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TEC21 2016|23
«Incidental Space» im Schweizer Pavillon
TEC21 2016|23
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Rätselhafter Raum

Der Architekt Christian Kerez bespielt den Schweizer Pavillon an der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Sein «Incidental Space» ist ein Raum, der mit ästhetischen Konventionen bricht und die Wahrnehmung herausfordert. Hier wird sichtbar, was digitale Technologien und interdisziplinäre Zusammenarbeit heute ermöglichen.

3. Juni 2016 - Judit Solt
Ein Raum, der an nichts erinnert, keiner Konvention folgt und keinem anderen Zweck dient, als anders zu sein als alles, was man kennt: Die Installation im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale Venedig 2016 ist darauf ausgerichtet, den Rahmen des Gewohnten zu sprengen. Doch die systematische Vermeidung von geschicht­lichen, technischen oder ästhetischen Referenzen ist nicht Selbstzweck. Vielmehr soll die Installation dazu anregen, darüber nachzudenken, wie wir Architektur erschaffen und erleben – und was darüber hinaus auch möglich wäre.

Der Architekt und ETH-Professor Christian Kerez und die Kuratorin Sandra Oehy konfrontieren das Publikum mit einem Raum, der gleichermassen verstört und fasziniert.

Der Entwurfsprozess begann mit Abgüssen von Materialien und der Herstellung von Hohlformen (vgl. S. 20). Aus 300 Modellen wurde eines ausgewählt und digital erfasst, wobei wegen der hohen Komplexität der Formen unterschiedliche Techniken wie optischer und tomografischer Scan zum Einsatz kamen. Deren Kombi­nation und die anschliessende Umsetzung des digitalen Modells erfolgten mit Unterstützung von Benjamin ­Dillenburger, Assistenzprofessor für Digitale Bautechnologien an der ETH Zürich (vgl. S. 24). Auch die Fertigung der Schalungselemente für den geplanten Betonbau erforderte eine Kombination unterschiedlicher Methoden und Technologien: Die Elemente wurden mittels CNC-Fräse oder, wenn die Formen zu komplex waren, im 3-D-Druck hergestellt.

Statisch betrachtet ist die Installation eine selbsttragende Raumhülle. Deren Tragverhalten zu ­bestimmen war jedoch alles andere als trivial. Sehr dünne Schalen mit doppelter Krümmung sind statisch aus­serordentlich effizient; hier handelt es sich aber um eine frei geformte Schale, um ein Flächentragwerk also, das nicht nach den Kriterien des inneren Kräfteverlaufs geformt und statisch hochgradig überbestimmt ist.

Um die inneren Kräfte und das systemische Verhalten zu analysieren, wandte der Bauingenieur und ETH-Professor Joseph Schwartz die sogenannte Diskrete Analyse an. Diese Methode folgt dem Ansatz der grafischen Statik, bei der – im Gegensatz zur analytischen Statik – alle mathematischen Operationen vektorgeometrisch durchgeführt und frei von numerischen Berechnungen sind, sodass die Zusammenhänge zwischen Kraft und Form auch im Raum visuell fassbar werden (vgl. S. 28).

Die 1 bis 4 cm starke, glasfaserverstärkte Betonschale wurde schliesslich in wenigen Wochen und mit hohem handwerklichem Aufwand im Schweizer Pavillon erbaut. Dort steht das Gebilde nun: eine im Verhältnis zum beträchtlichen Volumen fragil anmutende Hülle um einen rätselhaften Raum im Raum. Wenn man diesen betritt, verlässt man das Gewohnte. Am ehesten erinnert der subtil ausgeleuchtete Innenraum an eine Grotte. Man kann darin verweilen, sich umsehen – und ins Sinnieren geraten.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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