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db deutsche bauzeitung 09|2016
Tür und Tor
db deutsche bauzeitung 09|2016

Den Blick weiten

Estnisches Nationalmuseum in Tartu (EST)

In diesem Herbst noch eröffnet das neue estnische ­Nationalmuseum auf dem Areal eines brachliegenden vormaligen Militärflughafens. Der lang gestreckte Neubau erhebt sich als Verlängerung einer ungenutzten Landebahn aus dem Gelände und mündet in einer spektakulären Eingangsfassade, die als Geste für den zuversichtlichen Blick in die Zukunft des Landes mit seiner bewegten Geschichte gelesen werden kann.

1. September 2016 - Visvaldis Sarma
Das Landgut von Raadi – oder besser der Ort, an dem das Landgut einst zu finden war, in unmittelbarer Nähe der traditionsreichen estnischen Universitätsstadt Tartu gelegen – war bis heute immer wieder Schauplatz grundlegender Ereignisse der Landesgeschichte: Vormals lediglich als Weideland genutzt, wurde das Gebiet von einer baltisch-deutschen Adelsfamilie zu einem Landgut ausgebaut, der in den 20er Jahren noch junge estnische Staat wandelte es in ein Museum um, es wurde besetzt (sowjetisch), erneut besetzt (deutsch) und abermals besetzt (wieder sowjetisch), dann mit Bomben dem Erdboden gleichgemacht, von der sowjetischen Armee als Flugplatz für Atom-Flugzeuge genutzt, 1991 mit der Unabhängigkeit vom Estnischen Staat zurückgewonnen und einfach vergessen, dann wiederentdeckt und jetzt schließlich ins Zentrum einer kulturellen und historischen Inszenierung gerückt.

Dieser kleine geschichtliche Abriss zum Standort des neuen Nationalmuseums umschreibt einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren und verdiente schon für sich genommen einen Ort, an dem die Hintergründe dazu ausführlich erzählt werden könnten.

Museum ohne Heimat
Formal existierte das estnische Nationalmuseum von 1909 an, es verfügte jedoch nie über geeignete Räumlichkeiten, um sich über Sammlungen und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Austausch weiterzuentwickeln – während der 20er und 30er Jahre war das Museum unzulänglich im Herrenhaus des genannten Landguts untergebracht, später wurde der Sammlungsbestand in Scheunen und Lagerräumen versteckt, um ihn während der Jahrzehnte der sowjetischen Besatzung gezielt in Vergessenheit geraten zu lassen. Erst 2005, nach jahrelangen Überlegungen, fiel die endgültige Entscheidung für das Landgut Raadi als künftigen dauerhaften Museumsstandort und auch dafür, einen Architekturwettbewerb auszuschreiben.

Der 1. Preis 2006 für das Architekturbüro Dorell Ghotmeh Tane aus Paris war umstritten, denn dessen Entwurf wich von den Vorgaben ab und sah für das Gebäude einen Standort außerhalb des vorgegebenen Baufelds vor. Die Jury schrieb damals: »Die stillgelegte Startbahn auf dem Wettbewerbsgelände – Überrest der Besatzungszeit – kann in ihrem verlassenen und ungenutzten Zustand als spannungsvoller Ort angesehen werden. (…) Damit dieser Ort zu uns ›spricht‹, sieht der Entwurf die Ausdehnung der Leere durch ein neues Gebäude vor, das als lange, offene Halle ausgebildet ist, eine Verlängerung der Achse der Startbahn. Das leicht ansteigende Dach – eine Metapher für das Abheben in den Himmel, und darauf, seinem Schicksal entgegenzufliegen – formt einen überdachten Vorplatz mit Blick auf die Landschaft aus.«

Betrachtet man den Lageplan und andere Zeichnungen heute mit zeitlichem Abstand und mit weiteren Hintergrundinformationen, wirkt die Lösung sehr naheliegend. Mehr noch: Es wäre ziemlich fragwürdig, wenn das Gebäude nicht als natürliche Verlängerung der ehemaligen Startbahn formuliert ­worden wäre.

Doppelfassade und Ruine

Wenn man sich dem Gelände vom Stadtzentrum von Tartu aus nähert, wirkt die Platzierung des Gebäudes zunächst, nicht sehr vielversprechend, da man den historischen Kontext – das Herrenhaus und die Startbahn liegen etwas weiter oben am Hang – von hier nicht wahrnehmen kann. Der langgestreckte Neubau ist als Tragwerksbalken ausgebildet, der als Brücke auch über einen kleinen Teich neben der Gutshausruine im Gelände spannt. Unübersehbares zentrales Element des neuen Museums ist jedoch seine Haupteingangsseite in Form eines riesigen asymmetrischen Trichters, der die Zugangstüren spektakulär fasst. Die Fassade besteht ringsum aus einer »trendigen«, doppelt verglasten Haut mit winziger Bedruckung, die als Sonnenschutz dient.

