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TEC21 2018|21
Harmel-Gebäude, Arbon
TEC21 2018|21
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Industrielle Pracht

Das Hamel-Gebäude wurde 1907 als Stickereifabrik erbaut. Pfister Schiess Tropeano & Partner haben das Industrie­denkmal mit viel Feingefühl transformiert. Heute dient es als Wohn- und Geschäftshaus, als Verkehrsknotenpunkt – und als edle backsteinerne Visitenkarte für ein neues Quartier auf dem Saurer-Areal in Arbon.

25. Mai 2018 - Judit Solt
Es war das letzte Gebäude, das der Stickereibaron Arnold Baruch Heine 1907 auf seinem Fabrikationsgelände in Arbon errichtete – ein feingliedriger Beton­skelettbau, eingespannt in massive Backsteinfassaden mit grossen, in leichtem Grauton gestrichenen Fenstern. Die oberirdische Tragkonstruktion aus Stahlbeton war ebenso innovativ wie die unterirdische Fundation: Um das riesige Volumen im feuchten Untergrund am Bodenseeufer zu stabilisieren, war das Untergeschoss als dichte Waben­struktur aus Stampfbeton ausgebildet; bei Hochwasser wurden die Kammern geflutet, und sie leerten sich, wenn sich das Wasser wieder zurückzog.

Das Gebäude war in jedem Sinn des Wortes das Flaggschiff für ein boomendes Unternehmen, von dem fünf Jahre später nicht mehr übrig blieb als Millionenschulden, unverkaufte Lagerbestände und ein Gebäudepark, den sich die Gläubiger zähneknirschend aufteilten.

Das Gebiet als Ganzes wurde als Saurer-Areal bekannt. Nach dem Ende der industriellen Nutzung und weiteren Handwechseln wird das Gelände nun als multifunktionaler Stadtteil neu entwickelt. Doch der letzte Bau der Stickerei-Hochblüte, nach einem vormaligen Besitzer heute als Hamel-Gebäude bekannt, fungiert weiterhin als repräsentativer Auftakt.

Direkt am Bahnhof Arbon gelegen und durch eine neue Unterführung an diesen angeschlossen, bildet es das Tor zum Stadtteil, das nach dem Untergang vieler bestehender Bauten gegenwärtig aus dem sumpfigen Boden gestampft wird. Als einer der wenigen erhaltenen Zeitzeugen soll das Hamel-Gebäude dazu beitragen, die Identität des Neubaugebiets mit der Pracht aus der industriellen Blütezeit zu veredeln – ähnlich, wie dies heute an vielen ehemals industriellen Standorten geschieht, etwa auf dem Sulzer-Areal in Winterthur.

Historischer Auftakt für Neubaugebiet

Zwei unter Denkmalschutz stehende Bauten spannen das Saurer-Areal von Nord nach Süd auf: das Hamel- und das Arbomec-Gebäude (Erläuterungen zum Arbomec-Gebäude vgl. Kasten unten); die Webmaschinenhalle und das Presswerk stehen ebenfalls unter Schutz. HRS Real Estate, die das Gebiet als Totalunternehmerin entwickelt, beauftragte Pfister Schiess Tropeano & Partner Architekten aus Zürich, den Umbau der beiden sensiblen Bauten zu projektieren. Beim Hamel-Gebäude haben die Architekten auch die Ausführung geplant, beim Arbomec-Gebäude haben sie diese als Vermittler zur Denkmalpflege begleitet.

Trotz Nutzungswechseln und Umbauten in den 1970er-Jahren war die vormalige Pracht des Hamel-Gebäudes weitgehend erhalten. Die Westfassade war wegen eines Anbaus zwar nicht mehr sichtbar, aber vorhanden: Man hatte das neue Volumen an den Bestand angedockt und die Backsteinfassaden verputzt. Die ursprünglichen feingliedrigen Holzfenster waren zum Teil noch da. Aufgrund der grosszügigen Raumhöhen und Fensterformate – für die Stickereiproduktion war gute Belichtung nötig – liessen die Räume unterschiedliche Nutzungen zu; der Skelettbau ermöglichte eine flexible Grundrissdisposition. Entsprechend vielfältig wird der Bau heute bespielt.

Zusammen mit den Bauherren, den Haustechnikern und der Denkmalpflege haben die Architekten die Planungsziele erörtert und Lösungen entwickelt. Sie entfernten die nachträglichen Anbauten und führten den Bau auf das Volumen von 1907 zurück – dies erwies sich als ökonomisch vertretbar, weil die zu Planungsbeginn noch gültige Brandschutzverordnung sonst ein zusätzliches Treppenhaus verlangt hätte.

