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db deutsche Bauzeitung 2018|07-08
Auf dem Land
db deutsche Bauzeitung 2018|07-08

Transitraum, Sorgenkind, Kulturschatz

Wiederbelebung des Dorfs Riom (CH)

Das Bergdorf in Graubünden schien dem Untergang geweiht. Doch der Intendant Giovanni Netzer hat es mit dem Kulturfestival Origen wachgeküsst und zeigt, wie sich inszenierte Lokalgeschichte, revitalisierte Baudenkmäler, globale Mythen und künstlerische Innovation zu einer kraftvollen Erzählung verweben lassen, die neue Besucherströme anlockt. Der sorgsam gestalteten und inszenierenden Architektur kommt in diesem Konzept eine Hauptrolle zu.

2. Juli 2018 - Jørg Himmelreich
Die Geschichte der Dörfer im Graubündner Oberhalbsteintal ist geprägt von Wechseln; über die Jahrhunderte hinweg folgten auf mehrere Perioden der Armut und Abwanderung auch Zeiten des Wachstums und des Wohlstands.

Seit Jahrtausenden nutzen Menschen das Tal und den Julierpass als Passage durch die Alpen. Die Römer bauten eine Straße und in Riom eine Herberge. Später errichteten die Karolinger dort einen Königshof. Im Mittelalter wurde es ruhiger, der transalpine Handel suchte sich andere Wege. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen dann zahlreiche Urlauber in Postkutschen mit dem Engadin als Ziel. Gäste blieben zunächst nur im Sommer, ab 1864 auch im Winter. Als 1903 die Eisenbahnstrecke durch das benachbarte Albulatal eröffnete, brach der Durchreiseverkehr drastisch ein, um mit der massenhaften Automobilisierung in den 50er Jahren erneut signifikant anzuschwellen. Die Orte Bivio und Savognin verstanden es, mit Skianlagen einen Teil der Engadiner Wintergäste abzugreifen. Doch mehrere schneearme Winter, ein schwacher Euro und ein starker Franken, sowie ein generell abnehmendes Interesse am Wintersport, machen ihnen nun erneut zu schaffen. Die örtliche Gastronomie wirkt zwar liebenswert aber zugleich uninspiriert und altmodisch.

Die unausweichliche alpine Brache?

Die Landwirtschaft wird auch in den Bergen immer effizienter und bietet kaum mehr Arbeitsplätze. In der Gemeinde Riom-Parsonz reicht ein einziger Landwirt, um die weitläufigen Weiden und Wiesen zu bewirtschaften. Nach Jahren der Abwanderung leben offiziell noch 300 Einwohner im Dorf. Häuser, Scheunen und Schulen stehen leer.
Das für den Schweizer Raumdiskurs wichtig gewordene Buch »Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait« (ETH-Studio Basel 2006) teilt die Bergregionen in »Resorts« (Gebiete mit hohem Tourismus-Potenzial) und »alpine Brachen« ein. Als es erschien, war noch unklar, zu welcher Seite das Pendel in Riom ausschlagen würde, zuletzt ging die Tendenz indes deutlich in Richtung »alpine Brache«. Der Begriff selbst hat einige politische Sprengkraft entwickelt, führt er doch die Unaufhaltsamkeit der Schrumpfung vor Augen. Gegen die Schweizer Gewohnheit, alle Regionen des Landes wirtschaftlich zu ent­wickeln, empfahl das Studio Basel, mittelfristig große Teile der alpinen Siedlungszonen aufzugeben, statt unnötig in Infrastrukturen für immer weniger Bewohner zu investieren.

Strukturwandler

Der 1967 in Savognin, auf der gegenüberliegenden Flussseite geborene Kulturmanager Giovanni Netzer wollte sich damit nicht abfinden. 2005 gründete er in Riom das Origen Kulturfestival, das seitdem jährlich im Sommer stattfindet. Und längst hat er es geschafft, das Dorf auf der Landkarte der Festivalorte prominent zu verankern. Netzer ist Kopf und Seele von Origen. Er findet die passenden Künstler, führt Regie, organisiert die Finanzierung, entwirft bei der Architektur mit oder gestaltet sie gleich komplett selbst. Er wird dabei nicht müde zu betonen, dass es ihm nicht nur um Kultur geht, sondern um ­eine neue wirtschaftliche Perspektive für die ganze Region. Netzer, der Philosophie, Theologie, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte studiert hat, schreibt mitunter selber Libretti für Theaterstücke und Opern und führt ­Regie. Besonders gerne verhandelt er in den Festival-Stücken biblische Sagen, aber auch Historisches aus der Region. Bei der Zusammenstellung der Programme geht er thematisch, nicht spartenbezogen vor. In diesem Jahr beispielsweise kreisen alle Stücke um Russland.