Abgesehen von der Gebäudeausdehnung und der Eingangsgeometrie zeigt sich die Gestaltungssprache zurückhaltend, geschmackvoll, nordisch.

Eingesogen vom Eingangstrichter überrascht dann das Innere mit seiner Vielfalt an Eindrücken – wie schon die Architekten am Ende ihrer Projektbeschreibung konstatieren: »Das Innere des Gebäudes ist in ständigem visuellen Dialog mit der Landschaft …«. Wie so oft könnte man das als Phrase abtun, denn man kann im Grunde jede Öffnung in der Wand »visuellen Dialog« nennen. Hier jedoch darf der Besucher erfahren, dass diese Beschreibung der Realität entspricht: Von Anfang an, beginnend im 14 m hohen Eingangsfoyer, kann man die äußere Umgebung draußen durch die großzügigen Verglasungen – im Allgemeinen eher untypisch für ein Museum – überblicken. Die Innen- und Außenräume mit ihren historischen Zeugnissen lassen sich so zugleich erleben. Das offene Stahltragwerk, die schlichten, hochwertigen Betonwände und Bodenbeläge sowie die Glaselemente bilden im Innern einen beruhigenden Hintergrund. Er mildert die von draußen wirksame Szenerie und bestärkt den Besucher darin, sich im Innern eines Museums zu befinden. Der Ausstellungsrundgang selbst beginnt mit der Gegenwart Estlands, erwartungsgemäß im hohen Teil des Gebäudes, und führt durch miteinander verwobene Themenbereiche zurück in die Geschichte des Landes.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Aufgrund des leicht abfallenden Geländes und der brückenartigen Bauweise des Museums über einen kleinen Teich nimmt man es als eingeschossig wahr, obwohl sich im UG riesige Lager für die Sammlung befinden. Das EG umfasst die Hauptausstellung, weitere öffentlich zugängliche Räume sowie die Verwaltung entlang der Südfassade, während das Mezzanin im hohen Museums­teil für Konferenzen und Vorträge zur Verfügung steht.

Beim Gang durch die hintereinandergestaffelten barrierefrei gestalteten Ausstellungssäle stellt sich das Gefühl ein, sich auf einer 340 m langen Rampe stetig aufwärts zu bewegen. Das rührt auch daher, dass der ansteigende Park des Gutshofs zwischendurch immer wieder zu sehen ist.

Dieses Gefühl täuscht jedoch. Es wird vielmehr durch die sich kontinuierlich absenkende Deckenuntersicht ausgelöst. Am Ende beträgt die Raumhöhe gerade noch 3 m! Hier an der niederen Stirnseite schließlich eröffnet die unbedruckte Verglasung einen großartigen Blick auf die Startbahn, die wie endlos daliegt. In Anbetracht dieses Bilds erscheint es völlig unerheblich, wie groß das Museum ist oder wie viele Ausstellungsstücke es fasst. Im Vergleich mit der umgebenden Landschaft und ihrer Geschichte ist es nur ein winziges Element. Und genau hier erschließt sich die Idee der Architekten in ihrer vollen Komplexität und man nimmt die Kraft ihres durchdachten Entwurfskonzepts wahr. Es zwingt einen förmlich, sich umzudrehen und zurückzublicken, um sich zu vergewissern, ob man ­seiner Wahrnehmung trauen soll. Auf erstaun­liche Weise vermittelt besonders dieser Schlusspunkt des Gebäudes dem ­Besucher das Empfinden, Teil der im Museum dokumentierten Geschichte zu sein und verleiht damit dem Erlebten zusätzlichen Wert. Dieses komplexe räumliche Konzept in den schlichten Entwurfszeichnungen des Wettbewerbs bereits erahnt und vielleicht sogar als Bild vor Augen gehabt zu haben, dafür gebührt der Professionalität der Jury besondere Bewunderung.

Zwar besitzt das Museum an beiden Stirnseiten Zugänge, doch entfaltet sich die Wechselwirkung zwischen Gebäude und Ausstellungsinhalt emotional vollständig nur in Richtung auf die Startbahn zu. Den Bereich mit der vollen Höhe am trichterförmig eingeschnittenen Haupteingang belegt der Ausstellungsteil, der sich mit der estnischen Identität im 21. Jahrhundert befasst. Er eröffnet den weiten Blick auf die moderne Stadt Tartu, deren Bewohner so stolz darauf sind, dass das wichtigste Museum des Landes seinen Platz hier bei ihnen gefunden hat.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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