Ein Teil des Erdgeschosses ist als offene Halle ausgestaltet, in der Aussenklima herrscht und die man von zwei Seiten über Arkaden betritt; auch die Bahnhofsunterführung mündet hier. Diese Ebene dient als Einkaufspassage mit Post, Coop-Filiale, Coiffeursalon, Optik- und Hörgeräte-Fachgeschäft, Chocolaterie, Fotostudio, Fitness- und Gesundheitszentrum und Klinik. Dennoch hat sie einen öffentlicheren Charakter als vergleichbare bahnhofsnahe Einrich­tungen, zum einen wegen der allseitigen Offenheit und zum anderen dank der räumlichen Grosszügigkeit, die eine Markthalle evoziert.

Die Materialisierung wirkt wohltuend neutral, die nüchterne Tragkonstruktion wurde freigelegt. Eigens entwickelte Lampen, inspiriert von den Leuchten der ehemaligen Stickereisäle, setzen warme Kontrapunkte. Sie unterstreichen, dass die Halle auch als Empfangsraum fungiert: Über die bereits vorab neu gebaute Unterführung – die einen beträchtlichen Eingriff ins Untergeschoss erfordert hatte – gelangt man vom Bahnhof direkt ins Gebäude und von dort ins neue Quartier. Die Halle ist gut frequentiert; nur in den hinteren Bereichen stehen noch Verkaufs­lokale leer – wenig erstaunlich angesichts der Tatsache, dass die Einkaufspassage einem Stadtteil mit rund 1000 Einwohnern und Hunderten von Arbeitsplätzen dienen soll, der aber erst im Entstehen begriffen ist.

Restauriert, ergänzt, gepflegt, gesichert

Im ganzen Hamel-Gebäude sind die Spuren der Ver­gangenheit spürbar – ebenso wie die grosse Sensibilität, mit der die Architekten diese freigelegt und ins Projekt integriert haben. Wo möglich, wurden die ursprünglichen Fenster erhalten. Knapp ein Dutzend der 130 Fens­ter konnten restauriert werden, die anderen wurden nachgebildet. Sämtliche Fenster sind mit einer Zweifachverglasung versehen. Eine Dreifachverglasung lehnte der Investor ab, weil die Denkmalpflege die finan­zielle Unterstützung verweigert hätte.

Die Backsteinfassaden waren meist in gutem Zustand. Nur auf den Westseiten des Kopfbaus und des zweigeschossigen Längsbaus, wo die Anbauten aus den 1970er-Jahren entfernt wurden, hatten die Oberflächen gelitten: Die Backsteine und der nachträglich angebrachte Putz hatten einen Verbund gebildet, sodass die Steine beim Entfernen des Putzes Schaden nahmen; sie wurden hydrophobiert und wo erforderlich ersetzt. Das Gebäude erhielt eine Innendämmung. Um die historische Bausubstanz nicht weiter zu tangieren, haben die Architekten die Technikzentrale auf dem Dach des Längsbaus platziert.

In den drei Obergeschossen des Kopfbaus sind 16 loftartige Mietwohnungen eingebaut, wobei die Eingriffe in die Substanz – bis auf den Einbau von Steigzonen – möglichst gering gehalten wurde. Auch hier blieb die Tragkonstruktion sichtbar und mit industriell anmutenden, aber sorgfältig behandelten Materialien für den Innenausbau kombiniert. Als Sonnenschutz dienen leinenfarbige Stoffmarkisen, wie man sie aus alten Schulhäusern kennt. Die Wohnungen haben keine Balkone; das Dach wurde zu einer kollektiv genutzten Terrasse mit Seesicht transformiert. Die ursprüngliche Dachkrone aus Sichtbeton mit Backsteineinsätzen wurde nach historischen Profilplänen neu gebaut – erstaunlicherweise nicht vorfabriziert, sondern vor Ort geschalt und gegossen.

«Bei diesem Projekt gab es vier grosse Herausforderungen», berichtet Hauke Möller, zusammen mit Rita Schiess Projektverantwortlicher seitens der Architekten. «Erstens galt es, die Leistungsfähigkeit des Tragwerks zu ermitteln und zu sichern; zweitens zog die bereits gebaute SBB-Unterführung, die wie ein Torpedo die heiklen Fundationen des vierstöckigen Hamel-Kopfbaus bedrängte, einige räumliche, technische und finan­zielle Folgen nach sich; drittens wollten wir die Ganzheit des Gebäudes trotz flexibler Nutzung be­wahren; und viertens sollten attraktive Wohnungen entstehen.»

Dies ist gelungen. Heute, fast zwei Jahre nach Fertigstellung, fallen die hochwertigen Details und Materialien des Hamel-Gebäudes wohltuend auf – nicht nur in der zurzeit in Transformation befindlichen, von Staub und Baustellenlärm gesättigten Umgebung, sondern auch im Vergleich mit ersten Neubauten.

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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