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TEC21 2018|21
Harmel-Gebäude, Arbon
TEC21 2018|21
zur Zeitschrift: TEC21
Verlag: Verlags-AG

Im Strudel der Geschichte

25. Mai 2018 - Judit Solt
Die Entstehung des Hamel-Gebäudes fällt in eine bewegte, von dramatischen Umbrüchen erschütterte Zeit. Der Bauherr war der deutsche Stickereibaron Arnold Baruch Heine. Auf Vermittlung von Adolph Saurer, der sich als Bevollmächtigter in der Bürgergemeinde für den Verkauf eingesetzt hatte, erwarb Heine 23 000 m² Riedland südlich der St. Gallerstrasse in Arbon. Ab 1898 errichtete er in atemberaubendem Tempo die weltweit zweitgrösste Stickerei­fabrik (Feldmühle Rorschach war die grösste): Noch im selben Jahr ratterten in den neuen Werkhallen die ersten hundert Saurer-Stickmaschinen.

Kurzlebiges Imperium

Weitere Bauten folgten, darunter auch das Hamel-Gebäude, das 1907 als letzte Etappe nach einem Entwurf des St. Galler Architekten Wendelin Heene fertiggestellt wurde. Bald beschäftigte Heine 2200 Mitarbeiter und ebenso viele Heimarbeiter. Doch auf den rasanten Aufstieg folgte jäh der Fall. Das Geschäfts­jahr 1909/10 wies einen Verlust von 3 Millionen Franken aus; es gab unverkaufte Lagerbestände in Millionenhöhe. Der Schweizerische Bankverein als Hauptgläubiger des Unternehmens entzog Heine das Prä­si­dium des Verwaltungsrats und die Geschäftsleitung. Eine Aktionärsgruppe regte eine Strafklage an, und Heines Privatvermögen wurde blockiert.

Bankpräsident und Direktor auf der «Titanic»

Heine reagierte prompt. Er setzte sich Anfang April 1912 aus Arbon ab und schiffte sich in Southampton auf dem Dampfer «Carpathia» nach New York ein. Zwei hochrangige Gläubigervertreter – Alfons Simonius, Präsident des Bankvereins, und Max Staehelin, Direktor der Schweizerischen Treuhandgesellschaft – nahmen die Verfolgung auf. Da es ihnen nicht gelang, den Flüch­tigen rechtzeigig einzuholen, bestiegen sie den nächsten Dampfer: die «Titanic», die am 10. April in Southampton zur Jungfernfahrt nach New York auslief.

Die «Titanic» kam bekanntlich nie in New York an, doch die beiden Verfolger hatten Glück. Sie überlebten den Un­tergang und wurden gerettet. Zuflucht ­fanden sie ausgerechnet auf der «Car­pathia», die als erster Dampfer am Unglücksort eintraf. Was sich auf hoher See zwischen den drei Herren ereignete, ist nicht bekannt. Die spätere Prüfung der Geschäftsbücher des Unternehmens ergab indes keine belastenden Ergebnisse, die eine Strafverfolgung gerechtfertigt hätten, und auch Heines Privatkonten wurden freigegeben.

Umbauten, Handwechsel, Zwischennutzungen

Später ging das Gebäude in den Besitz von Herrmann und Edmund Hamel aus Chemnitz über. Diese gründeten 1923 die Carl Hamel AG Arbon und nutzten das Hamel-Gebäude, wie es nun genannt wurde, als Fabrik- und Verwaltungs­gebäude. In den 1970er-Jahren folgten unterschiedliche Um- und Anbauten. 1988 erwarb der Saurer-Konzern die Liegenschaft. Die Stadt Arbon kaufte sie 2009 und verkaufte sie 2013 an die HRS Real Estate weiter, die sie als Total­unternehmerin entwickelte. Die St. Galler Pensionskasse erwarb das Hamel-Gebäude 2015 von der HRS samt dem Projekt für eine Nutzung als Einkaufs-, Wohn- und Verkehrsstandort.


[Die Details zu Heines Abenteuern basieren auf folgendem Artikel:
«Verfolgungsjagd auf der Titanic», in: St. Galler Tagblatt, 7. April 2012.]

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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