Räume nutzen

Der erste Streich zur Etablierung des Festivals war 2006 die Instandsetzung der prägnanten Burg von Riom und der Einbau eines Theaters mit 220 Sitzplätzen. Ausgeführt hat ihn der Churer Architekt Marcel Liesch. Alle Bauten wurden reversibel ausgeführt und beeinträchtigen die historische Substanz kaum. Gezeigt werden hier v. a. modernes Musiktheater und Stücke in romanischer Sprache. Der mächtige, annähernd fensterlose Quader aus Bruchstein wirkt mit seinem zeltbedachten Turm wie eine Wehrkirche.

Gerne hätte Netzer das Burg-Theater weiter ausbauen lassen, um eine auch im Winter nutzbare Spielstätte zu schaffen. 2010 legte Peter Zumthor dazu den Plan vor, das Satteldach des Palas durch eine Stahl- und Glaskonstruktion mit zwei ausklappbaren Flügeln zu ersetzen. Zudem wollte er den gesamten Innenraum im Sinne einer »salle modulable« als Serie hydraulisch frei höhenverstellbarer Segmente gestalten, um für jede Vorstellung unkompliziert neue Topografien und Raumdramaturgien zu ermöglichen. Wegen der in den Mauern nistenden Turmdohlen wurde der Entwurf jedoch auf Eis gelegt.

Kulturscheune und alternative Geschichte

2015 wurde als zweite auch im Winter nutzbare Spielstätte die voluminöse Scheune Sontga Crousch in Betrieb genommen. Beim Umbau zur sogenannten Clavadeira waren gasser, derungs Innenarchitekten aus Zürich und Chur federführend (s. db 9/2016, S. 104-107). Die Öffnungen wurden dezent mit Glas verschlossen und das Dach gedämmt. Außer dem Theatersaal gibt es im OG einen weiteren Raum für Lesungen, Kammerkonzerte und Tagungen.

Auch die im räumlichen Zusammenhang mit der Scheune stehende Villa wurde einbezogen. Das ehemalige Wohnhaus der Zuckerbäcker-Familie ­Carisch wurde auf zwei Etagen als »Foyer« eingerichtet. In vielen Räumen wurde die farbige Fassung der Vertäfelungen entfernt, das Holz wieder sichtbar gemacht und von Künstlern mit kräftig bunten, figural gemusterten ­Tapeten kontrastiert.

In der Villa wird derzeit in einer einfachen, doch überzeugenden Ausstellung eine »alternative Geschichte« gezeigt. Sie fragt: Was, wenn der aus Riom stammende und in Paris als Konditor reich gewordene Charles Laurent, zugleich reicher und letzter Erbe der Riomer Carisch-Dynastie, in seinem Heimatdorf ein pompöses Grand Hotel errichtet hätte? Oder wenn er die nüchterne Burg zu einem Bündner Neuschwanstein hätte umgestalten lassen? Der humorvolle Beitrag zeigt auf, welche wichtige Rolle der Architektur beim »Placemaking« zukommt und führt vor Augen, wie entscheidend ihr expliziter Ausdruck und ihre Strahlkraft sind, um Touristen für eine Destination zu begeistern.

Die Landschaft als Darsteller

Doch Giovanni Netzer bespielt mit dem Festival nicht nur die leerstehenden Bauten des Dorfs, sondern auch dessen Plätze und auch die Landschaftsräume der Region ringsherum. Indem er temporäre Spielstätten an spektakulären Orten errichtet, wird die Landschaft zum wichtigen Co-Akteur, der die Geschichten und archetypischen Stoffe überzeugend in Szene setzt. 2010 wurde auf dem Julierpass »La Regina da Saba« aufgeführt, drei Jahre später dann »Noah« in einem temporären Gebäude auf der Staumauer des Marmorera-Sees inszeniert. 2014 diente der vereiste Silsersee im Oberengadin als Prospekt für »Carolus Magnus«.

Mit einem roten Holzturm auf dem Julierpass entstand im vergangenen ­Sommer nun die bisher aufwendigste Spielstätte außerhalb des Dorfs. Anders als die temporären Bauten aus Baugerüsten und Planen, die Masse lediglich vortäuschten, soll der stabile Holzbau mehrere Jahre mit Tanz, Theater, Konzerten und Opern bespielt werden und – mit einer Gasheizung ausgestattet – auch im Winter, bevor er 2022 rückgebaut wird, ohne dass Spuren in der Landschaft zurückbleiben. Das Bauwerk ist inspiriert von Referenzen aus der Architektur- und Kunstgeschichte: Es steckt ein wenig Turm zu Babel darin, wie ihn die Malerei als Vervielfältigung des Kolosseums imaginiert hat, dazu das Castel del Monte mit seinen acht im Kreis angeordneten Türmen. Wie in Theatern der Shakespeare-Zeit gibt es ringsherum Zuschauerränge mit Blick auf eine in der Höhe frei positionierbare Plattform – wiederum eine Referenz an das Totaltheater von Gropius und Piscator.

