajna, des Landstreifens in Richtung Bosnien, der seit Jahrhunderten von Serben bewohnt war und wo mit deren Protesten der letzte Krieg 1991 seinen Anfang nahm. Der Quartierstreff ist das Zentrum der Veteranenorganisationen aus der Gegend geworden.

Dritter Tag: Durch das Hinterland, Petrova Gora

Die Partisanen spielten in meiner Familie keine Rolle. Auf jeden Fall keine bessere als alle anderen Armeen. Im Dorf meiner Grosseltern, einen Steinwurf von der ungarischen Grenze entfernt, zogen mit wechselndem Kriegsglück die Heere der Grossmächte wie die Wogen eines aufgewühlten Meeres hin und her: Wehrmacht, Ustaše, Domobrani und gegen Ende des Kriegs dann Russen und die Partisanen. Alle marschierten durch das kleine Donje Viljevo, alle plünderten sie die Kammern der Bauern. Es erstaunt nicht, dass die siegreichen Partisanen dort nicht auf Begeisterung stiessen. Zumal sie Kommunismus und staatlichen Besitz predigten, während die Grossmütterchen jeden Morgen vor dem Tagwerk zur Frühmesse eilten und die Bauern sich mit den Zehen auf ihrem Grund festkrallten. In meiner Familie war der Partisanenkult nicht üblich, weshalb ich auf dem Weg nach Split zum ersten Mal ein Partisanendenkmal besuchte. Oder was davon noch übrig war.

Auf der Petrova Gora lag dicker Nebel, und selbst der kroatische Chauffeur kannte den Weg nicht. Erst als der Bewacher des Denkmals unseren Bus abholte und durch dichte Wälder lotste, fanden wir den Ort, an dem die Partisanen während des Zweiten Weltkriegs ihr zentrales Krankenhaus betrieben. In Erinnerung an ihren Kampf krönt ein Denkmal in Form eines begehbaren Turms die Spitze des Hügels, mit Vortragssälen und Galerien. Die gekurvten Fassaden in Chromstahl glänzten einst weit in die Region hinaus. Erdacht und entworfen wurden sie vom Bildhauer Vojin Bakic´. Im Garten seiner Familie in Zagreb liegt auch heute noch das Modell aus ineinander verschlungenen Metallbändern. Das Denkmal blieb im Rohbau stecken: Zuerst kam das Geld abhanden, dann die Ideologie und am Ende der Staat. Das Betongerippe der organischen Struktur ragt immer noch in die Höhe, doch die Platten an den Fassaden sind abgerissen oder abgeschraubt, pelzige Dämmung quillt aus der Unterkonstruktion hervor. Das Denkmal ist zur Halde verkommen, an der sich die Heimwerker der Region bedienen. Augenscheinlicher kann eine Utopie nicht zerfallen. Diese Ruine des Partisanenkults liess als Fanal schon lange vor dem Krieg ahnen, was die Geschichte bringen würde. Heute zeugt sie von der Demontage der ehemaligen Staatsideologie. Und dennoch liegen am Tag unseres Besuchs Blumen auf dem Gedenkstein. Ganz vergessen sind sie noch nicht, die Kämpfer gegen die faschistische Regierung und die deutsche Besatzung.

Vierter Tag: Split, Krvavica

Ankunft in Split am späten Abend. Das Hotel liegt in der Altstadt, die in den Diokletianpalast hinein gebaut wurde, die Altersresidenz des römischen Kaisers. Doch unser Interesse gilt am nächsten Tag Split 3, einer Stadterweiterung ausserhalb des Zentrums, erstellt in den 1970er-Jahren für rund 13 000 Bewohner. Wer die Pläne sieht, fragt sich unweigerlich: Kann so etwas funktionieren? Von den Hügeln des Hinterlands zieht sich über knapp einen Kilometer eine Kette von Wohnblöcken entlang einer Folge von Treppen, Plätzen und Terrassen bis fast zur Küste hinab. Die Hauptachse liegt parallel zur Ausrichtung der Altstadt, an ihrem oberen Ende befindet sich die Universität. Vor Ort zeigt sich ein ähnlicher Effekt wie in Zaprud¯e: Die Fussgängerzone ist belebt, die Ladenlokale in den Erdgeschossen grösstenteils vermietet. Split 3 bildet den rauen Hintergrund für das echte Leben von Split, fernab der touristischen Gruppeninvasion. In bester brutalistischer Manier verschmelzen Ausdruck und Struktur des Gebäudes, riesige Betonschotten teilen die Blocks, die der Topografie des Hügels folgen. Überformte Strukturen machen aus den Wohnblocks gigantische Plastiken im Stadtraum.

Später, auf dem Weg hinunter in das winzige Krvavica schrammt der Bus beinahe die Häuser entlang der engen, gewundenen Strasse zum Meer. Als wir ankommen, überzieht die Abendsonne den Ort gerade mit einem glänzenden, honigfarbenen Licht. Die Saison ist vorbei, und so verlassen wie der Strand liegt auch das Kindersanatorium (1961) von Rikard Marasovic´ im Pinienhain. Elegant tragen massige Betonstützen eine auskragende Scheibe. Raffiniert verweben sich Tragwerk und Raum, verschmilzt der lichte und weite Raum des Meeres mit dem Haus. Spuren der Zerstörung entrücken das Gebäude in eine eigene Sphäre. Glasscherben verwandeln den Steinboden in ein funkelndes Lichtermeer, aus den Wänden gezerrte Kupferleitungen und eingetretene Türen reissen Wundmale in die Textur des Hauses. Hier hat kein Krieg gewütet, sondern der Mob mit einem System abgerechnet. Als das Haus im September 2012 endlich unter Schutz der Denkmalpflege gestellt wurde, verlagerte sich die Aggression auf die Leserkommentare der Lokalzeitungen.

Fünfter Tag: Šibenik, Zadar

In Šibenik, seiner Geburtsstadt, treffen wir wieder auf Ivan Vitic´. Auf die Renaissancegemäuer um die Stadt setzt er 1961 das Kulturzentrum der Jugoslawischen Volksarmee. Aus den Strukturen der Städte wachsen die modernistischen Gebäude der sozialistischen Utopie, ohne Bruch, ohne den Bestand zu verdrängen. Ein Prinzip, das in besonderer Ausprägung den historischen Kern von Zadar durchdringt, wo wir die Nacht verbringen. Decumanus und Cardo, von den Römern in den Boden geritzt, bestimmen die Ausrichtung der Strassen in der Altstadt, und zwischen die historischen Gebäude fügen sich nahtlos modernistische Bauten. Den meisten Touristen dürfte dies wohl gar nicht auffallen. Ausgesprochen zurückhaltend bauten die Architekten nach dem Zweiten Weltkrieg die Stadt wieder auf, die von der US Air Force zu zwei Dritteln zerstört wurde. Aus den Trümmern wuchs eine Stadt, in der die historischen Strukturen mit der Baukunst des Sozialismus verschmelzen zu etwas Neuem, das auch politisch seinen Ausdruck fand: der dritte Weg zwischen den Blöcken der Nachkriegsordnung.

Sechster Tag: Magistrale, Krk

Im Sommer erholte sich die Arbeiterklasse an der Küste der Adria. Auch dafür stellte der Staat die Infrastruktur in Form von grossen, staatlich betriebenen Ferienkolonien. Der Tourismus war darüber hinaus ein Mittel, Devisen ins Land zu holen und eine Art freundlichen Klassenkampf zu präsentieren. Die Führung schien keine Berührungsangst vor dem «dekadenten Westen» zu haben wie in anderen Staaten Osteuropas. Die Regierung erstellte 1972 in einem Joint Venture mit dem Magazin «Penthouse» das mondäne Resort Haludovo auf der Insel Krk. An der Eröffnung standen Seite an Seite Bob Guccione, der Inhaber des Hefts, und Marschall Tito – umgeben von «Penthouse Pets». Plötzlich musste der Sozialismus nicht mehr real, sondern durfte sexy sein. Doch vergänglich sind Schönheit und Ruhm: Auf den Zerfall Jugoslawiens folgte auch derjenige von Haludovo. Der Architekt Boris Magaš hat ihn noch erlebt. Auch hier hatte nicht ein Krieg die Fassaden zerstört. Als wir in die Ruine schleichen, hängen Zettel mit den Quadratmeterpreisen für die Holztäferung und den Steinboden an den Wänden. Was einst dem Volk gehörte, wird von Kleinkrämern Stück um Stück abgewrackt.

Siebter Tag: Rijeka, Opatija

Nach den lieblichen Destinationen entlang der Küste empfängt uns die Hauptstadt des nördlichen Küstenabschnitts mit Nieselregen und dem schneidenden Realismus einer Hafenstadt. Grosse Schiffswerften und Zollfreilager erzählen von der maritimen Bedeutung Rijekas. Seine Architektur ist das Amalgam einer Stadt in Bewegung. Wie kaum ein anderer Architekt konnte Igor Emili diesen Geist einfangen und zu Gebäuden formen. Seine Moderne ist nicht von strengen Dogmen geprägt. Sie nimmt die feinen Strömungen vor Ort auf und schmiedet sie zu einer lokalen Legierung. Lang bevor die Moderne in ihre Krise kam, spürte der feinfühlige Geist die Sackgasse, in die sie führen würde, und erweiterte ihre Werkzeuge. Räumlicher und formaler Reichtum bedeutete ihm mehr als die Umsetzung gesellschaftlicher Analysen in Gebäude und Städte. Und so bewegte er sich an den Rändern der Spätmoderne. Genauso geschmeidig wie die blockfreien Genossen in ihrem Balanceakt zwischen Sozialismus und freier Marktwirtschaft.

Zurück in Zagreb

Ich berichte meiner Familie begeistert von der Reise, zeige ihnen die Bilder, die Entdeckungen. Ihr Interesse ist gering, das Verständnis noch kleiner. Jeder will noch bessere Bauten kennen, kontert mit Sportstadien, Banken, Shoppingmalls und Luxushotels an der Adria, die in den letzten Jahren in Kroatien gebaut wurden und doch viel eher einen Besuch lohnten. Dieses Jugoslawien ist offenbar nicht ihr Staat gewesen. Oder zumindest nicht mehr.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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