Dorfwandel

Die Besucherzahlen des Festivals steigen stetig: 2017 haben mehr als 27.000 Personen die Veranstaltungen besucht. Und bereits rund 1 000 Künstler aus über 40 Nationen haben an den Produktionen mitgewirkt. Damit sind zahlreiche neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Origen unterhält 22 Vollzeit­stellen und betreibt ein Restaurant im Ort. Neun Festival-Mitarbeiter wohnen ganzjährig in dem Bergdorf. Während der Spielzeiten kommen 40 Künstler und Praktikanten dazu, die bis zu einem halben Jahr dort leben. Die Kulturstiftung trägt damit zum Bestehen des Dorfladens bei und erteilt, wenn möglich, Aufträge an regionale Firmen. Seit seiner Gründung bis zum Dezember 2017 hat Origen 8,8 Mio. CHF in die Infrastruktur und 17,5 Mio. in die Produktionen investiert – dies dank der Förderung durch andere Stiftungen, Sponsoren, Privatleute und die öffentliche Hand.

Neue Bausteine

Und Tausendsassa Netzer hat unter dem Projekttitel »Malancuneia« in diesem Jahr bereits neue Ideen für leere Bauten in Riom umgesetzt; weitere sind in der Pipeline: Die ehemalige Schule am Dorfplatz, die früher auch als Gemeindekanzlei diente, wurde zum Baubüro umgebaut. Die gezeigten Pappmodelle geben Anlass, mögliche neue Projekte zu diskutieren und potenzielle Sponsoren zu umgarnen. Auch die Kostümschneiderei fand hier eine neue Wirkstätte. Im ehemaligen Lehrerzimmer sind die opulenten von Jakon Schlaepfer für die Origen-Stücke geschaffenen Kostüme zu be­staunen. Andere Zimmer dienen der Produktion von Kissen und Bettdecken, welche Martin Leuthold für Origen entworfen hat. Ein frischer Putz und eine grell-rote, russisch anmutende Barocktapete kommunizieren die neue Nutzung plakativ nach außen. Ein repräsentatives Patrizierhaus direkt daneben wurde zur temporären Unterkunft »Hotel Frisch« inklusive Vinothek im Keller umgebaut. Im Sommer können sich Gäste in den ehemaligen Wohn­stuben einquartieren.

Rechtzeitig zur offiziellen Verleihung des Wakkerpreises wurden die neuen Projekte am Dorfplatz fertiggestellt. Der Preis zeichnet seit 1972 Schweizer Gemeinden aus, die sich um eine qualitätvolle Entwicklung ihres Orts verdient machen. 2018 vergab der Heimatschutz den Preis an das Origen Festival Cultural und ehrt damit erstmals eine Kulturstiftung für die sanfte und krea­tive Weiternutzung von historischem Baubestand. Der Heimatschutz lobte, wie Origen die alpine Randregion neu belebt und deren großes Potenzial ­intelligent nutzt.

Ein schwer adaptierbares Lehrstück

Andere sich entleerende Bergdörfer in der Schweiz und anderswo könnten grundsätzlich vom Beispiel Origen lernen und das Konzept adaptieren. Denn Musik, Theater und Architektur entfalten – sofern sie von hoher Qualität sind – überall eine Anziehungskraft. So zu beobachten auch in Blaibach (Oberpfalz). Doch wichtiger als gute Zutaten, ist der Koch, der sie raffiniert kombiniert. Die NZZ nannte Giovanni Netzer wegen seiner Vorliebe für christliche Mythologie leicht despektierlich »Theaterpfarrer«, aber traf doch den Kern: Damit eine Initiative wie das Origen Festival ein Erfolg wird, müssen sehr ­unterschiedliche Menschen hinter einer gemeinsamen Idee vereint werden. Dafür sind charmante, kreative und tüchtige Macher nötig. Dörfer, die zur Kulisse für vergleichbare Ideen taugen, gibt es hunderte. Allround-Talente wie Giovanni Netzer sind aber selten. Insofern wird das Origen Festival als Strategie zur Dorferneuerung in der Schweiz vorläufig wohl ein glücklicher Einzelfall bleiben.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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